Müssen wir von Noah lernen?
Wie warnt man vor dem Ende der Welt, ohne die Apokalypse zu beschwören? Über den Umgang mit der aufziehenden Klimakatastrophe.
Ein Essay von Jörg Heiser, 04.02.2023
Suppe auf Museumsgemälde kippen und auf Autobahnausfahrten seine Hand auf den Asphalt kleben – das sind die Protestformen, die im Jahr 2022 für Aufsehen sorgten. Sie erscheinen auf beinahe verzweifelte Art real, jedenfalls aus der Perspektive, aus der wir seit Brexit und Trump, der Corona-Pandemie, tödlichen Überschwemmungen in Pakistan und arktischen Schneestürmen in Nordamerika sowie dem russischen Einmarsch in die Ukraine versucht sind, auf die Welt zu blicken: Alles ist surreal geworden, unsere Realität ist zerbrochen und durch einen brutalen bis absurden Albtraum ersetzt worden.
Wie um dem Ganzen eine prickelnde spirituelle Wendung zu geben, sind die Klimaaktivisten, die Suppe schleudern oder ihre Hände ankleben, Mitglieder von Gruppen, die sich Extinction Rebellion oder Letzte Generation nennen. Was ihnen und ihrer Sache eine Aura von apokalyptischem Messianismus verleiht – denn ihre Namen suggerieren zumindest, dass sie höchstselbst die Künderinnen und letzten Zeugen des nahenden Untergangs sind, was unweigerlich einen religiösen Beigeschmack hat.
Doch wenn etwas zerbrochen ist, dann nicht die Realität, sondern ganz im Gegenteil die Illusionen, mit denen wir gelebt haben. Schon dieses «Wir» ist eine Illusion gewesen – in einer Blase, in der der gemütliche Teil der Ära des Kalten Krieges noch nicht zu Ende gegangen war. Der Teil, in dem es jedem gut geht und sich in den westlichen Ballungszentren ein Leben mindestens mit gesicherter materieller Versorgung aufbauen lässt. Nur wer das Privileg hatte, in dieser «Wir»-Blase zu leben, mag weiterhin geglaubt haben, dass Kriege, Überschwemmungen, Versorgungsengpässe und verrückte Diktatoren etwas weit Entferntes sind, das nur in «Entwicklungsländern» passiert.
Selbst wenn die Dinge nahe genug herankamen – von den Jugoslawienkriegen der 1990er-Jahre über 9/11 bis hin zur sogenannten «Flüchtlingskrise» von 2015 –, haben «wir» es geschafft, das allenfalls als irritierende Abweichungen vom Pfad der Normalität zu betrachten.
Mit anderen Worten: Nur dank Ignoranz und Vergessen konnte man übersehen haben, wie oft die Welt zuvor schon einer Hölle geglichen hatte; mit Kriegen und Völkermorden, mit Überschwemmungen, Dürren und Pandemien, mit Fake News und autoritärer Propaganda. Nicht einmal die wissenschaftliche Konstatierung des Klimawandels ist etwas grundsätzlich Neues. Mit den Anfängen im frühen 19. Jahrhundert, mit der Entdeckung des Treibhauseffekts, sind die «Grenzen des Wachstums» spätestens seit den frühen 1970er-Jahren erkannt – man denke an den 1972 vorgelegten Bericht des Club of Rome.
Weil sich vieles zuspitzt und gleichzeitig geschieht, ist es heute jedoch tatsächlich schwieriger geworden, die langjährige Stumpfheit und Amnesie in Bezug auf den Klimawandel aufrechtzuerhalten. Entsprechend sind die Proteste von Extinction Rebellion und der Letzten Generation in ihrer grundsätzlichen Motivation stimmig und legitim: dass angesichts bereits eingetretener beziehungsweise drohender Kipppunkte und Dominoeffekte, die zu einer Verfehlung der aktuellen Klimaziele und der Zerstörung der Lebensgrundlagen eines Grossteils der Menschheit führen würden, sofortige Massnahmen zur radikalen Reduzierung der Kohlenstoffemissionen ergriffen werden müssen.
Aber die Art und Weise, wie diese Proteste umgesetzt werden, fühlt sich gelegentlich auch fehlgeleitet an. Wen oder was greifen sie eigentlich an, um Druck auszuüben?
