Chinas Strasse nach Nirgendwo
Die Neue Seidenstrasse ist ein Milliardenprogramm. China will damit zur wichtigsten Handelsnation werden. Wo steht das Projekt 10 Jahre nach dem Start? Ein Besuch in Pakistan, Sri Lanka und Kambodscha.
Von Adnan Aamir, Marwaan Macan-Markar, Shaun Turton, Cissy Zhou, Grace Li (Text), Sarah Fuhrmann (Übersetzung) und Felix Michel (Grafik), 19.12.2022
Die Fahrt zum Hafen von Gwadar in Pakistan dauert siebeneinhalb Stunden, über die Makran-Küstenstrasse von Karachi kommend, der grössten Stadt des Landes. Ein grosser Teil der 600 Kilometer langen Strecke ist verlassen, ohne Restaurants, Toiletten oder auch nur Tankstellen. Während der gesamten Fahrt kann es vorkommen, dass man nur rund 200 Fahrzeugen begegnet.
Erreicht man die Stadt, gelegen an der Küste Pakistans zum Indischen Ozean, sind chinesische und pakistanische Flaggen omnipräsent. An vielen Orten ragen von China finanzierte Bauprojekte auf. Und doch herrscht in der Stadt ein gespenstischer Mangel an wirtschaftlicher Aktivität. Die breiten Prachtstrassen in der Nähe der Strandpromenade sind seltsam frei von Autos. In der Innenstadt sind die Strassen schmal, verstopft und voll von stinkendem Abwasser. Es gibt nur wenige mehrstöckige Gebäude, abgesehen von der Hafenanlage, die China gebaut hat.
Es ist schwierig, sich Gwadar als Startrampe für eine neue globale Ordnung vorzustellen, aber genau das möchte Peking die Welt glauben machen.
Vor neun Jahren wurde die Stadt – ein verschlafenes Nest in Pakistans Unruheregion Belutschistan – ins Rampenlicht gezerrt. Sie wurde als Chinas Handelsfenster zum Indischen Ozean präsentiert: ein Zentrum für regionale Integration im Rahmen der Belt and Road Initiative (BRI), zu Deutsch die «Neue Seidenstrasse». Jenes Projekt, das den Moloch der chinesischen Wirtschaft in den Dienst der ökonomischen Entwicklung Asiens stellen soll.
Die Initiative beinhaltet Verpflichtungen gegenüber 149 Ländern und zielt darauf ab, regionale Integration unter chinesischer Führung zu fördern – und wirtschaftliche Abhängigkeit von Peking zu säen.
Zum Namen: Neue Seidenstrasse oder BRI?
Der Begriff Neue Seidenstrasse lehnt sich an die klassische Seidenstrasse aus dem Altertum und dem Mittelalter an. Die Neue Seidenstrasse heisst im offiziellen chinesischen Sprachgebrauch «Ein Gürtel, eine Strasse», woraus der im englischen Sprachraum übliche Begriff Belt and Road Initiative (BRI) abgeleitet ist. In diesem Beitrag verwenden wir die beiden Begriffe Neue Seidenstrasse und BRI.
Die Neue Seidenstrasse wurde erstmals 2013 angekündigt, in einer Rede des chinesischen Präsidenten Xi Jinping. Im April 2015 wurde sie konkretisiert, mit dem China-Pakistan Economic Corridor (CPEC). Dieser erstreckt sich von Gwadar zur chinesischen Stadt Kashgar in der Provinz Xinjiang. Der CPEC betonte die chinesisch-pakistanische «Freundschaft in guten und schlechten Zeiten», es wurden Mittel in Höhe von 46 Milliarden Dollar versprochen, die seither auf 50 Milliarden gewachsen sind. Dieser Korridor sollte das Rückgrat der Neuen Seidenstrasse werden.
Als die CPEC-Verträge unterschrieben waren, nannte Pakistans Regierung Gwadar «die ökonomische Zukunft Pakistans», zeichnete die Stadt als Alternative zu Dubai. Von Gwadar aus würden sich die wirtschaftlichen Geschicke des Landes zum Guten wenden.
