Irans feministischer Mullah?
Der sunnitische Geistliche Abdolhamid Ismaeelzahi wurde zu einem der wichtigsten Fürsprecher der aktuellen Protestbewegung. Aber ist der Taliban-Gesinnungsbruder wirklich ein Verbündeter? Serie «Islamische Republik versus Iran», Teil 2.
Von Solmaz Khorsand, 21.02.2023
Freitagnachmittag ist für viele Iranerinnen zu einem allwöchentlichen Pflichttermin in ihrer Protestroutine gegen das Regime geworden. Dann heisst es wieder Klartext von einem, der schon so lange den Machthabern in Teheran die Meinung geigt. Ganz öffentlich und ohne Maulkorb, auf dem Gebetsplatz in Zahedan, der Hauptstadt der Provinz Sistan und Belutschistan im Südosten des Iran. Tausende versammeln sich dort vor Ort und noch mehr vor dem Livestream zu Hause, um Abdolhamid Ismaeelzahis Freitagspredigt zu lauschen.
Ismaeelzahi, den alle Mawlawi – sein religiöser Titel – Abdolhamid nennen, sitzt auf der mintgrün gepolsterten Bank, hält sich mit einer Hand an einem Stock fest und gestikuliert mit der anderen, während er ins Mikro spricht, mitunter auch brüllt. 75 Jahre alt, Sunnit, Geistlicher – und einer der bekanntesten Fürsprecher der aktuellen Protestbewegung.
Islamische Republik versus Iran
Seit dem gewaltsamen Tod der Kurdin Jina Mahsa Amini im Herbst 2022 ist im Iran nichts mehr, wie es war. Die Menschen verlangen unter der Parole «Frau, Leben, Freiheit» den Systemsturz der Islamischen Republik. Angeführt von den Unterdrücktesten des Landes, geeinter denn je. Zur Übersicht.
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Unter Irans knapp 10 Millionen Sunniten, die im mehrheitlich schiitischen Gottesstaat eine Minderheit darstellen, ist Ismaeelzahi seit mehr als 30 Jahren eine grosse Nummer. Doch in den vergangenen Monaten hat sich seine Fanbase beträchtlich erweitert. Von der Schiitin aus Isfahan über den Atheisten in Teheran bis hin zur Exiliranerin in Los Angeles. Sie alle hängen dem Prediger jeden Freitag an den Lippen, wenn er dem Regime in seiner Predigt die Leviten liest. Wenn er die Machthaber anprangert für den Gewaltexzess gegen die eigene Bevölkerung, sie für die Hinrichtungen aufs Schärfste verurteilt. Wenn er an diese 80- und 90-jährigen Männer appelliert, keine Entscheidungen für die Jungen zu treffen, den Protestierenden doch zuzuhören. Ihren Forderungen doch nachzukommen: nach Pressefreiheit, sich versammeln zu dürfen, Parteien zu gründen. «Sie protestieren für eine gute und hellere Zukunft. Ihre Wünsche sollten erfüllt werden», sagt er.
Und wenn er sich für die Frauen einsetzt. Es ist vermutlich das, was am meisten irritiert, werden doch konservative Geistliche im stramm misogynen Lager verortet. Doch Ismaeelzahi bricht in seinen Reden mit dieser Vorstellung. «Diese Frauen wurden missachtet und gedemütigt. Weil ihnen alles vorenthalten wird und die Kopfbedeckung das einzig Wichtige für die Regierung ist, zünden sie die Kopftücher an», sagt Ismaeelzahi und zeigt Verständnis.
Er war auch einer der Ersten, die nach dem Tod von Jina Mahsa Amini in der Haft der Sittenpolizei am 16. September – noch am selben Tag – eine transparente Untersuchung gefordert haben. In den Wochen danach kam er erst richtig in Fahrt, verlangte gar ein Referendum unter Aufsicht internationaler Beobachterinnen, weil die Iraner selbst über ihre Zukunft abstimmen und das System wählen sollten, in dem sie leben möchten. Ausserdem macht er Revolutionsführer Ali Khamenei, die oberste Autorität des Landes, persönlich für das Blutbad in Zahedan nach dem Freitagsgebet am 30. September verantwortlich, als Regimeschergen mit scharfer Munition gegen Protestierende geschossen haben.
Kein Wunder also, dass jeden Freitag mit Spannung erwartet wird, was Mawlawi Abdolhamid wieder zu sagen hat. Es ist einzigartig, wenn man bedenkt, dass die Geistlichen im Iran seit dem Beginn der Islamischen Republik 1979 für die Gegnerinnen des Regimes das Feindbild schlechthin sind. Sie repräsentieren schliesslich den Gottesstaat. Nicht umsonst hat es sich in den vergangenen Monaten unter jungen Protestierenden zu einem Volkssport – und einer Mutprobe – entwickelt, Mullahs beim Vorbeigehen den Turban vom Kopf zu stossen.