Die tiefgehende Verzweiflung, die hier zum Ausdruck kommt, ist berechtigt. Aber auch diese Verzweiflung – die sich in der Theatralik der Aktionen und der möglichen Selbstverletzung, aber auch in den Äusserungen einzelner Mitglieder zeigt – steht in direktem Zusammenhang mit einem befremdlichen, apokalyptischen Messianismus. Der wiederum an zwei andere Phänomene erinnert, ein aktuelles und ein historisches.
Weltuntergang im Luxusresort
Das erste, aktuelle betrifft das seltsame Phänomen der Milliardärs-Prepper. (Das Wort prepper stammt vom englischen «to prepare»: sich durch Anlegen von Schutzbauten und Vorräten auf drohende Katastrophen vorbereiten.) Douglas Rushkoffs kürzlich erschienenes Buch «Survival of the Richest» beginnt mit einer Erfahrung aus erster Hand, die so unglaublich ist, dass sie wahr sein muss (auch weil Cyberpunk-Veteran Rushkoff im Allgemeinen eine zuverlässige Quelle ist).
Nachdem er für ein stattliches Honorar in ein abgelegenes Luxus-Spa in der Wüste gerufen wurde, trifft der Autor auf fünf Tech-Investoren und Hedgefonds-Unternehmer. Diese befragen ihn nicht etwa zu Vorhersagen über den bevorstehenden gesellschaftlichen Zusammenbruch – den sie «The Event», das Ereignis, nennen – oder zu Möglichkeiten, diesen zu verhindern. Sondern sie befragen ihn dazu, wie man diesem Zusammenbruch möglichst effektiv entkommen kann und wie und wo man die besten und zuverlässigsten Weltuntergangsbunker baut.
Ein fassungsloser Rushkoff hat eine erste Diagnose: Diese Leute sind auch deshalb versessen darauf, so schnell wie möglich so viel Geld wie möglich zu verdienen, weil sie hoffen, dadurch einer Katastrophe zu entgehen, die nicht zuletzt durch ihr eigenes Geldverdienen verursacht wird. «Es ist, als wollten sie ein Auto bauen, das schnell genug fährt, um seinen eigenen Abgasen zu entkommen», schreibt er. Es erübrigt sich fast, zu erwähnen, dass der Höhepunkt dieser Fantasie im Sommer 2021 – mitten in einer globalen Pandemie – darin bestand, dass Jeff Bezos, Elon Musk und Richard Branson sich oder ihre Raketen ins All schossen.
Dennoch scheint die Klasse der Tech-Milliardäre weniger erklärter Feind als blinder Fleck der neuen Klimaaktivisten zu sein. Wäre es nicht vernünftiger, wenn sie den Fokus nicht darauf legten, an Berufspendlerinnen die Forderungen nach billigeren öffentlichen Verkehrsmitteln heranzutragen, sondern stattdessen die Superreichen und Mächtigen direkt mit der Unmöglichkeit konfrontierten, den Auswirkungen ihrer Taten zu entkommen?
Genau das haben ja viele andere Aktivisten in den letzten Jahren getan, manchmal erfolgreich, von Nan Goldin, die gegen die Milliardärsfamilie Sackler vorging, bis zu Oxfams jüngstem, detailliertem Bericht über die Ungleichheit der Vermögen, der wie Rushkoffs Buch «Survival of the Richest» betitelt ist. Und im November 2022 gab es eine Reihe von Aktionen, bei denen sich einige Aktivistinnen tatsächlich mit den Reichen auseinandergesetzt haben – nämlich mit den Besitzern und Nutzerinnen von Privatjets auf dem Amsterdamer Flughafen Schiphol oder in London Luton. Aber das hat sich bisher nicht zu einem kontinuierlichen Muster entwickelt.
Sind wir blind?
Das zweite Phänomen, an das einen der aktuelle Klimaprotest denken lässt, ist streng genommen nicht historisch in dem Sinne, dass es abgeschlossen wäre. Es führt zurück in den Kalten Krieg der frühen 1960er-Jahre, als sich Untergangsszenarien nicht so sehr wie das Ergebnis einer chaotischen Anhäufung von Ursachen und Katastrophen anfühlten, sondern wie ein Showdown zwischen zwei Parteien, von denen jede den Finger auf dem roten Knopf hatte: der nukleare Weltuntergang.
In verschiedenen weitsichtigen Essays der späten 1950er- und frühen 1960er-Jahre schrieb damals Günther Anders von der «vorweggenommenen Zukunft als Vergangenheit» und davon, dass die Menschheit ihre «Apokalypseblindheit» überwinden müsse.