Die Regierung behauptete ausserdem, dass Gwadars Bruttoinlandprodukt steigen werde: von geschätzten 430 Millionen Dollar im Jahr 2017 auf 30 Milliarden Dollar im Jahr 2050. Und dass 1,2 Millionen Arbeitsplätze in einer Stadt geschaffen würden, die derzeit 90’000 Einwohner zählt.
Heute aber steht der CPEC am Rande einer Krise, genauso wie die Initiative für die Neue Seidenstrasse selbst. Viele zentrale Projekte sind nicht in Gang gekommen – oder haben mittelmässige bis schwache Ergebnisse erzielt.
Der ursprüngliche Optimismus ist der Enttäuschung über Misswirtschaft, Schuldenkrisen und Korruption gewichen. Sie haben verhindert, dass viele Projekte abgeschlossen wurden oder dass sie ihr Potenzial ausschöpfen konnten.
Wo steht Chinas Prestigeprojekt, fast ein Jahrzehnt nachdem es begann?
Unsere Reise in drei Zentren der Investitionen im Zuge der Neuen Seidenstrasse führt von Gwadar über Sihanoukville nach Colombo.
Nicht eingelöste Versprechen
Start in Gwadar – auf dem Boden der Realität: Fast acht Jahre nachdem China eine atemberaubende Liste von Entwicklungsprojekten in der Stadt vorgestellt hat – ein neuer Flughafen, die Gwadar Free Zone, ein Kohlekraftwerk und eine Meerwasserentsalzungsanlage –, ist keines davon fertiggestellt worden. Die Investitionen haben wenig dazu beigetragen, Wachstum oder eine Wirtschaft zu schaffen.
Stattdessen haben strikte Sicherheitskontrollen den informellen Handel mit dem nahe gelegenen Iran stark eingeschränkt. Trotzdem importiert die Stadt weiterhin Strom aus dem Nachbarland, das die Zufuhr aber immer wieder unter dem Vorwand von Wartungsarbeiten abklemmt.
Ein 300-Megawatt-Kraftwerk hätte in Gwadar gebaut werden sollen, doch bis jetzt wurden die Arbeiten nicht abgeschlossen. Der Strommangel ist wohl das grösste Hindernis für jegliche bedeutende Entwicklung am Ort.
Dazu kommt ein chronischer Wassermangel, der jeden Sommer zu Tumulten führt, wenn Lastwagen der Regierung Wasser für die Einwohnerinnen anliefern. Es gibt zwar eine kleine Entsalzungsanlage, aber sie wird nur für die chinesischen Arbeiterinnen betrieben.
Der Hafen liegt aufgrund von Stromausfällen und weiteren Mängeln brach. Im Dezember brachen Proteste wegen Fangrechten aus, und mindestens ein grosser chinesischer Investor hat sich Berichten zufolge zurückgezogen.
Michael Kugelmann, Vizedirektor des Asienprogramms am Wilson Center in Washington, sagt, Gwadar sei Opfer übergrosser Erwartungen: «Man vermutete, wenn China neues Kapital und Technologie hineinpumpe, würde sich Gwadar auf magische Weise in einen Weltklassehafen verwandeln, obwohl frühere Versuche, ähnliche Ziele zu erreichen, völlig fehlgeschlagen waren.»
In strategischer Hinsicht ist Gwadar als Fenster zum Indischen Ozean für China von entscheidender Bedeutung. Westliche Experten vermuten, die Stadt könne letztlich ein chinesischer Marinestützpunkt werden, was China und Pakistan vehement bestreiten.
Der Top-down-Ansatz von Chinas Präsenz in Gwadar hat ganz offensichtlich die immer unzufriedeneren Einheimischen vernachlässigt.
Die grosse Strategie
Als Peking 2013 die BRI startete, waren die Hauptbeweggründe innenpolitischer Natur, sagt Gong Chen, Gründer des in Peking ansässigen Thinktanks Anbound, der die Zentralregierung in den Anfangstagen der Seidenstrassen-Initiative beriet.
