«Damit haben wir das Ende der Steueroasen besiegelt»
Pascal Saint-Amans gilt als Architekt der globalen Mindeststeuer. Er sagt, dass sie Volksaufstände verhindert. Und: Es wäre nicht schlimm, wenn die Schweiz diese Steuer im Juni ablehnte.
Ein Interview von Priscilla Imboden, 04.05.2023
Ein bisschen verspätet erscheint Pascal Saint-Amans im Bahnhofbuffet von Lausanne, er entschuldigt sich sofort und meint: «Ich weiss: Das ist nicht sehr schweizerisch!» Der Franzose hat sich immer wieder intensiv mit der Schweiz auseinandergesetzt. Der langjährige Steuerchef der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) war eine treibende Kraft dabei, das Bankgeheimnis abzuschaffen und die Steuerflucht der internationalen Konzerne zu bremsen. Er gilt als Architekt der globalen Mindeststeuer, über deren Umsetzung in der Schweiz am 18. Juni abgestimmt wird. Seit diesem Jahr lehrt Pascal Saint-Amans an der Universität Lausanne.
Herr Saint-Amans, Sie arbeiten im Kanton Waadt, der führend ist bei Steuergeschenken für Unternehmen, bei der Pauschalbesteuerung reicher Ausländer. Stört Sie das nicht?
Nein, denn nach fünfzehn Jahren internationaler Steuerregulierung, in denen das Bankgeheimnis begraben und die Regeln für multinationale Unternehmen geändert wurden, wendet die Schweiz die globalen Standards nun an.
Aber reiche Ausländerinnen entziehen sich mit der Pauschalbesteuerung in der Schweiz der normalen Besteuerung in ihrem Herkunftsland.
Das stimmt. Es gibt einen Bereich, den die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die OECD, noch nicht behandelt hat, nämlich die Besteuerung natürlicher Personen. Ich denke da an die Pauschalbesteuerung, an die «Nicht-Domizil»-Regelung im Vereinigten Königreich oder an ähnliche Regelungen, die man in vielen anderen Ländern findet. Das ist eine Baustelle, die die internationale Gemeinschaft angehen sollte.
Sie gelten als Totengräber des Schweizer Bankgeheimnisses und wurden als «Chefmoralist» bezeichnet sowie als «Jäger von Ländern mit einer vernünftigen Besteuerung und Steuerwettbewerb». Was sagen Sie dazu?
Ich sage, dass ich meine Arbeit gemacht habe, eine Arbeit, die nötig war. Wir hatten eine Globalisierung der Wirtschaft ohne Steuerregulierung. Das hat zu Störungen geführt, die nicht tragbar waren, weder für die Schweiz noch für den Rest der Welt. Es gab eine Explosion der Ungleichheit, was populistische Strömungen begünstigt. Diese Strömungen nähren sich aus den Ungerechtigkeiten, die die Globalisierung herbeigeführt hat.
Das Bankgeheimnis soll zum Populismus beigetragen haben?
Natürlich, denn es hilft den Reichen und schafft Ungerechtigkeiten. Das merken die Leute. Das Bankgeheimnis war eine Anomalie. Man kann als Land nicht seine Souveränität verteidigen, wie die Schweiz, und gleichzeitig die Souveränität anderer Länder untergraben.
Das ging lange gut für die Schweiz. Was geschah dann?
Die globale Finanzkrise im Jahr 2008 hat die Situation verändert: Die Länder brauchten Einnahmen und wollten nicht länger akzeptieren, dass diese Einnahmen in Steueroasen mit Bankgeheimnissen verschoben werden. Sie hatten zwei Möglichkeiten. Die erste war, dass die Länder Vergeltungsmassnahmen gegen die Schweiz ergriffen. Die zweite war eine multilaterale Lösung. Und darauf einigte man sich, und, so glaube ich, zum Wohl der Schweiz und der anderen Länder.
Sie haben ein Buch über das Ende des Bankgeheimnisses geschrieben. Welchen Platz nimmt die Schweiz in diesem Buch ein?