Der jüdisch-deutsche Philosoph war 1933 mit seiner damaligen Frau Hannah Arendt ins Pariser Exil und dann in die USA gegangen, bevor er 1950 nach Österreich übersiedelte – und zu einem der Hauptdenker der Anti-Atom-Bewegung der Nachkriegszeit wurde. Ein Jahr vor der Kuba-Raketenkrise, die wohl einer vollständigen Eskalation in Richtung Atomkrieg am nächsten kam, schrieb Anders 1961 einen Text mit dem Titel «Die beweinte Zukunft», der nicht nur in seinen expliziten Bezügen – der Geschichte vom Bau der Arche Noah –, sondern auch in seinem prophetischen Ton etwas Biblisches hatte.
Vor allem aber ging es Anders schon damals um die Feststellung, dass ein entfesselter Atomkrieg in der Tat die totale Auslöschung der Menschheit bedeuten könnte und dass das Ignorieren dieser Bedrohung auf das hinausliefe, was er «Apokalypseblindheit» nannte. Mit Filmen wie Adam McKays «Don’t Look Up» (2021), in dem ein Asteroid auf die Erde zurast und es keinen zu interessieren scheint, ist dieses Phänomen heute selbst zum Stoff allgemeinen Medienkonsums geworden.
Wenn man jedoch an die milliardenschweren Prepper denkt, geht es weniger um «Apokalypseblindheit» – denn sie bereiten sich ja intensiv auf den Ernstfall vor –, sondern um ein ethisch-politisches Versagen. Soweit sie in der Verantwortung stehen, mit ihrer Macht und ihrem Einfluss auf einen gesellschaftlichen Wandel und globale Massnahmen hinzuarbeiten, die dazu beitragen, eine vernichtende Katastrophe zu verhindern oder wenigstens weniger schwerwiegend zu machen, sind sie mehr oder minder ein Totalausfall.
Die neuen Klimaaktivisten wiederum sind verständlicherweise frustriert über die scheinbare Unempfänglichkeit der Öffentlichkeit für die drohende Zerstörung und greifen deshalb auf (vergleichsweise milde) Schocktaktiken zurück – welche weniger auf konkrete Massnahmen als auf Medienaufmerksamkeit und Kontroversen abzielen. Das führt allerdings hauptsächlich zu kollektivem Kopfschütteln; eine Reaktion, die wohl kaum als erster Schritt zu einer politischen Mobilisierung verstanden werden kann – zumal es auch noch von den oft langfristigen Kämpfen derjenigen ablenkt, die längst mobilisiert sind.
All diese Phänomene laufen auf das hinaus, was man in Bezug auf den erwähnten Essay von Günther Anders den Noah-Komplex nennen könnte. Dieser Komplex betrifft das handelnde Subjekt, das sich wie Noah dem kommenden Untergang zu widersetzen sucht, und die Spannung, in der es sich dabei befindet: Wem fühlt sich dieses Subjekt verpflichtet – der Öffentlichkeit beziehungsweise dem Kollektiv oder seinem höheren Ziel – und damit letztlich wieder nur sich selbst? Bevor diese Frage zu beantworten ist, muss man sich einige Details genauer anschauen.
Protest gegen wen?
Ein normales Ereignis an einem normalen Montagmorgen in Berlin, im Januar 2023: Die Autobahnausfahrt in Richtung Wedding ist blockiert, weil sich Klimaaktivistinnen der Letzten Generation auf den Asphalt geklebt haben. Keine halbe Stunde später twittert die Berliner Verkehrsinformationszentrale, dass die Blockade aufgelöst ist und die Ausfahrt wieder benutzt werden kann. Die Veranstaltung – wie inzwischen Hunderte ähnlicher Aktionen in Deutschland und Österreich, zuletzt auch in der Schweiz seitens der Gruppe Renovate Switzerland – folgt weitgehend dem Beispiel der Gruppe Insulate Britain (der kuriose Name bezieht sich auf deren Forderung, dass bis 2025 alle britischen Sozialwohnungen und bis 2030 alle Wohnungen insgesamt wärmegedämmt sein sollen).
Die Choreografie der Gruppe, die im September 2021 mit Aktionen auf der Londoner Autobahn M25 begann, ist auch für die Demonstranten der Letzten Generation zur Routine geworden. Sie stellen sich vor die Autos und halten waagerechte orangefarbene Banner mit dem Logo der Gruppe, einem schwarzen Herz in einem roten Kreis, und Slogans wie «Was, wenn die Regierung das nicht in den Griff bekommt?» oder «Letzte Generation vor den Kipppunkten» hoch. Sie werden von Autofahrerinnen beschimpft und manchmal von der Strasse gezerrt, während sie dabei passiv und gewaltlos bleiben und dann stoisch an ihren Platz zurückkehren.