Als das Konzept den politischen Entscheidungsträgern erstmals vorgestellt wurde, so erzählt Chen, waren die wichtigsten Motive Chinas für diese Überlegungen:
die rasch alternde Bevölkerung des Landes
die Schwierigkeit, im Perlflussdelta Arbeitskräfte zu rekrutieren
Chinas Wunsch, seine Marktreichweite zu vergrössern
und Überkapazität in vielen seiner Wirtschaftsbereiche
Doch man kann nicht umhin, die Neue Seidenstrasse als Beginn einer neuen, von China geführten geopolitischen Ordnung in Asien zu sehen; so wie der Marshallplan in Europa den Beginn des von den USA geführten Atlantik-Projekts einläutete.
Doch ist die BRI ein wirtschaftlicher Nettonutzen – oder in vielen Fällen sogar eine Belastung für die Hauptempfänger?
Ein Teil des Problems ist, dass BRI-Investitionen als Hilfen dargestellt werden, es jedoch oft nicht sind. Die Initiative soll chinesischen Banken und Infrastrukturfirmen Geld einbringen – finanziert hauptsächlich durch Kredite und Stromversorgungsverträge, die in vielen Fällen die Zahlungsfähigkeit ihrer Empfänger überschritten haben.
Millionen Pakistaner beispielsweise sind jeden Tag mit Stromausfällen konfrontiert, wegen eines Gebührenstreits mit chinesischen Kohlekraftwerken.
In Sri Lanka, einem weiteren Knotenpunkt der Seidenstrasse, haben chinesische Kredite zwar einen Infrastrukturboom ausgelöst, gleichzeitig aber auch einen Schuldenüberhang. Diese Schulden haben dazu beigetragen, das Land dieses Jahr in die Zahlungsunfähigkeit zu treiben.
Viele Einwohner von Sri Lanka sind wütend auf China, das mit seiner Freigebigkeit eine korrupte Elite um den im Juli ins Exil geflohenen Präsidenten Gotabaya Rajapaksa stützt. Sie fordern ein Ende der Korruption und der Misswirtschaft, die dazu geführt haben, dass Millionen Menschen an einem akuten Mangel an Lebensmitteln, Treibstoffen und Medikamenten leiden.
Währenddessen haben die staatlichen Banken in China, die der BRI Kredite gewähren, immer mehr Probleme mit Zahlungsausfällen.
Der Gesamtwert der Darlehen, die bei chinesischen Banken nachverhandelt werden mussten, betrug in den Jahren 2020 und 2021 ganze 52 Milliarden Dollar. Laut den Daten der Rhodium Group, einer New Yorker Wirtschaftsforschungsfirma, sind dies 36 Milliarden Dollar mehr als in den beiden Jahren davor.
Und das könnte nur die Spitze eines Schuldeneisbergs sein.
Forschungsergebnisse, die letztes Jahr von Aid Data publiziert wurden, einem internationalen Entwicklungsforschungslabor in Virginia, deuten darauf hin, dass die BRI-Länder auf zusammen 385 Milliarden Dollar «versteckter Schulden» oder unveröffentlichter Schulden kommen, welche die jeweiligen Regierungen vermutlich zahlen müssen.
Gong Chen vom Thinktank Anbound sagt, dass kreditnehmende Staaten sich weigerten, Schulden zurückzuzahlen. Dies sei «die besorgniserregendste» Herausforderung für das gesamte Grossprojekt. «Weitverbreitete Schuldenflucht hätte massgeblichen Einfluss auf Chinas finanzielle Stabilität», sagt er. «Und wir sind besorgt, dass manche Länder versuchen könnten, zu vermeiden, ihre Schulden zurückzuzahlen, indem sie Geopolitik und den ideologischen Wettbewerb zwischen Ost und West instrumentalisieren.»
