Strassberg

Über den Gemeinspruch: Man dürfe die Hoffnung nicht verlieren

Falsche Illusionen soll man sich nicht machen. Aber es gibt immer die Möglichkeit, zu sagen: So nicht!

Von Daniel Strassberg, 27.12.2022

Vorgelesen von Miriam Japp
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Kennen Sie die Situation? Sie wollen einen kurzen Abend­spaziergang machen, doch schon nach der ersten Weg­gabelung stellt sich Ihnen ein kleiner schwarz-weiss gefleckter Kläffer in den Weg. Er bellt furcht­einflössend und fletscht, den Schwanz zwischen die Hinter­läufe geklemmt, die kleinen spitzen Zähne. Wenige Meter hinter dem Hund unterhält sich die Besitzerin über den Zaun mit der Nachbarin. Längst hat Sie bemerkt, dass Sie sich vor Angst gelähmt nicht mehr bewegen können. Sie wartet noch ein wenig, bis sie mit einem leisen, spöttischen Lächeln in den Mund­winkeln ruft: «Sie müend kei Angscht haa, er will nur spile!»

Erinnern Sie sich noch, was Sie da gedacht haben? (Man will es lieber gar nicht wissen.) Jedenfalls ergeht es mir ähnlich, wenn mir in Gesprächen mit Freunden oder in den Kommentar­spalten dieser Zeitung beschieden wird, ich (oder man) dürfe die Hoffnung nicht verlieren. Dass man die Hoffnung nicht verlieren dürfe, die Hoffnung zuletzt sterbe und es die vornehmste Pflicht des Freundes oder der Freundin sei, Hoffnung zu spenden, ist eine dieser Kalenderspruch­weisheiten, die ohne nachzudenken nach­geplappert werden.

Doch Hoffnung ist wie die Angst ein Gefühl, das sich unter bestimmten Umständen einstellt – oder eben auch nicht. Weder kann man die Angst weg- noch die Hoffnung heran­befehlen. Schon als ich noch im Spital in der Abteilung für Innere Medizin arbeitete und täglich mit Patientinnen im terminalen Stadium konfrontiert war, konnte ich diesen bedingungs­losen Glauben an die Kraft der Hoffnung nur als Aufruf zum Selbst­betrug verstehen.

Immanuel Kant machte sich einen Spass draus, gewisse dieser Kalender­weisheiten kritisch zu analysieren. So schrieb er 1793 eine Abhandlung mit dem Titel: «Über den Gemein­spruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis».

Leider ist er zu Leb­zeiten nicht dazu gekommen, den Gemein­spruch, man dürfe die Hoffnung nicht verlieren, zu sezieren. So versuche ich nun, dies mit allem nötigen Respekt nachzuholen.

Baruch de Spinoza hat die Problematik der Hoffnung deutlich gesehen. Im dritten Buch der Ethik definiert er Hoffnung etwas buchhalterisch so:

Hoffnung ist unbeständige Lust, entsprungen aus der Idee einer zukünftigen oder vergangenen Sache, über deren Ausgang wir in gewisser Hinsicht im Zweifel sind.

Furcht ist unbeständige Unlust, entsprungen aus der Idee einer zukünftigen oder vergangenen Sache, über deren Ausgang wir in gewisser Hinsicht im Zweifel sind.

Verzweiflung ist Unlust, entsprungen aus der Idee eines zukünftigen oder vergangenen Dinges, bei welchem die Ursache des Zweifelns geschwunden ist.

Baruch de Spinoza: «Ethik». III. Buch Def. 12–15.

Hoffnung ist immer mit Zweifel verbunden. Etwas, wovon wir hoffen, dass es eintritt, kann eben auch nicht eintreten – sonst wäre es keine Hoffnung. Wegen der Zweifel muss jede Hoffnung auch ein Quäntchen Furcht enthalten. Wenn nun diese Zweifel wegfallen, argumentiert Spinoza, kippt die Hoffnung in Verzweiflung – nicht etwa, weil wir wissen, dass das Erhoffte eintritt, sondern weil wir wissen, dass es nicht eintreten kann. Unter dem gequälten Lächeln der mantra­artig wiederholten Hoffnung haben sich längst Erschöpfung und Über­druss breitgemacht. Niemand will die Erste sein, die aufgibt, bis es einfach nicht mehr geht und sich die Verzweiflung Bahn bricht. Um der Verzweiflung vorzubeugen, hat die Kirche listiger­weise alle Hoffnungen ins Jenseits verschoben.

Zur Illustration ein Beispiel, das ich der Sendung «Echo der Zeit» des Radios SRF entnehme: Kürzlich wurde an der Biodiversitäts­konferenz in Montreal mit Unterstützung der Schweiz die 30/30-Initiative verhandelt: Bis ins Jahr 2030 sollen weltweit 30 Prozent der Meere und 30 Prozent des Bodens zugunsten der Biodiversität geschützt werden. In der Schweiz müssten demnach in den nächsten acht Jahren, je nach Rechnung, zwischen 6600 und 9900 Quadrat­kilometer neu geschützt werden.