Dann rufen die Demonstranten selbst die Polizei an und teilen ihr mit, dass sie eine Blockade durchführen; rechtzeitig vor deren Eintreffen setzen sie sich hin und kleben eine Hand mit Sekundenkleber an den Boden; die Polizei kommt und löst den Kleber mit Pflanzenöl ab. In der Regel werden die Aktivistinnen mit einer Geldstrafe belegt, in einigen Fällen werden sie in Gewahrsam genommen, bevor sie sich an der nächsten Demonstration beteiligen.
«Climate Activists Occupy Greenpeace UK Headquarters – Wait, That Can’t Be Right», lautete eine Schlagzeile im Oktober 2018. Mitglieder einer neuen Gruppe namens Extinction Rebellion hatten einen Sitzstreik im Londoner Büro der Umweltorganisation Greenpeace veranstaltet und ihr vorgeworfen, angesichts der drohenden, sich beschleunigenden Erwärmung von mehr als 1,5 Grad nicht radikal genug zu sein. Abgesehen von durchgeknallten oder durchtriebenen Leugnern des Klimawandels würde niemand bestreiten, dass diese Aktivistinnen mit ihren Grundannahmen über den drohenden Klimakollaps richtig liegen. Aber es gibt ein ganzes Spektrum von Einschätzungen darüber, ob diese Formen des zivilen Ungehorsams ethisch gerechtfertigt sind.
Gewaltloser Terror?
Fest steht, dass der Versuch gemacht wird, die Aktivistinnen zu diskreditieren. Das Wort «Klimaterroristen» wurde von einer Jury an der Universität Marburg zum Unwort des Jahres 2022 erklärt, ein Titel, welcher alljährlich für einen diffamierenden oder beschönigenden Begriff in öffentlichen Debatten vergeben wird. Als im Verlauf des Jahres 2022 die Zahl der Verkehrsblockaden zunahm, war der rechtspopulistische Flügel im deutschen Parlament und in der Presse schnell dabei, die Letzte Generation mit Linksterrorismus gleichzusetzen. So forderte etwa Alexander Dobrindt, ehemaliger Verkehrsminister und Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Bundestag, in der «Bild am Sonntag» «deutlich härtere Strafen» für die Aktivisten, denn: «Die Entstehung einer Klima-RAF muss verhindert werden.» Dies heisst, dezidiert gewaltfrei agierende Aktivistinnen mit Terroristen gleichzusetzen, die zwischen den 1970er- und den frühen 1990er-Jahren 33 Morde sowie zahlreiche Geiselnahmen, Banküberfälle und Sprengstoffanschläge begangen hatten.
Offensichtlich soll mit dieser extremen Übertreibung eine billige populistische Wirkung auf verärgerte Autofahrerinnen erzielt werden (während man bei der CSU keine vergleichbare Verachtung für ähnliche Strassenblockaden verspürt, die von Landwirten mit ihren Traktoren durchgeführt werden). Denn was auch immer den Aktivistinnen vorgeworfen wird, bisher haben sich alle ihre Aktionen strikt – sogar wortwörtlich – an die Definition von zivilem Ungehorsam gehalten, die der amerikanische Philosoph John Rawls 1971 treffend formulierte als eine «öffentliche, gewaltlose, gewissenhafte und dennoch politische Handlung, die gegen das Gesetz verstösst und in der Regel mit dem Ziel erfolgt, eine Änderung des Gesetzes oder der Politik der Regierung herbeizuführen».
In der Tat ist es beeindruckend – man kann es auf Social Media sehen –, mit welcher Zurückhaltung die Demonstranten bisher auf angreifende Kontrahenten reagiert haben, etwa auf aggressive Autofahrerinnen, die versuchten, sie mit ihrem Wagen zur Seite zu drängen, indem sie langsam in sie hineinfuhren (wobei zu befürchten bleibt, dass ein solches Vorgehen irgendwann eskaliert und zu Verletzungen oder sogar Todesfällen führt).
Diejenigen, die grundsätzlich mit den Motiven der Demonstranten sympathisieren, sind sich aber dennoch uneins darüber, ob die Forderungen und Methoden die richtigen sind. Befürworterinnen scheinen davon auszugehen, dass jede Art von Störung des Alltagslebens gut ist, solange sie der Sache mediale Aufmerksamkeit verschafft – ganz unabhängig davon, ob der Protest nun Autofahrer an Stadträndern oder Kunstwerke in öffentlichen Museen betrifft.