Wie konnte ausgerechnet ein konservativer Freitagsprediger, der in den gleichen islamistischen Deobandi-Schulen in Pakistan gelernt hat wie die späteren Taliban, es in einer feministischen Bewegung zu solcher Beliebtheit bringen? Haben die Protestierenden in Ismaeelzahi tatsächlich einen Verbündeten gefunden – oder einen Opportunisten, der die Gunst der Stunde für seine persönlichen Ambitionen zu nutzen weiss? Ist er nur ein religiöser Wolf im Schafspelz, der dem Volk nach dem Mund redet und es dann übertölpelt?
Solidarität mit Atheistinnen
Der Politologe Hessam Habibi Doroh von der Fachhochschule Campus Wien winkt ab. Seit Jahren studiert er Ismaeelzahis Reden. «Er will nicht der geistliche Führer aller Iraner sein», sagt er, «doch er hat immer versucht, ein Repräsentant für alle Minderheiten zu sein.» Daher spielen diese in seinen Predigten auch eine zentrale Rolle. «Wir sind alle Iraner, von den Zarathustriern, Derwischen (…) bis zu den Bahai, auch sie sind Menschen und haben Rechte. Alle, die hier im Iran leben, haben Rechte», sagte er am 2. Dezember. Bewusst betone er dabei jene religiösen Gruppen, die unter den stärksten Repressionen im Iran leiden.
Vier Wochen später ging er sogar einen Schritt weiter: «Auch wenn jemand Gott nicht akzeptiert, darf er nicht seiner Menschenrechte beraubt werden.» Ist das nicht der absolute Tabubruch: ein Geistlicher, der sich in einem Gottesstaat für die Rechte von Atheistinnen starkmacht? Was passiert da gerade?
«Das ist nicht neu», relativiert Forscher Doroh. Auch der Einsatz für Frauen sei es nicht. Schon in den 1990er-Jahren habe Ismaeelzahi darauf bestanden, dass auf den Listen für die Kommunalwahlen Kandidatinnen aufgestellt werden, die er dann unterstützt habe, erinnert sich Doroh. Er entkräftet den Verdacht, dass Ismaeelzahi sich nur aufgrund der Protestbewegung so progressiv äussert. Seit Jahren tue er das. Es gehöre gewissermassen zu seiner Biografie.
Geboren 1947 in Galougah, einem Vorort Zahedans, ist er der Schwiegersohn und Zögling von Molana Abdulaziz Mollazadeh, einem der prominentesten sunnitischen Geistlichen Irans. Dieser legte den Grundstein für die Makki-Moschee in Zahedan, den grössten sunnitischen Gebetskomplex des Landes, und die dazugehörende Dar ul-Ulum-Religionsschule. Nach seinem Tod 1987 übernahm Ismaeelzahi die Leitung der Lehrstätte und machte sie zu einem sunnitischen Gelehrtenzentrum mit Ausstrahlung über die Landesgrenzen hinaus.
Mit seiner Kritik am Regime trat er ebenfalls die Nachfolge seines Schwiegervaters an. Dieser hatte bereits nach der Revolution 1979 die Benachteiligung der sunnitischen Minderheit in der neuen Islamischen Republik angeprangert. Die Diskriminierung sollte sich in den folgenden Jahren nur verfestigen. Sunniten wurden von allen höheren Positionen in der Politik, in der Justiz und im Sicherheitsapparat ausgeschlossen, wogegen Ismaeelzahi ab den 1990er-Jahren zu lobbyieren begann – zunehmend auch politisch. Bei Wahlen unterstützte er offiziell immer die Liste jener Kandidaten, die als «reformistisch» oder zumindest «gemässigt» galten – in der Hoffnung, dass eines Tages Sunniten auch Minister, Richter und Generäle stellen würden. Ohne Erfolg. Das Regime hielt starr an der inoffziellen no-sunni policy fest.
Die ärmste Provinz des Landes
Doch es ist nicht die einzige Front, an der Abdolhamid Ismaeelzahi den Kampf aufgenommen hat. Als Belutsche zählt er zu der diskriminiertesten Ethnie des Landes. Knapp 2 Millionen Menschen gehören der Volksgruppe im Iran an. Und obwohl sie gerade einmal 3 Prozent der Bevölkerung des Landes ausmachen, sind 21 Prozent aller hingerichteten Personen Belutschinnen.