Die Schweiz nimmt natürlich einen wichtigen Platz ein. Der Titel des Buchs lautet «Paradis fiscaux – Comment on a changé le cours de l’histoire» («Steuerparadiese – Wie wir den Lauf der Geschichte verändert haben»). Das Buch erzählt diesen Vorgang. Die Schweiz spielt dabei eine wichtige Rolle, denn als ich bei der OECD anfing und die Bahamas, die Cayman-Inseln und Jersey besuchte, sagten mir alle: Wir werden unsere Praxis erst dann ändern, wenn die Schweiz sie ändert.
Die Schweiz hat nicht freiwillig auf das Bankgeheimnis verzichtet. Gab es während dieses Verfahrens Momente, in denen Sie Konflikte mit der Schweiz hatten?
Ja, natürlich. Es war sehr schwierig.
Was ist passiert?
Als der damalige Finanzminister, Bundesrat Hans-Rudolf Merz, unter internationalen Druck geriet, das Bankgeheimnis zu beenden, sagte er: «Das dauert zehn Jahre.» In Wirklichkeit dauerte es viel weniger lang.
Hätte die Schweiz das Bankgeheimnis ohne den Druck der USA so schnell aufgegeben?
Nein, die Schweiz hätte ihr Bankgeheimnis allein auf Druck der europäischen Länder nicht aufgegeben.
Die USA liefern anderen Ländern aber noch immer keine eigenen Bankdaten. Der Austausch der Informationen geht nur in eine Richtung.
Ja, das Problem bleibt bestehen. Die USA zwingen andere Länder dazu, ihnen Bankinformationen über US-Bürger zu liefern. Aber sie schicken ihnen keine Bankinformationen über deren Bürger. Es beruht nicht auf Gegenseitigkeit. Das ist ein grosses Problem.
Seit der weitgehenden Abschaffung des Bankgeheimnisses kümmert sich die OECD um die Steuerflucht von Unternehmen. Zu diesem Zweck hat sie eine weltweite minimale Gewinnsteuer von 15 Prozent beschlossen. Was wird damit erreicht?
Damit haben wir das Ende der Steueroasen besiegelt.
Wirklich?
Es gibt Länder, in denen die Regulierung der wirtschaftlichen Tätigkeiten sehr schwach ist oder kaum durchgesetzt wird, was weiterhin problematisch ist. Aber die Steueroase mit dem Bankgeheimnis, wohin eine Privatperson ihr Geld ohne jede Kontrolle verschieben kann oder wo ein Unternehmen keine Steuern mehr zahlt: Das alles ist vorbei.
In der Schweiz haben 18 Kantone eine Unternehmenssteuer, die tiefer liegt als 15 Prozent. Sie werden die Steuer erhöhen für die betroffenen Grosskonzerne. Darüber stimmen die Schweizer Stimmberechtigten im Juni ab. Fast alle Parteien sind für ein Ja, doch die Sozialdemokraten sagen Nein, obwohl die Mindeststeuer eine klassische linke Forderung ist. Können Sie das nachvollziehen?
Soweit ich das verstehe, sind die Schweizer Sozialdemokraten nicht gegen das Prinzip einer Mindeststeuer. Dieses wurde ja von der Linken schon immer unterstützt. Sie kritisieren eher, dass der Steuersatz zu tief liegt. Die Kritik der Sozialdemokraten betrifft offenbar die Verwendung der zusätzlichen Steuereinnahmen in der Schweiz, die für die Standortattraktivität eingesetzt werden sollen. Das ist eine innenpolitische Diskussion. Und als Franzose werde ich mich hüten, mich in diese Debatte einzumischen.
Wäre es schlimm, wenn die Schweizer Bevölkerung die OECD-Steuer ablehnen würde?
Nein, es wäre nicht schlimm. Aber bei einem Nein entgehen der Schweiz künftig Einnahmen aus Unternehmenssteuern, die an ihrer Stelle andere Länder erheben können.