Eine bescheidene Agenda
Aber es stellen sich Fragen. Die eigentlichen politischen Forderungen der Letzten Generation erscheinen nämlich erstaunlich prosaisch. Es geht offenbar darum, das zu fordern, was ebenso leicht zu vermitteln wie vergleichsweise leicht zu erreichen ist: zum Beispiel Tempo 100 auf deutschen Autobahnen. Ein absolutes No-Brainer-Thema. Es ist klar, dass die Einzigen, welche die Einführung eines solchen Tempolimits verhindert haben (Deutschland ist das letzte Land in Europa, in dem es keine Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen gibt), die Liberaldemokratinnen der FDP sind, Teil der herrschenden Regierungskoalition.
Bereits mitten in den Koalitionsverhandlungen Ende 2021 hatte FDP-Chef Christian Lindner bekanntlich telefonischen Kontakt mit dem Chef von Porsche (ein Vorfall, der später als #Porschegate bezeichnet wurde), und die Partei hat sich ziemlich unverhohlen als politischer Arm der deutschen Autoindustrie betätigt. Vor diesem Hintergrund erscheint es absurd, dass ein Grossteil der gewaltfreien Störungen sich nicht direkt gegen die FDP und ebendiese Autoindustrie richtet, sondern gegen die Grünen und mehrheitlich gerade nicht «besser verdienende» Berufspendler.
Die zweite grosse Forderung der Letzten Generation ist die dauerhafte Wiedereinführung des 9-Euro-Tickets, jener Monatskarte, die im Sommer 2022 in Deutschland aufgrund der drohenden Energieversorgungskrise vorübergehend ausgegeben wurde und die für den Nahverkehr und die Regionalbahn im ganzen Land galt. Angesichts der bereits erklärten Pläne der Bundesregierung und der Bundesländer, ab Mai 2023 dauerhaft ein 49-Euro-Ticket einzuführen, erscheint die Forderung allzu maximalistisch.
Auch mit der etwas teureren Variante kann ja jede der 80 Millionen Einwohnerinnen Deutschlands zu einem immer noch recht bescheidenen Preis hin und her und quer durchs Land fahren – was einen immer noch ziemlich radikalen Wandel in der Verkehrspolitik darstellt. Es soll nicht geleugnet werden, dass 40 Euro für einkommensschwache Familien einen erheblichen Unterschied darstellen (den man über Sozialleistungen ausgleichen könnte). Aber wird diese Preisdifferenz der entscheidende Weckruf sein, um die Klimakatastrophe zu verhindern?
Man hat den Eindruck, dass die Mitglieder der Letzten Generation, wie sich jüngst auch wieder bei den Protesten gegen den Braunkohle-Tagebau im nordrhein-westfälischen Lützerath bestätigte, vor allem von den mitregierenden Grünen enttäuscht sind und sie dafür beschämen wollen, dass sie Kompromisse eingehen und es nicht geschafft haben, Maximalforderungen durchzusetzen. Es ist natürlich jedermanns gutes Recht, diese Position zu vertreten. Aber besteht der beste Weg, einen wirklichen Wandel herbeizuführen, wirklich darin, diejenigen zu beschämen, die zumindest kleine Schritte in die richtige Richtung erkämpft haben?
Weisse Mittelstandskinder
Es kommt eine weitere Seltsamkeit hinzu: Die Vertreter der Letzten Generation in Deutschland sind offenbar auffallend und fast durchgängig weiss und deutsch-deutsch, also ohne Migrationshintergrund, und der Mittelschicht angehörig – dieser Eindruck entsteht zumindest, wenn man sich die Statements und Selbstdarstellungen der Gruppe auf Social Media anschaut.
Das ist insofern überraschend, als die erste Lektion in jeder Art von zeitgenössischer fortschrittlicher Politik darin besteht, dass man denen zuhören und eng mit denen zusammenarbeiten sollte, die historisch und aktuell am meisten unter den Folgen des zu bekämpfenden Unrechts leiden: in diesem Fall der klimaschädlichen, extraktiven Ausbeutung – ob sie nun die Arbeitsmigrantinnen um die Ecke betrifft, die die schlecht bezahlten Dienstleistungsjobs machen, oder die Menschen in anderen Teilen der Welt, die tatsächlich jetzt schon am stärksten und unmittelbarsten von den klimatischen Auswirkungen betroffen sind. Allerdings scheint weder das eine noch das andere auch nur im Entferntesten in die Zusammensetzung der Gruppe einbezogen worden zu sein, weder strukturell noch politisch.