Das Leben in einer Blase
Strom- und Wassermangel in Gwadar haben die Unzufriedenheit vor Ort verstärkt. Aber vielleicht das grösste Problem im Zusammenhang mit dem chinesischen Bauboom ist, seltsamerweise, Arbeitslosigkeit. Der China-Pakistan Economic Corridor hatte das ehrgeizige Ziel, 1,2 Millionen Jobs zu schaffen, doch die 90’000-Einwohner-Stadt hat davon nicht viel gesehen. Tatsächlich werden die meisten Arbeitskräfte für die Projekte aus China selbst ins Land gebracht.
Den chinesischen Arbeitskräften ist es vor Ort dann verboten, sich unter die Einheimischen zu mischen. Auch dürfen sie sich nur auf einem kleinen Areal bewegen, wohin alles Lebensnotwendige importiert wird – sodass lokale Händler nicht von den Neuankömmlingen profitieren. «Die Chinesen bringen sogar ihr eigenes Seidenpapier aus China mit und kaufen nichts auf den einheimischen Märkten von Gwadar», sagt Adam Qadir, ein ortsansässiger Motorenölverkäufer.
Die einheimische Fischereiindustrie wiederum wurde zugrunde gerichtet durch chinesische Fangschiffe, die in den Gewässern vor Gwadar fischen und ihren Fang nach Karachi bringen. Younis Anwar Baloch, Generalsekretär vom Fischereiverband in Gwadar, erzählt, dass eine neue Schnellstrasse den Zugang zur östlichen Bucht blockiert und es so den einheimischen Fischern erschwert, auszulaufen. Sie werden ausserdem durch Sicherheitsvorschriften davon abgehalten, in der Nähe des Hafens zu fischen.
Infolgedessen mussten 8 von 42 fischverarbeitenden Fabriken in Gwadar schliessen.
Der Konflikt um die Fischerei kochte im November und Dezember 2021 hoch, nachdem ein islamistischer Geistlicher einen vierwöchigen Sitzstreik vor dem Haupttor des Hafens von Gwadar organisiert hatte. Die Protestierenden forderten ein Ende der Tiefsee-Schleppnetzfischerei, eine Reduktion der Anzahl Sicherheits-Kontrollpunkte, dass Einheimische in der Nähe des Hafens fischen dürfen und dass der informelle Handel mit dem Iran wiederaufgenommen werde.
Der Protest des Geistlichen lähmte die komplette Hafenaktivität in der Stadt, und die Regierung akzeptierte schliesslich viele seiner Forderungen.
Die Bevölkerung vor Ort nimmt den Chinesen hauptsächlich die als übertrieben empfundenen Sicherheitsregelungen übel – und das nicht nur in der Fischereiindustrie.
«Die Regierung hatte beschlossen, Gwadar aus Sicherheitsgründen mit Stacheldraht einzuzäunen, und das hätte Menschen voneinander getrennt, die in verschiedenen Teilen der Stadt leben», erzählt ein Bewohner Gwadars.
Dann gab es die Proteste wegen Wasser. Obwohl das Wasserproblem diesen Sommer gelöst wurde, sagen die Einheimischen, das sei nur vorübergehend, weil die Regierung das Wasser aus nahe gelegenen Stauseen bezieht. Wenn es nächstes Jahr weniger als erwartet regnet, würden die Protestierenden wieder auf die Strasse gehen, sagen Einwohner.
Dazu kommt, dass militante belutschische Separatisten in letzter Zeit viele chinesische Unternehmen in der Region angegriffen haben. Infolgedessen gilt Gwadar als unsicher und deshalb stark militarisiert.
Darüber hinaus ist der Hafen von Gwadar nicht voll funktionsfähig, weil immer noch grundlegende Infrastruktur wie Wasser und Strom fehlt, was laut Einheimischen noch mindestens zwei Jahre lang der Fall sein wird. Deshalb ist der Gütertransport eingeschränkt.
Das Fehlen dieser Dienstleistungen – ganz zu schweigen einer Bahnanbindung an den Rest des Landes – schränkt den Spielraum für Investitionen ein.