Worüber abgestimmt wird und wie die OECD gegen Steuerflucht vorgeht
Die globale Mindeststeuer von 15 Prozent wird auf Firmen mit einem Umsatz von mehr als 750 Millionen Euro angewandt. Das sind in der Schweiz laut dem Eidgenössischen Finanzdepartement wenige tausend Konzerne. In der Schweiz besteuern 18 Kantone die Gewinne zu weniger als 15 Prozent. Sie wollen also die Steuer für die betroffenen Grosskonzerne auf 15 Prozent erhöhen. Da der Steuersatz für die anderen Firmen unverändert bleibt, widerspricht das dem Prinzip der Gleichbehandlung. Deshalb braucht es eine Verfassungsänderung, welche diese Ungleichbehandlung zulässt. Darüber befinden die Stimmberechtigten am 18. Juni 2023.
Die OECD-Mindeststeuer ist die zweite Säule der OECD-Initiative namens Beps (Base Erosion and Profit Shifting). Mit dieser Initiative versucht die OECD, die Verschiebung von Gewinnen aus Hochsteuer- in Tiefsteuerländer und das Kleinrechnen des steuerbaren Einkommens zu begrenzen. Durch solche Handlungen entgehen Staaten laut OECD-Schätzung weltweit Steuereinnahmen im Umfang von 100 bis 240 Milliarden Euro.
Die erste Säule befasst sich mit der weltweiten Besteuerung von Konzernen, die von wenigen Standorten aus mit einer globalen Kundschaft hohe Gewinne erzielen, wie etwa digitale Konzerne, Luxuskonzerne und die Pharmaindustrie. Diese Reform ist noch nicht beschlossen.
Wie würde das in der Praxis funktionieren? Nehmen wir zum Beispiel Nestlé, Novartis oder Glencore. Sie würden im Fall eines Neins wie bisher weniger als 15 Prozent ihrer Unternehmensgewinne an den Schweizer Fiskus abliefern. Welches Land bekäme dann die Differenz?
Ein Schweizer Unternehmen, das international tätig ist, erzielt beispielsweise Gewinne in Frankreich, Deutschland und Japan, um es vereinfacht auszudrücken. Wenn es, wie beispielsweise in Zug, faktisch nur 6 Prozent an Gewinnsteuern bezahlt, so können Frankreich, Deutschland und Japan die Differenz zu den 15 Prozent der OECD-Mindeststeuer eintreiben.
Und wie verteilen die Länder diese Einkünfte untereinander?
Das wird noch diskutiert. Aber die Verteilung hängt vom Umsatz des Unternehmens in den verschiedenen Ländern ab.
Die OECD-Unternehmenssteuer wird von der NGO Global Alliance for Tax Justice als Deal für die Reichen kritisiert. Das Netzwerk der Schweizer Hilfswerke, Alliance Sud, sagt, sie belohne die Schweiz. Ihre Kritik: Die Steueroasen profitierten nun noch einmal, nachdem sie ärmere Länder mit ihrer Tiefsteuerstrategie um Steuergeld gebracht hätten.
Das ist meiner Meinung nach eine Kritik, die ziemlich unfair ist und ein mangelndes Verständnis der Dynamik widerspiegelt. Die Unternehmenssteuern sanken kontinuierlich in den letzten Jahrzehnten aufgrund eines ruinösen Steuerwettbewerbes. Es drohte deren vollständige Abschaffung. Das hätte ein echtes Problem der Ungleichheit gebracht: Es wären allein die Bürgerinnen und Bürger der Länder gewesen, die Steuern hätten zahlen müssen, und das hätte in Revolutionen gemündet. Die erste Auswirkung der weltweiten Mindeststeuer besteht also darin, die Existenz der Unternehmenssteuer zu sichern. Die zweite Auswirkung, wenn man die Messlatte bei 15 Prozent ansetzt, besteht darin, zusätzliche Mittel einzunehmen, laut Schätzungen der OECD zwischen 200 und 250 Milliarden Euro pro Jahr.