Derweil sind jene Angehörigen der vorletzten Generation, die im Prinzip etwas gegen die drohende Klimakatastrophe unternehmen könnten, es aber gar nicht erst versuchen – etwa, weil sie sehr reich sind, aber auch egoistisch genug, um von einsamen Fluchten zu fantasieren –, nicht auf dem Radar der Aktivisten. Es sei denn, sie sind Spender: Der in den USA ansässige Climate Emergency Fund scheint, ähnlich wie andere Gruppen in anderen Ländern, über eine zwischengeschaltete deutsche Stiftung auch die Aktivitäten und den Lebensunterhalt der Aktivistinnen der Letzten Generation massgeblich mitzufinanzieren – nach Angaben der Letzten Generation zumindest zu einem Drittel.
Aileen Getty, Erbin eines Vermögens aus der Fossilindustrie, gibt sich stolz und öffentlich als Grossspenderin des Climate Emergency Fund zu erkennen und veröffentlichte im Oktober einen Kommentar im «Guardian» unter der Überschrift «I fund climate activism – and I applaud the Van Gogh protest»: «Meine Unterstützung des Klimaaktivismus ist eine Werteerklärung, dass disruptiver Aktivismus der schnellste Weg zu transformativem Wandel ist.» Aus dem Rest des Artikels geht nicht hervor, wie sie sich die Kausalkette vorstellt, die von der «Werteerklärung» über die Disruption (im Sinne von Unterbrechung, Störung) zum schnellen Wandel führt. Ganz zu schweigen von der Frage, wie die Tomatensuppe-auf-Van-Goghs-Sonnenblumen-Aktion, die absichtlich auf einem Unterglasgemälde ausgeführt wurde, damit kein tatsächlicher Schaden entsteht, diesen erstaunlichen Effekt haben soll.
Man hat den Eindruck, dass für die reichen Spender die Hauptbefriedigung ein Gefühl der Schuldentlastung ist, verbunden mit dem süssen Rausch, den delegiertes Heldentum offenbar hervorruft. Es verlangt den edlen Spenderinnen nichts ab ausser ein bisschen von ihrem Geld und bestärkt sie in der Fantasie, dass – genau wie im Businessjargon, an den sie gewöhnt sind – das Zauberwort «Disruption» heisst. Jene Art von Disruption à la Elon Musk also, die meist einhergeht mit einem tiefsitzenden Hass auf egalitäre Kollektivität und den (oft mühsamen) demokratischen Prozess, auf Gewerkschaften und genossenschaftliche Bündnisse.
Verschonte Milliardäre
Wenn man sich die ziemlich lange Liste der Aktionen ansieht, die Gruppen wie die Letzte Generation durchgeführt haben, indem sie Flüssigkeiten auf Kunstwerke schütteten oder sich selbst an die Rahmen oder Sockel klebten, dann konzentrierten sie sich auf berühmte Werke in grossen öffentlichen Museen wie der National Gallery in London, der Gemäldegalerie in Berlin oder den Vatikanischen Museen in Rom. Soweit dies zu überblicken ist, gibt es nur zwei Ausnahmen, bei denen die Ziele Teil von Privatmuseen von Milliardären waren.
Am 23. Oktober 2022 bewarfen zwei Aktivisten Claude Monets «Les meules» (Getreideschober, 1890) im Potsdamer Barberini-Museum mit Kartoffelbrei; sowohl das Museum als auch das millionenschwere Gemälde gehören dem Softwareunternehmer und Milliardär Hasso Plattner. Am 18. November besprühten zwei Aktivistinnen der französischen Gruppe Dernière Rénovation in Paris Charles Rays «Horse and Rider» (Reiter und Pferd, 2014), eine lebensgrosse Reiterskulptur aus Edelstahl, die im Freien direkt vor dem Eingang der Bourse de Commerce aufgestellt ist – dem Privatmuseum des Luxusgüter-Unternehmers François Pinault, dessen Vermögen auf fast 40 Milliarden Dollar geschätzt wird.
Seltsamerweise erwähnten die Aktivisten in beiden Fällen die allgemeine Dringlichkeit, etwas gegen den Klimawandel zu unternehmen – aber mit keinem Sterbenswörtchen die superreichen Besitzer dieser Orte und der darin befindlichen Kunstwerke, geschweige denn eine mit diesem Reichtum verbundene mögliche Verantwortung in Bezug auf den Klimawandel.
Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass die Milliardärinnen, die Technologie- oder Luxusunternehmen besitzen, quasi allein für den Klimawandel verantwortlich sind. Aber es ist merkwürdig, dass sie von den oben beschriebenen Formen des Aktivismus ausgenommen beziehungsweise nicht explizit adressiert werden.
Was haben sie getan, um es zu verdienen, so geschont zu werden? Vermutlich handelt es sich dabei nicht um vorauseilende Unterwürfigkeit (im Sinne von: «Wir wollen diese mächtigen Leute, die sogar potenzielle Spender sein könnten, nicht verärgern»). Sondern um eine Form von Naivität, die sich auf theatralische «Disruptionen» als Mittel konzentriert, um Aufmerksamkeit für das Gesamtproblem und ein paar einfache, naheliegende Forderungen zu erzeugen – während nicht einmal der Versuch unternommen wird, eine weiter gehende gesellschaftliche oder wirtschaftliche Analyse damit zu verknüpfen.
Vielleicht ist es aber auch nicht Naivität, sondern eine Form von Verzweiflung am Rande des Nervenzusammenbruchs: Vielleicht ist es einfach zu kompliziert, die komplexe Verbindung zwischen fossilen Industrien und der illusorischen, grüngewaschenen «Sauberkeit» der Digital-, Finanz- und Konsumgüterindustrie sowie zwischen den Industrien insgesamt und dem politischen Lobbyismus zu entwirren, jedenfalls zu kompliziert, um es einer breiteren Öffentlichkeit kurz und knapp zu vermitteln – etwa um die Besteuerung der Superreichen prägnanter zu gestalten.
All dies soll aber nicht heissen, es gebe in der Bewegung keinen Denkprozess. In einer Silvesterankündigung mit dem Titel «We quit» (Wir geben auf) erklärte Extinction Rebellion UK, dass sie sich im Jahr 2023 «vorübergehend von der Störung der Öffentlichkeit abwenden» und stattdessen «die Teilnehmerzahl gegenüber Verhaftungen und Beziehungen gegenüber Strassensperren priorisieren» werden – mit anderen Worten: zu klassischen Massenprotesten und Strassendemonstrationen übergehen werden.
Man könnte dies als einen rein taktischen Schachzug interpretieren, aber es scheint mehr zu sein: eine Anerkennung, dass man das Rad des Protests nicht neu erfinden muss, um etwas zu bewirken – dass am Ende vielleicht der Aufbau von Bewegungsstrukturen tatsächlich wichtiger ist als Strassensperren.
In jedem Fall, trotz aller Unzulänglichkeiten, ringt einem die Entschlossenheit der Aktivistinnen und ihre Bereitschaft, Opfer zu bringen, Respekt ab. Die Milliardärs-Prepper hingegen erweisen sich als untauglich, selbstbezogen auf ihre Ideale von «Disruption» und geschäftiger Gerissenheit. Sogar ihre Vorbereitungspläne erscheinen dumm – denn Rushkoff muss sie daran erinnern, dass die abgelegenen Luxusverstecke in einem Zusammenbruchsszenario schliesslich von ihren eigenen gut ausgebildeten Wächtern eingenommen werden würden, weil man deren Loyalität in einem solchen Fall nicht mehr erzwingen oder kaufen könnte. Das eigene «disruptive» Denken zu durchbrechen, ist das, was sie nicht denken können – jene Grundhaltung, die Rushkoff «The Mindset» nennt, eine technikfetischistische Weltsicht im Silicon-Valley-Stil, in der es nur Gewinner und Verliererinnen gibt, die sich nach einem endgame sehnen.
Es gibt einen Film mit Günther Anders aus dem Jahr 1987, in dem er seinen erwähnten Text «Die beweinte Zukunft» liest. In seinen einleitenden Worten sagt er, dass das Stück nie geschrieben worden wäre, wenn er nicht in einem Brief eingeladen worden wäre, etwas zu einem Reader beizutragen, der schliesslich 1964 unter dem Titel «Gegen den Tod. Stimmen deutscher Schriftsteller gegen die Atombombe» erschien. Mitherausgegeben wurde er von einer gewissen Gudrun Ensslin – sie hatte den Brief an Anders geschickt. Später war sie eine der Führerinnen der Rote-Armee-Fraktion und starb 1977 im Gefängnis von Stammheim. Aber Anfang der 1960er-Jahre war die Pfarrerstochter noch eine Musterstudentin in Tübingen, die mit ihrem Partner Bernward Vesper das Buch herausgab.
