Meine Tochter taufen lassen
Ich wünsche meiner Tochter eine positive Erfahrung mit dem Glauben und dachte, der Anfang dafür ist ihre Taufe. Doch mir wurde klar, das wäre der falsche Schritt. Serie zu einem Jahr ohne Gewissheiten.
Von Karen Merkel (Text), Taiyo Onorato und Nico Krebs (Bild), 27.12.2022
Wenn mein Mann und ich uns den wichtigen Fragen des Lebens stellen, ist das Gespräch oft kurz. Als wir uns einige Wochen kannten, fragte einer den anderen:
«Willst du eigentlich Kinder?»
Die Antwort kam ohne Stocken: «Ja, bitte.»
Drei Jahre später war unsere Tochter geboren. Der Anlass zu zahlreichen weiteren, kurzen Gesprächen. Heiraten? Ja, den Steuern zum Trotz. Babymonate? Ich sechs, er einen (so viel, wie der Arbeitgeber ihm erlaubte). Arbeiten und Haushalt? Beide jeweils 50:50, ernst gemeint.
Was gesagt wurde, galt. Bis auf ein Thema, bei dem wir unseren Dialog alle paar Monate wiederholen.
«Lassen wir sie eigentlich taufen?»
Die Antwort war stets in etwa: «Vielleicht im Berner Münster, da bin ich auch getauft worden.»
Ich schob unsere Unentschlossenheit auf die aufreibenden Babymonate, die Pandemie, schliesslich das Leben. Doch wenn Freunde mit ihren Kindern ohne Federlesens Taufe feierten, beschlichen mich Zweifel. Waren wir wirklich nur zu beschäftigt?
In Europa ist Krieg. In den USA verlieren Frauen das Grundrecht auf Abtreibung. Die Teuerung spielt verrückt. Die Energie wird knapp. 2022 hat viele scheinbare Gewissheiten auf die Probe gestellt. Auch bei der Republik-Crew.
Im Format «Ich hab mich getäuscht» erzählen wir Ihnen davon. Und vielleicht finden Sie sich in der einen oder anderen Geschichte selbst wieder. Und wenn Sie mögen: Erzählen Sie uns und der Community, wo Sie dieses Jahr eine Überzeugung loslassen, eine Meinung ändern, einen Irrtum eingestehen mussten. Irren ist schliesslich menschlich. Und Scheuklappen sind für Pferde.
Die Bilder zur Serie stammen vom Zürcher Künstlerduo Taiyo Onorato und Nico Krebs, die in ihrer Fotografie den Blick auch immer wieder auf Skurriles richten.
Plötzlich ist meine Tochter fast vier. Getauft ist sie nicht. In den vergangenen Monaten musste ich mir eingestehen: Ich kann mich zu einer Taufe meiner Tochter schlicht nicht durchringen.
Damit bin ich beileibe nicht allein. In der Schweiz beläuft sich der Anteil der Reformierten und Katholiken auf zusammen 56 Prozent. In Deutschland waren 2022 sogar weniger als die Hälfte der Menschen Mitglied in einer der grossen christlichen Kirchen, das erste Mal seit Jahrhunderten. Man könnte also meinen: Who cares? Was spielt es heute noch für eine Rolle, ob wir unser Kind taufen lassen?
Doch ich bin alles andere als gleichgültig in dieser Frage. Gute Erinnerungen sind tief verwurzelt. Bei frühen Kirchenbesuchen erhellte die Sonne durch hohe Fenster einen weiten, weissen Altarraum. Staub flirrte. Die beste Freundin meiner Mutter teilte ihr Gesangsbuch mit mir, und ich sehnte mich danach, so selbstverständlich wie sie die Texte zu entziffern. Als ich dann lesen konnte, sang ich jahrelang im Kirchenchor.
Es war mir auch ernst mit meiner Konfirmation. Obwohl sie regelmässige Gottesdienstbesuche bei einem Pastor bedeutete, der sich in seinen Predigten über die ungläubige, verdorbene Menschheit ereiferte. Um meine Volljährigkeit herum drohte mir eine Zeit lang alles zu entgleiten. Da sprach ausgerechnet dieser selbstgerechte Gottesdiener einen Satz, der mir bis heute ein Anker ist:
«Gott kümmert es nicht, ob ihr entscheidet, dass es ihn gibt.»