Wenn alle Steueroasen nun ihre Steuern auf 15 Prozent erhöhen, streichen sie dieses Geld ein statt die Länder, aus denen sie in den letzten Jahrzehnten Steuersubstrat abgezogen haben.
Das ist die kurzfristige Entwicklung. Es gibt auch eine längerfristige Entwicklung. Denn ein Grossteil der Steuergeschenke wird heute in Wirklichkeit von den Entwicklungsländern gewährt, um Investitionen anzuziehen. Die Entwicklungsländer sind kaum in der Lage, mit multinationalen Unternehmen zu verhandeln. Sie werden von den Konzernen unter Druck gesetzt, Steuererleichterungen zu gewähren. Die globale Mindeststeuer setzt dem ein Ende. Sie ermöglicht es den Entwicklungsländern, eine Mindeststeuer zu erheben. Es geht um viel Geld.
Es hätte um viel mehr gehen können. Als die Mindeststeuer ausgehandelt wurde, schlugen die USA, Deutschland und Frankreich 21 Prozent vor. Was ist passiert?
Paradoxerweise war es die Regierung von Donald Trump, die die Reform möglich machte, indem sie 2017 eine US-Steuerreform verabschiedete, die eine globale Mindeststeuer für US-Konzerne einführte. Die Frage für die Regierung von Joe Biden war, wie hoch diese Mindeststeuer sein sollte. Sie strebte 21 Prozent an. Die meisten Länder wollten 12,5 Prozent. Wir haben uns auf einen Kompromiss geeinigt, auf 15 Prozent.
Welche Rolle hat die Schweiz in diesen Verhandlungen gespielt?
Die 15 Prozent waren extrem schwer durchzusetzen, aber mehr wegen Irland als wegen der Schweiz.
Die Schweiz hat sich mit Irland, Luxemburg und Singapur zusammengetan, um die Steuer möglichst tief zu halten. Finanzminister Ueli Maurer schrieb dem Generalsekretär der OECD, man solle nicht über die 15 Prozent gehen. Gleichzeitig forderte er möglichst viele Ermässigungen. Hat das gewirkt?
Die Schweiz hat versucht, den Satz nach unten zu drücken. Die 15 Prozent sind ziemlich hoch und widerspiegeln die Machtverhältnisse zwischen den Ländern.
Es gibt aber noch die Ermässigungen, sogenannte carve-outs: Wenn ein Konzern in einem Land aktiv ist, kann er 5 Prozent der Löhne und 5 Prozent des Nettovermögens abziehen. Der Ökonom Gabriel Zucman kritisiert, dass diese Konzerne dadurch doch weniger als 15 Prozent zahlen könnten.
Das stimmt, doch die Auswirkung dieser Ermässigungen bleibt in Wirklichkeit ziemlich begrenzt.
Hat die Schweiz bei den Verhandlungen über die Unternehmensbesteuerung ihre Strategie geändert, nachdem sie beim Bankgeheimnis gezwungen worden war, nachzugeben?
Ja, die Schweizer Verhandlungsführer sind intelligent und verstehen die Dynamik. Anstatt sich bis zum bitteren Ende zu wehren, was 2009 beim Bankgeheimnis der Fall war, sagten sie sich: Wir werden versuchen, den Lauf der Dinge zu beeinflussen. Je mehr sie die Tatsache akzeptierten, dass der Wandel unausweichlich war, desto grösser waren ihre Chancen, das Endergebnis zu beeinflussen.
Wird der Steuerwettbewerb in Zukunft nicht einfach über Subventionen geführt?
Wettbewerb an sich ist nicht schlecht. Er ist dann schlecht, wenn er zu einem Negativsummenspiel wird. Das war in einigen Ländern der Fall, die sehr aggressive Steuervergünstigungen anboten, ohne dass eine Firma überhaupt in dem Land aktiv sein musste. Nun müssen die Länder ihre Standortpolitik anders betreiben, entweder mit Subventionen oder mit einem günstigeren Geschäftsumfeld. Das hat Vorteile: Wenn ein Kanton auf Steuereinnahmen verzichtet, sieht das niemand. Wenn derselbe Kanton jedoch eine Milliarde Franken einnimmt und diese Milliarde an extrem profitable Unternehmen verteilen will, wird die Bevölkerung dem möglicherweise nicht so einfach zustimmen.