Das soll nun dezidiert nicht heissen, dass die rechten Scharfmacher, die die neuen Aktivistinnen als «Klimaterroristen» anprangern, am Ende recht haben (das wäre eine absurd konstruierte historische Parallele). Sondern es geht darum, dass politische Entschlossenheit angesichts der sich abzeichnenden Katastrophe auf verzweigte Wege führt; in Ensslins Fall war es die Berliner Demonstration von 1967, bei der Benno Ohnesorg von einem Polizisten ermordet wurde, die entscheidend dazu beitrug, dass sie zur Militanten wurde.
Aber die Militanz, die sie als Teil der Rote-Armee-Fraktion entwickelte, war von einer Art, die so isoliert wie nur denkbar war von dem, worauf sie sich rhetorisch bezog – dem Guerillakrieg der nationalen Befreiungsbewegungen in Südamerika, Afrika, Asien. Die RAF-Mitglieder waren keine Fische im Wasser, sondern «sechs gegen sechzig Millionen», wie es Heinrich Böll einmal formulierte. Und heute dürfte die Lehre aus dem moralischen und politischen Versagen des historischen Linksterrorismus erheblich, wenn nicht entscheidend dazu beitragen, dass die Aktivisten entschlossen sind, weiterhin im Rahmen des gewaltlosen zivilen Widerstands zu agieren.
Noah und die Einsamkeit
Doch Anders’ «Die beweinte Zukunft» hält noch eine weitere Lektion bereit. Er verändert und verschiebt die biblische Geschichte von Noah erheblich. In Anders’ Version plant Noah zunächst den Bau einer Flotte von hundert Archen, zerreisst aber frustriert die Baupläne, als er feststellt, dass es ihm nicht gelungen ist, einen einzigen seiner Mitmenschen davon zu überzeugen, dass die Flut tatsächlich kommen wird. Kühn beschliesst er, in Sack und Asche zu gehen und öffentlich zu zeigen, dass er trauert – ein schweres Sakrileg, da niemand, der ihm nahesteht, tatsächlich gestorben ist.
Als sich zahlreiche Menschen um ihn versammeln und ihn über seinen Verlust ausfragen, erzählt er ihnen schliesslich, dass er ihren nicht mehr fernen Tod betrauert: Niemand werde die Flut überleben, niemand werde übrig bleiben, um das Trauerritual zu vollziehen. Diesmal hat sein theatralischer Auftritt zumindest auf einige seiner Zuhörer eine Wirkung, und ein paar schliessen sich ihm an, um zumindest eine Arche zu bauen.
Es ist, als ob Anders’ Text – ein Gleichnis auf den atomaren Weltkrieg – auch in Bezug auf die Klimakrise lesbar bleibt, obschon die grosse Katastrophe im letzteren Fall nicht ein einzelnes, schlagartiges Gesamtereignis ist (die Flut, der nukleare Overkill), sondern ein zunehmend chaotischer Cluster von getrennt erscheinenden, aber komplex miteinander verbundenen Ereignissen, die wissenschaftlich erfasst, prognostiziert und bewertet werden können. Das Gleichnis erzählt davon, wie in Noahs Figur die Ideen des kollektiven Aktivismus und der einsamen Flucht, der Verzweiflung angesichts der apokalyptischen Zerstörung und der Entschlossenheit, dennoch am Überleben zu arbeiten, ineinandergreifen.
Das ist der Noah-Komplex: die Sehnsucht nach der Überwindung dieser Spaltung zwischen sauberen Fluchtfantasien und dem chaotischen Aufbau sozialer Koalitionen.
Die Parabel von Günther Anders scheint zu sagen: Wir können es uns nicht leisten, auf das Erwachen eines universellen Verantwortungsgefühls fürs menschliche Kollektiv zu warten. Aber wir können auch nicht zulassen, dass isolierte Fluchtfantasien unkritisch hingenommen werden. Das schwierige Geschäft der zahlreichen und parallel stattfindenden, mal radikalen, mal pragmatischen Verhandlungen über systemische Veränderungen von Wirtschaft und Gesellschaft muss jetzt beginnen.
Jörg Heiser ist Direktor des Instituts für Kunst im Kontext der Universität der Künste in Berlin. Er war knapp zwanzig Jahre lang Redaktor der britischen Kunstzeitschrift «Frieze».