Bloss keine Routine
Je weniger Regeln, desto mehr Freiheit, dachte ich lange. Doch was ich aus der Verhaltensbiologie lernte, änderte meine Ansicht. Serie zu einem Jahr ohne Gewissheiten.
Von Cornelia Eisenach (Text), Taiyo Onorato und Nico Krebs (Bild), 22.12.2022
Routine: Das Wort hat einen Beigeschmack. Es schmeckt nach Einschränkung, die Formulierung «aus der Routine ausbrechen» erinnert gar an ein Gefängnis. Routine, das ist eine Handlung, die wir aus Gewohnheit machen und die einer Art selbst auferlegter Regel gleichkommt. Eine Verhaltensregel, mit der wir unsere Handlungsfreiheit einschränken.
So jedenfalls habe ich das lange Zeit gesehen. Ungefähr so, als sei ich ein Heissluftballon und die Regeln und Routinen die Seile, die mich an den Boden fesselten. Folglich versuchte ich, so viele von ihnen wie möglich zu kappen. Oder gar nicht erst zu verankern. Jeden Tag um die gleiche Uhrzeit zur Arbeit gehen, jeden Donnerstagabend Sport machen oder immer an den gleichen Küstenort in die Ferien fahren – das war nichts für mich, das schränkte mich ein.
So war ich denn auch einigermassen entrüstet, als ich aus Grossbritannien in die Schweiz zog und von meinen neuen Nachbarn gleich einen Waschtag zugeteilt bekam. Ich empfand diese Routine, diese Regel, dass ich an genau jenem Tag waschen sollte, als Einengung.
Jahre des Grolls vergingen, bis mir jemand die Augen öffnete. Es sei clever von den Schweizern, sagte sie. Mit den Waschtagen verschafften sie sich Freiräume, in denen sie nicht über Wäsche nachdenken müssten. Gedanken wie «Wann habe ich diese Woche Zeit?», «Ist überhaupt gerade frei?», «Ich habe eigentlich keine Lust, aber ich sollte!», die fallen weg.
In Europa ist Krieg. In den USA verlieren Frauen das Grundrecht auf Abtreibung. Die Teuerung spielt verrückt. Die Energie wird knapp. 2022 hat viele scheinbare Gewissheiten auf die Probe gestellt. Auch bei der Republik-Crew.
Im Format «Ich hab mich getäuscht» erzählen wir Ihnen davon. Und vielleicht finden Sie sich in der einen oder anderen Geschichte selbst wieder. Und wenn Sie mögen: Erzählen Sie uns und der Community, wo Sie dieses Jahr eine Überzeugung loslassen, eine Meinung ändern, einen Irrtum eingestehen mussten. Irren ist schliesslich menschlich. Und Scheuklappen sind für Pferde.
Die Bilder zur Serie stammen vom Zürcher Künstlerduo Taiyo Onorato und Nico Krebs, die in ihrer Fotografie den Blick auch immer wieder auf Skurriles richten.
«Routine gibt uns im Grunde die geistige Freiheit, über das nachzudenken, was wirklich wichtig ist», sagt Charles Duhigg, Journalist und Autor eines Buches über «Die Macht der Gewohnheit». Diese geistige Freiheit entstünde, indem wir Dinge wie die oben erwähnten Überlegungen in einen automatischen Denkprozess auslagerten, in eine Routine. Die Routine oder die selbst auferlegten Regeln schränken also nicht ein. Im Gegenteil: Sie geben uns Freiraum.
Diese Argumentation leuchtete mir ein. Und es ist nicht so, als müsste ich mir nur übers Wäschewaschen Gedanken machen. Routine ergibt vor allem deshalb Sinn, weil es im Alltag Tausende dieser Mikroentscheidungen gibt. Wir leben in einer privilegierten Gesellschaft, in der sehr vieles möglich ist – das uns aber manchmal auch einfach überfordern und lähmen kann.
Choice overload heisst das Phänomen in der Fachsprache. Auf Deutsch wird es oft als Auswahlparadox oder Qual der Wahl übersetzt. Geprägt hat dieses Konzept der Psychologe Barry Schwartz, der in seinem Buch «Anleitung zur Unzufriedenheit» darlegt: Zu viel Auswahl – zum Beispiel eben: eine grosse Auswahl an Zeitpunkten zum Wäschewaschen – führt zu Lähmung, Unzufriedenheit und schlechteren Entscheidungen. Einfach weil uns die Menge der Auswahlmöglichkeiten überfordert.
