Für einen Journalismus, der in der Klimakrise einen Unterschied macht
Seit 50 Jahren berichten die Medien über die Klimakrise. Heute ist es höchste Zeit, dass der Journalismus nicht bloss apokalyptische Szenarien zeichnet oder verharmlost, sondern zu vernünftigen Entscheiden ermächtigt.
Von Elia Blülle, 10.01.2023
Ist Ihnen schon einmal eine Flasche Olivenöl aus den Fingern gerutscht?
Wenn ja, dann kennen Sie das Gefühl der Verzweiflung, das einen überfällt, wenn man mitten in einer wachsenden Öllache steht – womöglich barfuss – und sich fragt: Womit habe ich das bloss verdient?
Die Küche wird plötzlich ganz gross, die Glasscherben wachsen zu unüberwindbaren, bedrohlichen Fallen, das Öl sickert in die kleinsten Ritzen. Kontrollverlust. Ein Gemütszustand, der normalerweise ein paar Augenblicke anhält, vielleicht wenige Minuten, bis er abflacht, die Küche wieder schrumpft und einem jene Worte durch den Kopf gehen, die allen grossen menschlichen Errungenschaften irgendwann vorausgegangen sind: Was tun?
Sie bringen sich zuerst vor den scharfen Scherben in Sicherheit, analysieren die Lage, kehren das Glas zusammen, tupfen das Öl auf, säubern Ecken und Ritzen, wischen den Boden – und nach 20 Minuten ist der Schlamassel vorbei. Zufriedenheit ersetzt die Panik. Nicht nur haben Sie das Unglück überwunden, sondern Sie haben auch die Küche geputzt und jene Ecken gereinigt, die Sie beim Saubermachen jeweils einfach deswegen übergehen, weil sie so verdammt schwierig zu erreichen sind.
Diese kleine persönliche Krise hat dazu geführt, dass Ihr Zuhause nun in einem besseren Zustand ist als davor.
Bei der Klimakrise sind wir von diesem Szenario noch weit entfernt.
Im noch jungen Jahr 2023 wurden bereits wieder Tausende Klimarekorde übertroffen. Am Neujahrstag verzeichneten sieben europäische Länder ihre wärmsten Januartemperaturen, seit Temperaturen offiziell gemessen werden. In der Schweiz mussten zahlreiche Skigebiete ihre Pisten schliessen. Und selbst in hohen Lagen halten nur noch schmale Kunstschneestreifen den Wintersportbetrieb eingeschränkt am Leben.
Je mehr Treibhausgase wir in die Luft blasen, desto häufiger und umso heftiger wird der Schlitten im Gras stecken bleiben. Es wird künftig noch einmal deutlich weniger schneien, die Nullgradgrenze klettert in die Höhe. Längerfristig wird das vielerorts das Ende für den klassischen Wintertourismus bedeuten. Und das ist noch das geringste Problem: Die Wassermenge für die Stauseen wird sinken, damit auch die für den Winter so wichtige Stromproduktion.
Ausserdem erhöht wenig Schneefall die Wahrscheinlichkeit von extremen Dürren im darauffolgenden Sommer noch einmal signifikant. Und was das bedeutet, hat das letzte Jahr gezeigt. Der Rhein führte so wenig Wasser, dass die Versorgungssicherheit der Schweiz teilweise gefährdet war. Andere Flüsse und Bäche wurden so warm, dass einige Kantone ganze Gewässer notfallmässig abfischten, um die Tiere zu retten.
In Indien fielen 2022 wegen der enormen Sommerhitze Vögel tot vom Himmel, und in Pakistan verwandelten Fluten ganze Dörfer in Seen und Flüsse. Ein Drittel des Landes stand unter Wasser. 33 Millionen Menschen mussten ihr Zuhause verlassen. Über 1700 Personen wurden getötet.
Das ist nicht einfach die neue Normalität, sondern erst die Startrampe. Gesunde Böden, schier unendliche Mengen an sauberem Süsswasser, ein stabiles Klima und billige Energie haben uns historischen Reichtum beschert und bewirkt, dass die allermeisten Menschen fast überall auf diesem Planeten unter besseren Bedingungen leben als noch vor einem halben Jahrhundert.
Jetzt erleben wir in Echtzeit, was passiert, wenn diese Pfeiler kollabieren: Energie teurer, Süsswasser knapp, das Klima und die Böden instabil werden.
Wer den neusten Bericht des Weltklimarates IPCC oder auch nur seine kürzeste Zusammenfassung liest, wird bemerken: Die Klimakrise – eng verbunden mit dem von der Menschheit verursachten Massenaussterben – hat fast alle unsere Lebensbereiche erfasst. Denn letztlich – und das wird in den politisch aufgeladenen Debatten immer wieder vergessen – folgt die Krise physikalischen Gesetzmässigkeiten: Die Wissenschaft kann zwar nicht exakt, aber relativ genau voraussagen, wie sich das Klima verändern wird – so wie sie auch die Flugbahn eines Fussballs berechnen oder mit Raketen ein Fahrzeug auf den 70 Millionen Kilometer entfernten Mars transportieren kann.
