Ständige Überwachung und Verfolgung als neue Normalität
Wie Google sich das Internet aneignete, wie es uns ausspioniert und damit jedes Jahr Hunderte Milliarden verdient. Und wie Google auch in der Schweiz zum Machtfaktor wurde. «Do not feed the Google», Auftakt.
Von Daniel Ryser und Ramona Sprenger, 14.01.2023
Sie brauchen noch nicht einmal zu tippen. Wir wissen, wo Sie sind. Wir wissen, wo Sie waren. Und wir wissen mehr oder weniger, was Sie gerade denken.
2022 verhängte Margrethe Vestager, EU-Wettbewerbskommissarin und «Googles schlimmster Albtraum», gegen Google die höchste Busse, die jemals gegen ein Unternehmen ausgesprochen wurde: 4,1 Milliarden Euro wegen Verstössen im Kartellrecht. Zu diesen 4,1 Milliarden hinzu kommt noch eine 2,4-Milliarden-Euro-Strafe, die 2021 von EU-Richtern bestätigt wurde.
Im Vereinigten Königreich und in der EU ist eine weitere Klage hängig gegen Google: Es geht um 25 Milliarden Euro, ebenfalls wegen Verstössen im Kartellrecht.
Im US-Senat wollen Republikaner und Demokraten in seltener Einigkeit Google mit einem Gesetz zwingen, seinen Geschäftsbereich digitales Marketing zu verkaufen, von dem der Plattformdienst gemeinsam mit Facebook-Mutter Meta mehr als die Hälfte des weltweiten Marktes kontrolliert.
Im Juni 2021 wurde die Rechtsprofessorin Lina Kahn von US-Präsident Joe Biden zur Vorsitzenden der Federal Trade Commission ernannt – sie war vom Senat mit grosser, überparteilicher Mehrheit gewählt worden: weil sie Big Tech zerschlagen will.
Im November 2022 traten zwei EU-Gesetze in Kraft, die im Frühling 2023 vollzogen werden: das Gesetz über die digitalen Märkte sowie das Gesetz über die digitalen Dienste, welche die Monopolmacht angreifen von Google beziehungsweise dem Gesamtkonzern Alphabet und der vier anderen dominanten Internetgiganten – also Meta, Apple, Amazon und Microsoft.
Anfang Januar 2023 fällte die zuständige EU-Aufsichtsbehörde ein Urteil gegen Meta, das den Konzern im Kerngeschäft trifft (und sich genauso gut gegen Google hätte richten können): Die Strafe in Höhe von 385 Millionen Euro mag auf den ersten Blick für einen Milliardenkonzern gering wirken, doch die damit verbundenen Folgen sind es nicht: Facebook darf die Nutzenden in Europa nicht mehr von seinen Diensten ausschliessen, wenn diese es ablehnen, dass ihre persönlichen Daten für personalisierte Werbung genutzt werden.
Dabei geht es in der EU und in den USA immer stärker darum, Googles zentrales Geschäftsmodell einzugrenzen oder zu verbieten: das Ad Tracking, mit dem der Konzern den grössten Teil seines Umsatzes erzielt: 2022 verdiente das viertwertvollste Unternehmen der Welt mit Werbung im Internet voraussichtlich 171 Milliarden Dollar, der Gesamtumsatz des Dachunternehmens Alphabet betrug 2021 258 Milliarden Dollar.
Serie «Do not feed the Google»
Der diskrete Überwachungsgigant: Wir zeichnen nach, wie der Google-Konzern zur Bedrohung für die Demokratie wurde – und die Schweiz zu seinem wichtigsten Standort ausserhalb des Silicon Valley. Gespräche mit Internet-Expertinnen aus den USA, den Niederlanden, Deutschland und Kanada. Zur Übersicht.
Sie lesen: Auftakt
Ständige Überwachung und Verfolgung als neue Normalität
Folge 2
Vom ungehinderten Aufstieg zum Monopol
Folge 3
Die Entzauberung von Google
Folge 4
Wenn ethische Werte nur ein Feigenblatt sind
Folge 5
Half Google, einen Schweizer auszuspionieren?
Folge 6
Auf dem Roboterpferd in die Schlacht
Folge 7
Gewinne maximieren, bis sie weg sind
Folge 8
Google und die Schweiz – eine Liebesgeschichte
Folge 9
Google im rot-grünen Steuerparadies
Folge 10
Inside Google Schweiz
Bonus-Folge
Podcast: Warum sind alle so verschwiegen?
Andererseits geht es der EU und den USA auch darum, die Monopole von Big Tech zu regulieren oder sogar zu zerschlagen. Die grossen Tech-Unternehmen, die die Betreiber der Plattformen sind und gleichzeitig dort Produkte und Services anbieten – und somit praktisch das ganze Internet und den dortigen Werbemarkt kontrollieren. Bei den sich häufenden Meldungen über Rekordstrafen und neue Gesetze, die Big Tech regulieren wollen, geht es letztlich darum, das Internet, das zu einem riesigen Überwachungswerkzeug geworden ist, neu aufzustellen – so unvorstellbar das inzwischen erscheinen mag, wo «googeln» selbstverständlich zum Synonym für «suchen im Internet» geworden ist und im Duden Aufnahme gefunden hat.