Diese Überforderung zeigt sich sogar im Gehirn, wie Forscherinnen um den Neurobiologen Axel Lindner vom Universitätsklinikum Tübingen festgestellt haben.
Mittels Kernspintomografie beobachteten sie das Gehirn von Probandinnen, während diese aus einer Reihe von Landschaftsmotiven das Bild aussuchten, das ihnen am besten gefiel. Besonderes Augenmerk legten die Forscherinnen auf diejenigen Hirnregionen, die bei Entscheidungen dafür zuständig sind, dass wir nicht nur über eine Sache nachdenken, sondern sie auch tun. Doch in genau diesen Regionen streikten die Nervenzellen, wenn die Auswahl an Landschaftsbildern im Experiment zu gross wurde. Sie feuerten nicht mehr, gaben Signale nicht weiter.
Ein Grund dafür, dass unser Gehirn bei einer zu grossen Auswahl die Arbeit verweigert, ist, dass es eine Art Kosten-Nutzen-Rechnung durchführt. Denken Sie nur mal an ein herkömmliches Gemüseregal im Supermarkt und die Frage, welche Tomate nun «besser» sei. Ist es die aus dem Biolandbau, die aus biodynamischem Anbau, die aus der Region, die aus einem Programm für die Erhaltung seltener Arten, die mit dem richtig guten Geschmack oder vielleicht doch die preiswerteste?
All diese Informationen, das Pro und Kontra der verschiedenen Produkte zu verrechnen, das kann unser Arbeitsgedächtnis alleine nicht leisten. Denn es hat Kapazität für nur etwa vier Informationseinheiten. Wir müssen weitere Ressourcen hinzuziehen. «Zum Beispiel müssen wir das Langzeitgedächtnis involvieren oder Notizen machen», sagt Neurobiologe Lindner, der die Studie leitete. Diese zusätzlichen Ressourcen sind die kognitiven Kosten. «Wenn die Auswahl grösser wird, explodieren die kognitiven Kosten regelrecht.»
Für Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie wollen – etwa nachhaltig angebaute Tomaten oder, um zum Eingangsbeispiel zurückzukommen, saubere Wäsche –, lohnt es sich, diese Kosten so klein wie möglich zu halten und die Denkarbeit auszulagern. Nämlich an Regeln oder Routinen. Sie setzen geistige Ressourcen frei. Sei es für politisches Engagement, für Freunde und Familie oder einfach fürs Nichtstun.
Mir hat dieser Perspektivenwechsel geholfen, die Waschtage freundlicher zu betrachten. Und nicht nur diese: Es ist zwar recht weit entfernt von meinem Leben im Heissluftballon, aber ich lagere mittlerweile viele Alltagsdinge an Routinen aus. Zum Beispiel gehe ich mit meiner Familie an Wochenenden oft an die gleichen drei oder vier Orte zum Spielen, Wandern oder Baden, wir machen jeden Freitag Pizza und Weihnachten verbringen wir immer am gleichen Ort im Tessin.
Diese Routinen sind wie ein Butler, der viele Banalitäten des Alltags von uns fernhält. Die Zeit, die wir zusammen haben, können wir wirklich zusammen verbringen.
Interessant ist das aber nicht nur für meinen eigenen Frieden, sondern auch für die Frage, wie wir als Gesellschaft Probleme lösen. Und zwar auf zweifache Art: Erstens, weil es die prominente Idee, dass sich Probleme mittels individueller Konsumentscheidungen lösen lassen, infrage stellt. Solche Entscheidungen können uns überfordern – siehe das Tomatenregal – und uns somit eher lähmen als zu verantwortungsvollem Handeln antreiben. Und zweitens zeigt es, dass manche politische Forderungen ein neues Framing vertragen könnten.
Wenn es zum Beispiel darum geht, Massnahmen zu etablieren für, sagen wir, eine Reduktion des CO2-Ausstosses, gibt es eine Reibung zwischen der Einsicht, dass wir etwas tun müssen, und der Angst vor Einschränkungen. Dieser Angst könnte man begegnen, indem man diese andere Perspektive auf Regeln aufzeigt.
Sofern sie demokratisch ausgehandelt wurden, können uns solche Regeln entlasten von vielen Mikroentscheidungen im Alltag. Damit verschaffen sie uns ein Stück weit mehr Freiheit.
Zur Debatte: Wozu haben Sie 2022 Ihre Meinung geändert?
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