Die Ethnie ist vorrangig beheimatet in Afghanistan, Pakistan und im Südosten des Iran, in der zweitgrössten Provinz des Landes: Sistan und Belutschistan. Wer Menschen aus dem Iran auf die Provinz anspricht, bekommt ein trauriges Kopfschütteln. Rückständig sei es dort, zutiefst patriarchal, fast schon archaisch mit seinen Stammesstrukturen und den Clanchefs, die in der Gesellschaft mehr zu sagen haben als jede politische Instanz.
Manche Menschen würden noch nicht einmal über Personalausweise verfügen, weil sie es sich entweder nicht leisten könnten oder nicht wollten, um in keiner staatlichen Datenbank aufzutauchen. Viele Männer müssten sich als Schmuggler verdingen, weil es sonst keine Jobs gebe – und die Grenzen zu Pakistan und Afghanistan trotz des hohen Sicherheitsaufgebots immer noch durchlässig genug seien. Und die Frauen zählten zu den ärmsten und ungebildetsten der Nation. Die Statistiken bestätigen das triste Bild. Die Provinz führt jedes Negativranking an: von der höchsten Armut und Analphabetenrate bis hin zur niedrigsten Lebenserwartung.
Die Menschenrechtsaktivistin Fariba Baloch weiss, was ihre Landsleute von ihrer Heimatregion denken. Sie ist sehr darauf bedacht, zu betonen, dass dieser Zustand in ökonomischen und politischen Fehlentwicklungen wurzelt – und nicht in der Kultur und der Religion der Menschen begründet ist, wie es das Regime weismachen will.
Wer nicht dort gelebt habe, könne sich das Ausmass der Deprivation nicht vorstellen, sagt Fariba Baloch. Vor drei Jahren zog sie nach England, zuvor verbrachte sie ihre ersten 36 Lebensjahre in Sistan und Belutschistan. Im Gegensatz zum Rest des Iran, wo das Gros der Bevölkerung in Städten lebt, wohnen dort viele Menschen in entlegenen Dörfern, oft abgeschnitten von jeder Zivilisation. Frauen gebären zu Hause, weil das nächste Krankenhaus zu weit weg ist.
Als Lehrerin ist Fariba Baloch in der Provinz viel herumgekommen und musste zuweilen miterleben, dass noch nicht einmal die Vororte von Städten an das Wasser- und Stromnetz angeschlossen waren. Die Infrastruktur liegt brach, als wäre man vergessen worden vom Rest der Welt. Die Schulen, in denen Baloch unterrichtete, waren auf Initiative von Privatpersonen gegründet worden – nicht vom Staat. Für die ehemalige Lehrerin ist das eine bewusste Strategie des Regimes gegenüber ihrer Volksgruppe. «Bildung schafft Bewusstsein. Wenn die Menschen gebildet sind, wehren sie sich und kämpfen für ihre Rechte», sagt sie, «und das wollte die Islamische Republik in Belutschistan verhindern.»
Zahedans blutiger Freitag
Irans Machthaber haben seit Ende des 19. Jahrhunderts einen Argwohn gegen die Belutschinnen. Sie haben immer befürchtet, dass diese sich mit ihren Brüdern und Schwestern jenseits der iranischen Grenzen zu einem unabhängigen Gross-Belutschistan vereinigen würden, ein Traum, der von einigen durchaus gehegt wurde.
Ähnlich wie bei den Kurdinnen nutzten auch hier die Machthaber, ob Monarchen oder Mullahs, das Narrativ von der separatistischen Minderheit, die sich von der Nation Iran abspalten wolle. Dass sich 2003 dann die islamistische Terrororganisation «Jundullah» (Soldaten Gottes) formierte, die es sich zum Ziel setzte, für die Rechte unterdrückter Sunniten im Iran zu kämpfen, stützt diese Erzählung ideal. Zahlreiche Anschläge gehen zurück auf die Organisation, insbesondere in der Amtszeit von Irans Präsident Mahmoud Ahmadinejad (2005–2013), der selbst bei einem Besuch in Sistan und Belutschistan angegriffen wurde. Sein Leibwächter wurde dabei getötet. Auch in den Jahren darauf kam es immer wieder zu Anschlägen und Geiselnahmen. Daher nickte der Rest des Landes, wenn das Regime von den «Terroristen» da unten redete.