Ja, pathetisch. Aber in diesem Satz steckt eine Unerschütterlichkeit, die mir enorme Entlastung verschaffte. Ich quälte mich mit den grossen Fragen nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest. (Sie wissen schon.) Es war eine Erleichterung, dass es eine feste höhere Instanz gibt, die ich nicht zu definieren brauche. Unabhängig davon, ob ich sie verstand, suchte oder sogar ablehnte. Ich fand eine Art spirituelles Urvertrauen.
Aber wenn ich glaube, warum sollte ich dann meine Tochter nicht taufen lassen?
Hier nur einige der Argumente:
Kann ich meine Tochter mit einer Institution verbinden, die erst 1992 anerkannt hat, dass die Erde um die Sonne kreist?
Die katholische Kirche hat fast 400 Jahre gebraucht, um ein wissenschaftlich fundiertes Weltbild zu akzeptieren. In seiner Wiedergutmachungsrede für Galileo Galilei hält Papst Johannes Paul II. dann fest: «Die durch die jüngeren historischen Forschungen erbrachten Klärungen gestatten uns nun die Feststellung, dass dieses schmerzliche Missverständnis inzwischen der Vergangenheit angehört.»
Ein schmerzliches Missverständnis war es wohl tatsächlich, zum Beispiel für den Astronomen Giordano Bruno, der anders als Galilei auf seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen beharrte und dafür im Jahr 1600 in Rom auf dem Scheiterhaufen starb. Seine Schriften standen auf dem Index der verbotenen Bücher der katholischen Kirche, bis dieser 1967 abgeschafft wurde. In guter Gesellschaft neben jenen von Heinrich Heine, Voltaire und Immanuel Kant.
Gut, jetzt bin ich ohnehin Lutheranerin. Das heisst aber, meine Kirchensteuer bekommt der Verein, dessen Gründer 1543 schrieb, man solle Synagogen sowie jüdische Häuser und Schulen «mit Feuer anstecken und was nicht verbrennen will, mit Erden beschütten, dass kein Mensch ein Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich».
Und da habe ich noch nicht mal angefangen, von Frauenfeindlichkeit zu sprechen oder der Ablehnung gegenüber Lesben und Schwulen, den unerträglich vielen Fällen von sexuellem Missbrauch, der Rolle der christlichen Kirchen im Zweiten Weltkrieg. To name a few.
Dazu kommen meine persönlichen Erlebnisse, als ich versuchte, mich dem christlichen Glauben in der Praxis anzunähern:
Auf der Suche nach einer Gemeinde stolperte ich in den Gottesdienst eines Pastors, der eine Stunde lang über seine Angst vor dem Zahnarzt predigte. Er offenbarte, dass sein letzter Termin für die Zahnkontrolle zehn Jahre zurücklag.
Ein anderes Mal landete ich in einer Messe, bei der das Schweizer Kreuz aufgespannt war. Dessen Platz im Gotteshaus verteidigte der Priester mit Inbrunst.
Auf meiner einzigen Pilgerreise erschütterte meine verlorene Seele eine katholische Nonne. Für sie war ich der Verdammnis geweiht, weil ich evangelisch war.
Auf derselben Reise begrüsste mich ein frommer Gläubiger mit dem Rat, nicht den modernen Sitten zu verfallen. Er meinte: als Frau Hosen zu tragen.
Und doch: Unter dem Strich bin ich durch meine Kirchenbesuche klüger. Die Kirche gab mir Boden in schweren Momenten. Aber die Negativbeispiele zeigen, dass die Kirche eine Institution darstellt, der man mit gesundem Menschenverstand begegnen sollte.
Ein Glaube in einer Gemeinde kann wirklich bereichernd sein. Doch bevor meine Tochter mit der Kirche auf Vollkontakt geht, soll sie eines verinnerlicht haben:
Gott ist grösser als die Kirche.
Sie soll ihrem eigenen Gespür und ihrem Gewissen mehr trauen als einer von Fehlern gespickten Institution, die sich oft transzendente Autorität anmasst.
Letztlich spiegelt diese Entscheidung auch meine Erfahrung. Meine Mutter war streng christlich erzogen und hat mich ebenfalls nicht als Kleinkind taufen lassen. Sie wollte, dass der Glaube später meine freie Entscheidung ist.
Meine Tochter hat mich gelehrt, wie klug oft die Erziehung meiner Mutter war.
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