Vieles ist in Bewegung.
«Schürfrechte am Leben»
«Dark Google» – so nannte die Harvard-Professorin Shoshana Zuboff 2014 das, was damals vor allem als bunte Suchmaschine bekannt war. In einem wegweisenden Essay, «Schürfrechte am Leben», gab die Wirtschaftswissenschaftlerin, die bereits in den Siebzigern zum Thema Informationstechnologie publizierte, dem Google-Geschäftsmodell einen Namen: Überwachungskapitalismus.
Ein Jahr nach den Enthüllungen durch den Whistleblower Edward Snowden schrieb Zuboff, das Unternehmen habe den Überwachungskapitalismus «erfunden und perfektioniert», so «wie General Motors den Managementkapitalismus erfunden und zur Vollendung gebracht hat». Somit seien wir in eine neue Phase des Kapitalismus eingetreten, die auf der massenhaften digitalen Überwachung von Nutzenden basiere.
Google finanziert sich über Werbung, und Nutzerdaten seien die Währung im Anzeigengeschäft, schreibt Zuboff. Um an diese Daten zu kommen, habe Google eine gänzlich neue Geschäftslogik entwickelt, die auf versteckter Überwachung basiere: «Die meisten Menschen bemerkten gar nicht, dass sie und ihre Freunde nun ohne ihr Wissen oder ihre Zustimmung in ihren Aktivitäten verfolgt, analysiert und ausgekundschaftet wurden.»
«Ein neues Reich», so Zuboff, «dessen Stärke auf einer ganz anderen Art von Macht basiert – allgegenwärtig, verborgen und keiner Rechenschaft pflichtig.»
Die Internetgiganten nämlich seien in den neuen, öffentlichen, vernetzten und nicht regulierten Raum vorgedrungen und hätten, getrieben von Profitgier, eine nie gesehene Datensammelwut entwickelt. Und damit hätten sie die Topografie des Cyberspace verändert. Das Recht auf Privatsphäre sei dabei nicht ausgehöhlt, sondern von Google gänzlich aufgehoben worden: «Sie haben (die Daten) einfach als etwas deklariert, das sie nehmen durften – indem sie es genommen haben.»
Was ist von all dem in der Schweiz angekommen?
Hier hat Google in den letzten Jahren leise den grössten Standort ausserhalb von Kalifornien aufgebaut. Und viel mehr als das weiss man eigentlich nicht. Auch die massive Kritik am Konzern ist hierzulande noch nicht angekommen. Stattdessen wird Google hofiert, die Präsenz des Konzerns gilt als wichtiger Standortfaktor. Während unserer Recherche merkten wir bald: Kritische Fragen zu Google verbitten sich die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung.
Mit dieser Serie zeichnen wir nach, wie die Liebesbeziehung zwischen der Schweiz und Google entstanden ist. Wie Google in die Schweiz kam, wie das Unternehmen hier lobbyiert und wie die Politik den Konzern mit offenen Armen empfing.
Zuerst einmal aber zeigen wir mithilfe von Expertinnen und Experten aus den USA, Holland, Deutschland und Kanada auf, was Google eigentlich wirklich ist – abgesehen von einer Suchmaschine und Büros mit Rutschbahnen. Wir zeichnen nach, wie dieser US-Konzern uns sekündlich analysiert und vermisst, wie er Dossiers über uns anlegt, wie er unsere Daten in die USA transferiert, wo die US-Geheimdienste darauf Zugriff haben. Wie er mit dem Geschäftsmodell der Überwachung jedes Jahr Hunderte Milliarden Dollar umsetzt und diese Milliarden dann mit Steuertricks auf die Bermudas transferiert.
Im umfassenden Werk der Harvard-Wissenschaftlerin Shoshana Zuboff zum Überwachungskapitalismus lautet eine zentrale Schlussfolgerung, dass wir eine Wahl treffen müssten: Demokratie oder Überwachungsgesellschaft, beides könnten wir nicht haben. So schrieb es die grosse Google-Expertin im Januar 2021 in einem Essay in der «New York Times» mit dem Titel «The Coup We Are Not Talking About» («Der Staatsstreich, über den wir nicht sprechen»). «Eine demokratische Überwachungsgesellschaft», so Zuboff, «ist eine grundlegende und politische Unmöglichkeit.»
Zur Serie «Do not feed the Google» und zur Co-Autorin
Diese Serie ist eine Zusammenarbeit zwischen der Republik, dem Dezentrum und dem WAV. Das Dezentrum ist ein Think & Do Tank für Digitalisierung und Gesellschaft. Hinter dem Dezentrum steht ein öffentlicher, gemeinnütziger Verein. Das WAV ist ein unabhängiges Recherchekollektiv aus Zürich.
Ramona Sprenger ist Interaction Designerin aus Zürich. Als Partnerin bei Dezentrum engagiert sie sich für eine nachhaltige Digitalisierung, bei der die Gesellschaft im Mittelpunkt steht. Aktuell arbeitet sie für TA-Swiss an einer Publikation zu Blockchain und Kultur und baut mit Climate Ticker eine Plattform für offene, lokale Klimadaten und lokalpolitische Massnahmen auf.