Mohammad Aslam Bhootani, einer der Chefberater von Premierminister Shehbaz Sharif, sagt zur Lage Gwadars, die Regierung habe die Sicherheitslage besser unter Kontrolle, und alles laufe in die richtige Richtung.
«Sharif hat Sitzungen in Gwadar einberufen und Verantwortliche für das langsame Arbeitstempo in Gwadar gerügt, was jetzt die Situation verbessern wird», sagt Bhootani.
Aber es könnte zu spät sein. Etwa für HK Sun Corp., die erste chinesische Firma, die ein Geschäft in Gwadar eröffnete. Sie kümmerte sich um das Recycling am Hafen. Laut einigen Einheimischen sowie mehreren Nachrichtenberichten hat die Firma offenbar Gwadar verlassen, weil es wirtschaftlich unrentabel gewesen sei.
Über den Twitter-Account der China Overseas Ports Holding Company (COPHC) wurde bestritten, dass HK Sun Corp. den Betrieb in Gwadar aufgelöst habe.
Jeremy Garlick, Dozent für Internationale Beziehungen und Chinastudien an der Wirtschaftsuniversität Prag, glaubt, dass die Chinesen erkannt haben, dass Gwadar als Handelshafen nicht praktikabel und es nicht wert ist, weiterentwickelt zu werden.
«Wegen fehlender Rentabilität und lokalem Widerstand zögern die Chinesen, so viel – oder so schnell – in Gwadar zu investieren wie erwartet», sagt Garlick.
Dennoch, meint Garlick, blieben die chinesischen strategischen Interessen. «Der Hafen von Gwadar ist vielleicht auf lange Sicht nützlich für Peking wegen seiner relativ strategischen Position in der Nähe der Strasse von Hormus», sagt er. «Bisher hat China keine spezifische Verwendung für Gwadar, und es wird, soweit wir wissen, nicht durch chinesische Militärschiffe genutzt.» Die Strasse von Hormus, 600 Kilometer östlich von Gwadar, gilt als der wichtigste Transportweg für Öl zwischen Asien, den USA und Westeuropa.
Garlick fügt hinzu, dass sich in Zukunft der Wettbewerb um Ressourcen verschärfen und der Tag kommen könne, wenn Gwadar als eine Art chinesische Basis dienen könne. «Deshalb werden sich die Chinesen wahrscheinlich kaum aus der Stadt zurückziehen», sagt Garlick.
Wissen, wann man passen muss
Von Pakistan sind es Richtung Osten gut 4000 Kilometer bis Kambodscha, einem der wichtigsten Verbündeten Chinas in Südostasien. In der kambodschanischen Küstenstadt Sihanoukville zeigen sich schonungslos die Probleme chinesischer Seidenstrassen-Investitionen.
In der Peripherie der Stadt liegt eines der offiziell ausgewiesenen «zentralen» Seidenstrassen-Projekte: die Sonderwirtschaftszone Sihanoukville.
Sie ist mehr als elf Quadratkilometer gross und beherbergt über 170 Fabriken, die Berichten zufolge etwa 30’000 Menschen beschäftigen und sich überwiegend auf Textilien und Bekleidung, Gepäck, Lederwaren und Holzprodukte konzentrieren. Das Projekt ist noch im Aufbau und soll bei seiner Fertigstellung bis zu 300 Fabriken umfassen und zwischen 80’000 und 100’000 Arbeitskräfte beschäftigen.
Den Strom bezieht die Sonderwirtschaftszone von nahe gelegenen, durch China finanzierten Kohlekraftwerken. Und bald wird ein weiteres BRI-Projekt die Zone mit der Hauptstadt Phnom Penh verbinden: eine 2 Milliarden Dollar teure Schnellstrasse.
Sihanoukville zeigt, in welchem Ausmass chinesisches Geld Kambodscha in den letzten 15 Jahren verändert hat.
Staatliche Kredite in Milliardenhöhe flossen in dringend benötigte Strassen, Brücken, Bewässerungsanlagen, landwirtschaftliche Projekte und Kraftwerke. Von China finanzierte Wasserkraft, Kohle und Solarenergie machen heute 66 Prozent der im Land erzeugten Energie aus.