Die erste Reaktion des Bundes war nun nicht, wie man erwarten könnte, eine Anfrage an die Kantone, welche Gebiete dafür infrage kämen – sondern eine Anfrage, welche Gebiete man schon heute als geschützt betrachten könnte. Wenn das keine Aufforderung zum Betrug war, so mindestens eine zur Schönung der Statistik. Anders gesagt: Man suchte schon einen Weg, die Beschlüsse der Montreal-Konferenz zu umgehen, bevor sie überhaupt gefasst worden sind.

Wer da noch Hoffnung hat, ist nicht nur naiv. Er riskiert auch, in umso tiefere Resignation und Verzweiflung zu stürzen.

Vorgegebene Ziele nie zu erreichen, zermürbt und ermüdet jede und jeden. Dennoch ist der Gemein­spruch, dass man die Hoffnung nicht verlieren dürfe, verständlich. Allzu leicht liesse sich aus dem Plädoyer gegen die Hoffnung Lethargie ableiten. Doch Dantes Losung über dem Eingang zur Hölle, «lasciate ogni speranza» (lasst alle Hoffnung fahren), ist keine Aufforderung zur Resignation, sondern lediglich zur Illusions­losigkeit, und dient somit der Prävention der Verzweiflung.

Am 25. November 2022, beim Abschluss der Weltarten­konferenz ergoss sich die ganze Häme jener, die noch vom Untergang des Planeten profitieren, über diejenigen, die nicht ganz aufgegeben haben. Eric Gujer, der Chef­redaktor der alten Tante von der Falken­strasse, schrieb:

Linke Symbolpolitik hilft weder dem Klima noch der Gender-Gerechtigkeit. Wer kein Fleisch isst, rettet den Planeten. Wer mit Sternchen schreibt, tut etwas für die Gleichberechtigung. Beides ist Unsinn. Ersatzhandlungen bewirken nichts. Sie geben nur ein gutes Gefühl.

Nur? Gujer unterschätzt die Macht des guten Gefühls. Natürlich retten die, die kein Fleisch essen, sich für solidarische Land­wirtschaft einsetzen, auf Ferien auf den Bahamas verzichten, in der Freizeit Tag und Nacht für die Rettung eines Hoch­moors arbeiten, sich gegen die Grausamkeit im Schweizer Asyl­wesen auflehnen, den Planeten nicht. Aber sie verleihen einer Haltung Ausdruck, die man nicht klein­reden sollte: «Ich will so nicht leben.»

Walter Benjamin, dieser eigenartige messianische Marxist, der sich 1940 auf der Flucht vor den Nazis an der französisch-spanischen Grenze das Leben genommen hat, deutet diese Haltung in das Bild «Angelus Novus» von Paul Klee hinein:

Paul Klee: «Angelus Novus», 1920, aquarellierte Zeichnung auf Papier. Gift of Fania and Gershom Scholem, Jerusalem; John Herring, Marlene and Paul Herring, Jo Carole and Ronald Lauder, New York. Photo (c) The Israel Museum, Jerusalem, by Elie Posner.

Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heisst. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind aufgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füsse schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schliessen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmer­haufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

Walter Benjamin, «Über den Begriff der Geschichte». GS I.2, S. 697 f.

Der Engel der Geschichte schaut nicht in die Zukunft. Das ist der entscheidende Punkt. Er hat kein Ziel vor Augen und braucht deshalb auch keine Hoffnung zu haben, das Zerschlagene wieder zusammen­fügen zu müssen oder zu können. Benjamins Messianismus ist ohne Utopie, es ist ein Messianismus des «So nicht». Einzig der Wille, den Trümmern zu entfliehen, die wir und die Generationen davor hinterlassen haben, soll uns treiben. «Ich will nicht mitmachen, ich will keine Komplizin sein», ist die einzige Maxime dieses Lebens.

Lassen Sie sich auf keinen Fall dazu verleiten, dieses «So» mit Inhalt zu füllen. Wer sich darauf einlässt, sich auf Ziele fest­zulegen, hat schon verloren. Denn die Ziele der Gegner zu verlachen und sie sich zugleich blank­gescheuert zu eigen zu machen, ist das Erfolgs­rezept des Kapitalismus: Ohne Diversity, Gender­gerechtigkeit und Nach­haltigkeit kommt heute nicht einmal eine Werbe­kampagne für Haargel aus. Es gibt keinen gesellschaftlichen Fort­schritt, keine Hoffnung, die nicht sofort kapitalisiert würde.

Der einzige Wider­stand, der sich nicht vereinnahmen lässt, ist die Heiterkeit des «So nicht» und zwar jetzt.

Illustration: Alex Solman