Doch seit dem 30. September 2022 sei dies anders, beobachtet Baloch. Der «blutige Freitag» ist längst in die Geschichte eingegangen: Es war der bislang tödlichste Tag der aktuellen Protestbewegung. Damals versammelten sich ein paar Gläubige nach dem Freitagsgebet auf dem Mosalla-Gelände, dem überdachten Platz, wo Abdolhamid Ismaeelzahi allwöchentlich seine Predigt abhält, danach zogen sie mit einer Demonstration vor eine Polizeistation. Sie schrien Parolen und warfen Steine. Auslöser waren neben den aktuellen Protesten Berichte über einen Polizeikommandanten aus der Hafenstadt Chabahar, der im Juni eine 15-jährige Belutschin vergewaltigt haben soll.
Konsequenzen hatte das nicht für den Mann. Kein Prozess, keine Suspendierung, keine Aufarbeitung, nichts. Die Menge war aufgebracht. Die Sicherheitskräfte reagierten mit scharfer Munition – und zwar weitflächig. Sie schossen auf Umstehende, auf Gläubige, die sich noch auf dem Mosalla-Gelände aufhielten, auf solche, die auf dem Weg nach Hause waren. Mindestens 66 Menschen wurden an jenem Tag getötet, in den Tagen darauf stieg die Zahl auf 92.
Das Regime behauptete, dass bewaffnete Terroristen für die Ausschreitungen verantwortlich seien. Doch dieses Mal sei niemand auf die Staatspropaganda hereingefallen, sagt Fariba Baloch: «Das Regime hätte nicht erwartet, dass es diese Solidarität im Land mit uns Belutschen gibt. Es denkt sich: Ich habe 43 Jahre hier gemordet und keiner hat etwas gesagt. Jetzt aber schon.» Die Sympathiebekundungen ihrer Landsleute haben auch sie überrascht und tun es immer noch. Wenn sie Vorträge in Europa hält, kommen viele nicht belutschische Iranerinnen auf sie zu, umarmen sie und entschuldigen sich unter Tränen: «Verzeiht uns, wir wussten in all den Jahren nicht, was in Belutschistan passiert.»
Wo sind die Belutschinnen?
Heute führen die Menschen aus der Provinz neben jenen in den kurdischen Gebieten die Todesstatistik der Opfer der aktuellen Protestbewegung an. Ähnlich wie in den kurdischen Gebieten hält sich der Repressionsapparat der Islamischen Republik hier nicht zurück. Woche für Woche nimmt die Militärpräsenz zu, unter anderem auch deswegen, weil die Proteste nicht abebben, obwohl sie immer wieder blutig niedergeschlagen werden. Nach jedem Freitagsgebet stehen die Menschen wieder auf der Strasse. In vielen Videos sind ausschliesslich Männer zu sehen. Doch wo sind die Belutschinnen? Schliessen sie sich ihren Schwestern im Rest des Landes an?
Bedingt, auf ihre Art.
Als im November im Netz das Bild einer Belutschin auftauchte, die auf eine Lehmwand die Parole «Frau, Leben, Freiheit» schrieb, wussten Feministinnen im ganzen Land, was das bedeutet. Wie gross dieser Akt des Widerstands war. «Es ist ein grosser Unterschied, ob das eine Frau in Teheran macht oder in Belutschistan», sagt Fariba Baloch. «Der Druck, der auf dieser Frau lastet, ist grösser, weil sie ihn nicht nur vom System erfährt, sondern auch von der lokalen Gesellschaft.»
Es ist nicht gerne gesehen, wenn Mädchen und Frauen demonstrieren. Trotzdem passiert es. Ihr Protest offenbart die verschiedenen Nuancen der Bewegung. Etwa wenn verschleierte Belutschinnen auf die Strassen gehen und schreien: «Ob mit oder ohne Hidschab, alle in Richtung Revolution.»
Das Bewusstsein für den feministischen Kampf sei auch in der zutiefst patriarchalen belutschischen Gesellschaft gegeben, sagt Fariba Baloch. Sie beobachte, wie lokale Frauengruppen wachsen, die anonym im Netz ihren Widerstand dokumentieren und kommentieren. Wie zum Beispiel die dasgoharan («Kameraden» auf Belutschisch), die auf Instagram als «The Voices of Baloch Women» regelmässig Statements veröffentlichen und das Bild der unwissenden und bemitleidenswerten Belutschinnen zurechtrücken: «Ihr habt ihre Aktivitäten nicht verfolgt, ihr kennt ihre Herausforderungen und Erfolge nicht. Ihr habt nichts von ihnen und ihren Aktivitäten gehört und ihr denkt, dass sie heute auf der Strasse geboren wurden! Wir sagen ehrlich: Vergesst das Bild der minderwertigen Frau, die in den Tiefen der Schwärze versunken ist», schreiben die dasgoharan unmittelbar nach Ausbruch der Proteste im September auf Instagram.