Diese Infrastruktur unterstützt Kambodschas erfolgreichste Industrie: den 10 Milliarden Dollar schweren Bekleidungs- und Schuhsektor.
Kambodschas Bekleidungsindustrie wird von chinesischen Fabriken beherrscht, die Material aus China importieren, es verarbeiten und die fertigen Produkte dann verschiffen, hauptsächlich nach Europa und in die USA.
Es ist jedoch nicht die produzierende Industrie, die Sihanoukville verändert hat.
Neben den staatlichen Subventionen ist gleichzeitig kaum reguliertes, oft illegales Kapital ins Land geströmt. Das hat zu einer unkontrollierten und raschen Entwicklung von Sektoren mit Verbindungen zu Onlineglücksspielen und kriminellen Gangs geführt, die illegale Arbeitskräfte nutzen, um internationalen, webbasierten Betrug zu begehen.
Chinas Glücksspielfirmen haben Milliarden von Dollars und Hunderttausende Arbeitskräfte nach Sihanoukville gebracht, das einst ein beliebtes Reiseziel am Meer war.
Der darauffolgende Bauboom fiel 2019 in sich zusammen, als Premierminister Hun Sen Onlineglücksspiele verbot mit Verweis auf dessen kriminelle Verbindungen. Hun Sens Verbot wurde allgemein als Reaktion auf Druck aus Peking gesehen, das aktiv durchgreift gegenüber illegaler Kapitalabwanderung – darunter auch derjenigen, die im Zusammenhang mit Glücksspiel steht.
Bis heute stehen mehr als 1000 unfertige Gebäude in Sihanoukville, viele davon wurden gänzlich aufgegeben.
Dieser Kollaps wurde durch die Covid-19-Pandemie noch befeuert. Viele Orte in der Stadt sind jetzt Brennpunkte krimineller Gangs, die Onlinebetrug begehen. Es ist ein Umfeld entstanden, in dem chinesische Investoren sich um ihre Sicherheit sorgen.
Weisse Elefanten
Von Gwadar über Sihanoukville führt die Reise südlich vom Golf von Bengalen zurück nach Westen. 2500 Kilometer trennen Kambodscha von Sri Lanka, und auch hier, im Indischen Ozean, hat die Initiative der Neuen Seidenstrasse eine unerwünschte Rolle gespielt.
Zwei Wirtschaftswissenschaftler aus Sri Lanka haben nachgerechnet und schätzen, dass sich Sri Lankas staatliche und vom Staat verbürgte Schulden gegenüber Peking auf fast 9,95 Milliarden Dollar belaufen. Es handelt sich dabei um Kredite, die zwischen 2001 und 2021 über die China Exim-Bank und die chinesische Entwicklungsbank gelaufen sind. Dazu kommen Schuldendienstzahlungen in Höhe von 4,5 Milliarden Dollar im selben Zeitraum.
Chinesische Darlehen lösten in den vergangenen drei Jahrzehnten einen Infrastrukturboom in Sri Lanka aus. Nach dem Ende des ethnischen Konflikts zwischen der Regierung und den tamilischen separatistischen Rebellen im Mai 2009 wurde die Last der Staatsschulden deutlich, im Mai dieses Jahres kam es zum Zahlungsausfall – vor allem auch gegenüber China.
Präsident Gotabaya Rajapaksa floh aus dem Land, nachdem Protestierende seinen Amtssitz gestürmt hatten. Ihr Zorn richtete sich gegen die immer tiefere Wirtschaftskrise. Auch wenn es wichtigere Faktoren für die Krise gab als die Neue Seidenstrasse, beschädigten die Proteste das Bild von Sri Lanka als Aushängeschild für chinesische Investitionen.
Sri Lankas Flughafen Mattala Rajapaksa International eröffnete 2013 mit viel Tamtam, ist aber seither kaum genutzt worden. «Der leerste Flughafen der Welt», wie er einmal getauft wurde, wurde mit einem 190-Millionen-Dollar-Kredit der China Exim-Bank finanziert.