Die Klimakrise ist Gewissheit, denn der Temperaturanstieg ist so etwas wie eine Leitschnur in die Zukunft, an der wir wie mit Handschellen angekettet sind. Wir bewegen uns auf eine menschenfeindliche Wirklichkeit zu, die nicht ideologisch oder abergläubisch konstruiert, sondern rechnerisch vorhersehbar ist. Das gab es in der Geschichte noch nie.
Die physikalische Gewissheit des Temperaturanstiegs kann man leugnen, verdrängen, kleinreden – aber letztlich ändert das alles nichts am Umstand, dass die Klimakrise Realität ist. Akzeptiert man diese Realität mit allen drohenden Konsequenzen und vielfachen Auswirkungen – schmelzende Pole, steigende Meeresspiegel, tote Korallenriffe –, drängt sich eine düstere Erkenntnis auf: Dieser ökologische Schlamassel kann nur noch mit gigantischen Anstrengungen eingedämmt werden.
Wie bei der zerschellten Olivenölflasche in der Küche stellt sich Kontrollverlust ein – nicht nur wenige Minuten, sondern als Dauerzustand.
Und das macht die Klimakrise auch zu einer Krise für den Journalismus.
Einerseits hat es der Journalismus während 50 Jahren nicht geschafft, die Dringlichkeit zu vermitteln. Und anderseits wenden sich jetzt, wo die Folgen der Klimaerwärmung konkreter werden, viele Menschen von der medialen Berichterstattung ab. Nicht weil sie faul oder ignorant sind, sondern vor allem aus Selbstschutz. Wieso soll ich mir jeden Morgen alle schlechten Meldungen dieser Welt einflössen, wenn ich mich danach hilflos fühle? Wenn sich Kontrollverlust, Hilflosigkeit, Ohnmacht und Verzweiflung einschleichen?
Die Philosophin Hannah Arendt hat sich ihr ganzes Leben damit beschäftigt und gefragt, was Politik ist und wieso Menschen so sind, wie sie sind. Arendt sah in der Handlung die einzigartige Eigenschaft menschlichen Daseins. Handlung ermächtigt uns, als politische Wesen gemeinsam unsere Lebensbedingungen zu verändern. Arendts These: Diese Art von Selbstwirksamkeit ist eine Quelle für das Glück, nach dem wir alle streben.
Und so verwundert es auch nicht, dass sich allen, die sich dafür entschieden haben, den Ernst der Lage zu akzeptieren, die Frage aufdrängt: Was ist zu tun? Als Bürgerin, Bürger, als Vater oder Mutter, als Konsumentin, als einer von über 8 Milliarden Menschen, die auf diesem Planeten leben?
Die Frage ist einfach und gleichzeitig nur sehr schwierig zu beantworten.
Einerseits ist klar, dass fossile Brennstoffe als Hauptursache für die Krise im Boden bleiben, dass wir Alternativen zur bisherigen Energieerzeugung finden müssen – und dass das nur dann gelingen kann, wenn sich die Akteure mit struktureller, politischer und wirtschaftlicher Macht zusammenraufen.
Die Rezepte liegen alle in der Schublade, man müsste sie nur öffnen.
Allerdings – und das ist wichtig – reicht das allein noch nicht. So hält das auch der neuste wissenschaftliche Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC fest, dessen dritter Teil im vergangenen Frühling veröffentlicht wurde. Die Klimakrise hat technische, soziale, kulturelle, ökologische, ökonomische und politische Komponenten, die ineinandergreifen, voneinander abhängig sind und sich verstärken. In all diesen Dimensionen braucht es Veränderungen – und alle können dazu bereits heute etwas beitragen.
Es bleibt die Aufgabe des Journalismus, Kritik an der Macht zu üben, staatliches Handeln zu kontrollieren, die Wirklichkeit mit all ihren Facetten abzubilden – aber der Journalismus muss sich auch fragen, wie Menschen neben den teilweise apokalyptisch anmutenden Zukunftsaussichten ihre Selbstwirksamkeit behalten können, um vernünftige Entscheidungen zu treffen. Für Demokratien ist das überlebenswichtig: Denn wieso sollten Menschen abstimmen, wählen und sich an der Zivilgesellschaft beteiligen, wenn sie glauben, dass ihre Taten und Stimmen keinen Unterschied machen?
«Wir befinden uns im Kampf unseres Lebens, und wir verlieren», sagte Uno-Chef António Guterres an der vergangenen Weltklimakonferenz in Ägypten. «Die Treibhausgasemissionen nehmen zu, die globalen Temperaturen steigen, unser Planet nähert sich Kipppunkten, die das Klimachaos unumkehrbar machen werden.»
In den kommenden Jahrzehnten wird man wieder und wieder fragen: Was habt ihr gemacht in den 2020er-Jahren? Worauf habt ihr gewartet?