Sie sind also der Meinung, dass es mehr demokratische Kontrolle gibt, wenn Länder mit Subventionen operieren müssen.
Auf jeden Fall. Es wird viel weniger akzeptabel sein, Geld, das man eingenommen hat, wieder auszugeben, als auf Einnahmen zu verzichten, die einem gar nicht gehören, weil sie anderen Ländern zustehen.
Die Mindeststeuer ist das eine. Die OECD will in Zukunft auch regeln, wo die Unternehmen welche Gewinne versteuern müssen. Weil heute etwa digitale Konzerne wie Google und Amazon ganze Märkte erschliessen, ohne vor Ort physisch präsent zu sein. Diese Reform würde für Google und Amazon gelten, aber auch für Novartis und Roche – was die Schweiz stark betreffen würde.
Es könnte Pharmaunternehmen betreffen, es könnte französische Luxusgüterunternehmen wie LVMH – Moët Hennessy Louis-Vuitton – betreffen. Seit hundert Jahren gilt eigentlich das Prinzip, dass Firmen nach ihrem Standort besteuert werden. Doch Digitalkonzerne wie Google oder Firmen, die mit Patenten Geld machen wie Novartis, erzielen sehr hohe Gewinne in Ländern, in denen sie keine Büros haben. Das schafft Verzerrungen. Wir müssen die Regeln so ändern, dass die Länder, in denen diese Firmen effektiv ihre Kundschaft haben und Geld verdienen, einen grösseren Anteil an den Steuereinnahmen einziehen können.
Diese Reform wurde vor jener der globalen Mindeststeuer gestartet. Weshalb kam sie bis heute nicht zustande?
Die Schwierigkeit besteht darin, dass im Gegensatz zur globalen Mindeststeuer, die nur nationale Rechtsvorschriften erfordert, diese Konzernsteuerreform ein multilaterales Abkommen erfordert. Es muss von den Parlamenten ratifiziert werden, was in Frankreich, Deutschland oder Japan kein grosses Problem darstellt. In den USA hingegen, wo der Senat internationale Abkommen mit einer Zweidrittelmehrheit ratifizieren muss, ist das viel komplizierter. Ich bleibe trotzdem hoffnungsvoll, dass es gelingen wird.
Welche Rolle könnte die Schweiz in all diesen internationalen Diskussionen über Steuern spielen?
Die wahren Themen von morgen sind die Umwelt und der Klimawandel – und welche Steuerpolitik wir brauchen, um diese Fragen anzugehen. Die Schweiz kann ein Vorbild sein, insbesondere bei der Besteuerung von CO2-Emissionen. Die Schweiz muss ihre etwas obsessive Haltung nach dem Motto «Der Rest der Welt will uns schaden» aufgeben. Auf dieser Ebene verhält sie sich ein wenig schizophren. Die Schweiz ist ein echter internationaler Akteur, das muss dem Schweizer Volk klar werden.
Sie sehen die Steuerpolitik als Allheilmittel, um alle Probleme zu lösen: die schwächelnde Demokratie, den aufsteigenden Populismus und die Zerstörung der Natur. Warum?
Weil Steuern in allen öffentlichen Debatten eine zentrale Rolle spielen. Es geht darum, wie man öffentliche Güter finanziert. Wenn wir über den Klimawandel sprechen, stellt sich zum Beispiel die Frage: Wie kann man sicherstellen, dass die negativen Auswirkungen von CO2-Emissionen auf die Umwelt berücksichtigt werden? Dies geschieht durch Marktmechanismen, Emissionshandelssysteme oder eben durch Besteuerung in Form von einem Preis auf CO2-Emissionen. Die Besteuerung steht im Mittelpunkt der meisten demokratischen Debatten. Sie bildet den Grundstein der westlichen Demokratien.
