Freitag, 10. Februar 2023
Alain Berset in Handschellen, sein Kopf, der aussah wie angeleimt, und angeblich «Tausende, die zu Geldautomaten strömen». Klingt abgehoben? Willkommen in der fabelhaften Welt der Onlinewerbung.
Haben Sie diese Woche die Onlineausgabe des «Blicks» gelesen? Den «Bund» durchgescrollt? Und sind dabei auf eine Falschmeldung (und eine grässlich schlecht gemachte Fotomontage) gestossen?
Zig Medienportale verbreiteten am Mittwoch die Nachricht, dass Alain Berset verhaftet worden sei. Stimmt natürlich nicht. Die Schlagzeile führte auf eine zwielichtige Bitcoin-Seite – was «Blick» und Co. im Nachhinein klarstellten.
Bemerkenswert daran: Die betroffenen Medien scheuten sich nicht, ausschweifend zu erklären, wie die Falschmeldung auf ihre Website gelangt war (nämlich über Googles Werbenetzwerk AdSense). Einigermassen dreist wies Tamedia, Mutterkonzern von «Der Bund», das Problem von sich: «Google steht in der Verantwortung, griffigere Methoden gegen diesen Betrug zu finden. Die Nutzerinnen und Nutzer sollten solche Werbungen melden», schrieb der Konzern in der Richtigstellung.
Was Tamedia und die anderen Medienhäuser nicht schrieben: Sie haben die Kontrolle darüber verloren, was auf ihren Werbeflächen angezeigt wird.
So warnte der «Blick» schon mal in weiser Voraussicht: «Generell gilt: Schweizer Medien versuchen nicht, ihre Leser in dubiose Bitcoin-Investments zu locken.»
Fürs Protokoll: Wir sind nicht perfekt.
Wie das genau funktioniert mit dem Werbegeschäft im Internet, haben wir vergangenen Sommer nachgezeichnet:
Früher buchte man Werbung direkt beim Betreiber einer Website. Heute verkauft man sie an einer Börse an den Höchstbietenden. Für Werbende bedeutet das Komfort und tiefe Preise.
Aber auch: maximalen Kontrollverlust.
Wir haben diese Erfahrung ebenfalls gemacht. Ein Republik-Inserat tauchte auf der Rechtsaussen-Newssite «Breitbart» auf (wir haben reagiert).
All diese Geschichten, von Berset bis «Breitbart», bestätigen uns: Ein werbefreies Magazin zu sein, hat weit mehr Vorteile als «nur» journalistische Unabhängigkeit.
Schweizer Unternehmen und Organisationen finanzieren mit Online-Inseraten Desinformationsportale. Werbeberater Michael Maurantonio will das stoppen. Lesezeit: 14 Minuten.
Ein ähnlich boomendes Geschäft wie Onlinewerbung: CO2-Zertifikate. Firmen von Gucci bis Volkswagen haben beim führenden Anbieter in Regenwaldprojekte investiert, um ihre Kohlenstoffemissionen zu kompensieren. Nur: Über 90 Prozent dieser Zertifikate sind offenbar wertlos.
Das ist ein Aufruf, genauer hinzuschauen. Wo immer ein Unternehmen behauptet, seine Produkte seien CO2-neutral, ist Vorsicht geboten. Besonders dann, wenn der CO2-Ausstoss mit Waldprojekten kompensiert wird. Das zeigen Recherchen der Investigativplattform «Source Material» im Verbund mit «The Guardian» und «Die Zeit». Im Fokus steht die US-Organisation Verra, die Zertifikate für Kompensationsprojekte vergibt und zuliess, dass Dutzende Millionen Tonnen Kohlendioxid nie eingespart wurden, also auf Fake-Zertifikaten beruhen. Der Greenwashing-Vorwurf erreicht auch die gerade sehr angesagte Zürcher Klimaberatungsfirma South Pole. Der Skandal zeigt, was passiert, wenn Vertreter aus der Wirtschaft ihre eigenen Standards setzen, um dem Rest der Welt ein ökologisches Verhalten vorzugaukeln – mit dem Ziel, von nachhaltigen Investitionen zu profitieren.
Manche Betreiber von Kompensationsprojekten wenden eine Masche an, auf die wir letztes Jahr bei einer ähnlichen Recherche auch schon gestossen sind: Zugunsten der Unternehmen und unter dem Vorwand der Wissenschaft werden Methodiken von einem Tag auf den anderen «angepasst».
Eher ernüchternd, nicht? Anregungen, mit welchen Ansätzen der Klimakrise tatsächlich wirksam begegnet werden könnte, gibt es im jüngsten Beitrag aus unserem Klimalabor.
Der Science-Fiction-Autor Kim Stanley Robinson hat etwas geschafft, was nur wenige Schriftsteller schaffen: Er hat die Politik erschüttert. 2020 hat er «Das Ministerium für die Zukunft» veröffentlicht. Der ehemalige US-Präsident Barack Obama feierte das Buch als eine seiner Lieblingslektüren. Der Schweizer Politiker Paul Rechsteiner, der diesen Winter nach 36 Jahren aus dem Parlament zurücktrat, verschenkt es seinen Kollegen. Christiana Figueres, die Uno-Diplomatin und Mutter des Pariser Klimaabkommens, hörte sich den Roman in ihrem Garten an und weinte. Noch nie hat ein fiktionales Klimabuch so viel Aufmerksamkeit erregt. Was kann Science-Fiction, was Journalismus und die Wissenschaft nicht können? Und was können wir von Robinson über unsere Zukunft lernen?
Hier geht es zum Gespräch mit dem Schriftsteller Kim Stanley Robinson. Es dauert 15 Minuten.
Wenn Ihnen grad alles auf den Zeiger geht: Sie sind nicht allein. Und: Hören Sie Musik. Oder essen Sie einen Brombeerkuchen.
Gleich drei altbekannte Indiebands melden sich zum Wochenende zurück. Die Portlander Quasi gewinnen schon mal den Titelwettbewerb mit «Breaking the Balls of History», denn wem geht die Weltgeschichte gerade nicht auf die … ähm… «balls»? Empfehlung: «Doomscrollers», eine betont ausdruckslose Liebeserklärung an Brombeerkuchen, gemischt mit der absoluten Hoffnungslosigkeit des Daseins. «Brombeerkuchen, à la mode, schwarzer Kaffee, keine Zukunft» lautet eine Textzeile, dazu läuft so etwas wie Blue-notes-getränkter Anti-Glamrock. Fast konventionell wirkt da das neue Paramore-Album («This Is Why»), aber auch hier gibt es Grund zur Freude: Die zehn Songs reichen von Rockballade bis zu Dance-Pop-Hymne und sind insgesamt vielfältiger als vermutet; manchmal wirds geradezu melancholisch. Apropos Melancholie: «This Stupid World» heisst das neue Album von Yo La Tengo. Kann man dem noch irgendetwas hinzufügen ausser der Aufforderung, es anzuhören?
Altbewährtes Mittel gegen Weltschmerz, überschäumende Melancholie und niederschmetternde Nachrichten: spazieren gehen.
Julia Trachsel arbeitet als freie Illustratorin in Luzern. Eine ihrer Spezialitäten: Bilder zum Sprechen zu bringen.
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