Sie kritisieren auch religiöse Würdenträger wie Abdolhamid Ismaeelzahi. «Die Worte von Mawlawi Abdolhamid in dieser Woche überraschten viele. Er sprach über Bürgerrechte, Freiheit, Bildung für Mädchen und sogar den Hidschab. Seine Worte erregten sogar die Sympathie einiger Anhänger der Protestbewegung und der Schiiten», heisst es in einem weiteren Post, «doch obwohl Mawlawi kein Funktionär im herrschenden System ist, war die Makki-Bewegung [Anm. d. Red.: Abdolhamids Zentrum] nie ein machtloser, passiver Zuschauer ohne Verantwortung bei der Schaffung der aktuellen gesellschaftspolitischen Situation.»
Auch ihn, den beliebten Geistlichen, macht die Gruppe für die Zustände verantwortlich. So habe Ismaeelzahi ursprünglich in seinen Predigten gar nicht über die Frauen gesprochen, das sei erst nach Unterredungen mit Aktivistinnen passiert. Ihn daher als den grossen Frauenrechtler zu feiern, sei falsch.
«Einen Preis für Frauenrechte nach westlichen Standards wird er keinen gewinnen», sagt auch Politologe Hessam Habibi Doroh. Zuletzt wurde Ismaeelzahi gar der Preis aberkannt, der ihm 2014 für seinen Einsatz für Frieden und Minderheitenrechte überreicht worden war. Im August 2021 hat die Organisation Zentrum für Menschenrechtsverteidiger die Auszeichnung zurückgezogen, nachdem er den Taliban zu ihrem Sieg in Kabul gratuliert hatte.
Ismaeelzahi hat den Menschen damals nahegelegt, die «negative und einseitige Propaganda» gegen die Taliban nicht zu beachten. Sie seien «reformierbar». Mittlerweile kritisiert er hingegen seine ehemaligen Gefährten, mit denen er in der Religionsschule in Pakistan als junger Mann die Schulbank gedrückt hat. Sie sollen den Mädchen und Frauen ihr Recht auf Bildung nicht verwehren. Zu einer Verurteilung des Taliban-Regimes kann er sich aber nicht durchringen.
Auch Menschenrechtsaktivistin Fariba Baloch ist nicht überzeugt davon, dass es sich bei Abdolhamid Ismaeelzahi um eine feministische Lichtgestalt handelt. Und dennoch: «Vielleicht kann er von seinem Wesen als Geistlicher her kein Feminist sein, aber was er sagt, um die Bewegung ‹Frau, Leben, Freiheit› zu verteidigen, das ist wirklich feministisch.»
Das weiss auch das Regime. Schon lange ist der sunnitische Würdenträger den Machthabern mit seiner offenen Kritik ein Dorn im Auge. Nicht umsonst nahm man ihm bereits 2010 den Pass ab und versuchte so zu verhindern, dass er auf Reisen noch mehr Anhängerinnen gewinnt.
In den vergangenen Monaten ist jedoch genau das passiert, dieses Mal sogar jenseits der eigenen Ethnie und Religionsgemeinschaft. Regimedelegationen wurden nach Sistan und Belutschistan geschickt, um Ismaeelzahi einzuschüchtern, damit er aufhört mit seinen aufrührerischen Predigten. Mittlerweile sind mehrere sunnitische Geistliche festgenommen worden, zuletzt ein enger Berater Ismaeelzahis. Aus vertraulichen Bulletins der Revolutionsgarden, die von der Hackergruppe «Black Reward» im November geleakt wurden, geht hervor, dass es auch Pläne gab, sich Ismaeelzahis selbst zu entledigen, ihn mutmasslich zu inhaftieren. Revolutionsführer Ali Khamenei persönlich soll angeordnet haben, dass Mawlawi Abdolhamid nicht verhaftet, sondern nur «blamiert» werden solle.
Doch auch niemand geht davon aus, dass Ismaeelzahi festgenommen wird. Das wäre zu unvernünftig – selbst für eine Islamische Republik, die um ihr Überleben fürchten muss. Würde Irans wichtigstem Sunniten etwas passieren, wären nicht mehr nur ein paar Tausend in Zahedan auf der Strasse, das ganze Land wäre mobilisiert. Offenbar haben Irans Machthaber ein Plakat der Protestierenden aus Sistan und Belutschistan ernst genommen: «Unsere rote Linie ist Mawlawi Abdolhamid.» Eine Linie, die selbst die Machthaber sich nicht zu überschreiten trauen. Bislang.