Ich will es genauer wissen: Warum kümmert sich die OECD eigentlich um die internationale Steuerpolitik?
Die Uno hat im letzten November eine Resolution verabschiedet, die auf eine Initiative afrikanischer Länder zurückgeht. Diese sind der Meinung, die OECD werde zu sehr von den reichen Ländern dominiert. Sie wollen, dass die globale Debatte über Steuern in der Uno stattfindet. Ist das eine gute Sache oder nicht?
Das ist eine berechtigte Frage, die seit über zwanzig Jahren immer wieder gestellt wird: Welche internationale Organisation soll die Steuerdiskussionen führen? Es war die OECD, die den Ball aufnahm und bis jetzt damit gespielt hat. Aber das tun nicht nur die reichen OECD-Länder unter sich. 2008 haben wir Massnahmen ergriffen, damit sich auch die anderen Länder beteiligen können. Beim Bankgeheimnis war es das Globale Forum für Transparenz und Informationsaustausch, das 167 gleichberechtigte Mitgliedsländer umfasst. Beim Kampf gegen die Steuerflucht multinationaler Konzerne sind es 143 oder 144 Länder, die im sogenannten Inclusive Framework mitmachen. Deshalb kann man nicht sagen: Die OECD ist nur der Klub der reichen Länder und die Uno ist die einzige legitime Organisation für alle.
Aber wäre es nicht logischer, wenn sich die Vereinten Nationen mit der Frage der globalen Besteuerung befassen würden?
Ich bin der Meinung, dass das Globale Forum wirklich in der Lage war, ein gutes Einvernehmen zu schaffen: Die Entwicklungsländer fühlten sich deswegen miteinbezogen. Das ist im Inclusive Framework für die Besteuerung multinationaler Unternehmen nicht ausreichend gelungen. Das ist wohl mein Misserfolg. Ich habe das Inclusive Framework ins Leben gerufen. Doch da haben wir es nicht geschafft, die gleichen Bedingungen wie beim Globalen Forum zu schaffen.
Warum ist es nicht gelungen?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Der erste Grund ist, dass es sich hier um eine Verhandlung und nicht um eine Anwendung handelt. Das Inclusive Framework handelt Regeln aus, das Globale Forum wendet sie an. Eine Verhandlung ist aber schwieriger. Zweitens handelt es sich um äusserst komplexe Verhandlungen, die OECD-Länder sind aufgrund ihres wirtschaftlichen Gewichts und ihrer ausgebauten Diplomatie stärker in den Verhandlungen. Sie legen manchmal einen ziemlich grossen Egoismus an den Tag, der die Entwicklungsländer frustriert.
Hätten die Entwicklungsländer in der Uno nicht mehr Gewicht?
Es ist naiv, zu glauben, dass die Vereinten Nationen das Wundermittel sind. Um gemeinsame Regeln zu schaffen, braucht man einen Konsens, auch mit den USA. Alle Länder müssen sich einig sein. In der OECD oder in den Vereinten Nationen ist die Problematik dieselbe, nur dass die OECD über viel steuerpolitisches Know-how verfügt und dies unter Beweis gestellt hat. Niemand hätte die Uno 2008 daran gehindert, den Ball aufzunehmen und einen Versuch gegen das Bankgeheimnis zu starten. Wir waren es, die es getan haben.
Was bedeutet das für die Zukunft?
Es gilt anzuerkennen, dass die Interessen der Entwicklungsländer wahrscheinlich nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Insbesondere die Notwendigkeit einfacher Regeln, die vielleicht an sehr spezifische Regeln für die am wenigsten entwickelten Länder angepasst sind. Und dass die Uno hier zweifellos eine Rolle zu spielen hat. Man muss aber vermeiden, dass es zu einer zeit- und energieraubenden Rivalität zwischen den beiden Organisationen kommt.