Grosse, moderne Gebäude wuchsen in einer abgelegenen Landschaft an der südlichen Küste der Insel in die Höhe, wo dichte, buschreiche Wälder von wilden Elefanten, Wildschweinen und Affen bevölkert wurden. Es war kein Geheimnis, warum chinesisches Geld diese ländliche Gegend verwandelte – es war die Heimat des damaligen Präsidenten Mahinda Rajapaksa, der aus dem gewonnenen Krieg als populärster Politiker des Landes hervorgegangen war.
In Sri Lanka selbst gibt es durchaus Verteidigerinnen der Neuen Seidenstrasse. Gemäss ihrer Ansicht ist es eine Mischung aus gehässigen und geopolitischen Motiven, wenn behauptet wird, chinesische Schulden würden die Wirtschaft des Inselstaats versenken. «Der Westen und Indien sehen Chinas Kreditvergabe als ‹Schuldenfallen-Diplomatie›», sagte Maya Majueran, Direktorin von BRI Sri Lanka, einer unabhängigen Unternehmensberatung. Ihrer Ansicht nach gebe es keine Belege, dass China ärmere Länder absichtlich in den Ruin treibe.
Eine ähnliche Kontroverse wie um den Flughafen gab es auch um den 1,5 Milliarden Dollar teuren Hafen Hambantota, in zwei Phasen erbaut mit fünf Krediten der China Exim-Bank. Er war in den ersten sieben Jahren fast leer: Nur 170 Frachtschiffe gingen dort vor Anker, obwohl der Hafen an einem der verkehrsreichsten Schifffahrtswege des Indischen Ozeans liegt.
2018 kamen die Dinge in Fahrt, nachdem die Regierung den inländischen Hafenbetreiber entlassen hatte und den Hafen für 99 Jahre verpachtete: an eine öffentlich-private Partnerschaft. Die China Merchants Port Holdings sind mit 85 Prozent beteiligt.
Letztes Jahr schlug der Hambantota International Port gemäss den Aufzeichnungen des Hafens 2,3 Millionen Tonnen Frachtgut um, ein Anstieg von 38 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Der Hafendeal wird von westlichen Regierungen als Beispiel dafür gesehen, wie China Länder zuerst in die Schulden treibt und dann die gebaute Infrastruktur übernimmt.
Expertinnen sehen die Rolle von China in Sri Lanka unterschiedlich:
Thilina Panduwawala, Leiterin der Wirtschaftsforschung bei Frontier Research, einem Beratungsunternehmen in Colombo, sagt, innenpolitische Überlegungen hätten den Grossteil des Infrastrukturwachstums befördert, und «das Land zahlt einen Preis für diese politische Eile».
Professor Zhu Jianrong, ein chinesischer Politologe an Tokios Toyo-Gakuen-Universität, wehrt sich gegen die Ansicht, China sei mit der Absicht eingestiegen, das Land in eine Schuldenfalle zu locken. Er weist darauf hin, dass die Regierung von Sri Lanka von sich aus auf China zugegangen sei. Ausserdem gebe es eine Klausel im Vertrag zwischen den beiden Ländern, die eine militärische Nutzung des Hambantota-Hafens verbietet.
Etsuyo Arai, Leiterin der South Asian Studies Group am JETRO Institute of Developing Economies, sagt: Zwar hätten Sri Lankas massive Schulden gegenüber China die momentane Krise verursacht, der grössere Teil von Sri Lankas Rückzahlungsverpflichtungen bestehe jedoch gegenüber internationalen Staatsanleihen – und nicht gegenüber China. «Sri Lankas Probleme haben mehr mit der Misswirtschaft des Landes zu tun als mit China», sagt sie.
Schrumpfen, um zu passen
Gong Chen vom bereits erwähnten Thinktank Anbound sagt, China sei bereits vorsichtiger bei neuen BRI-Projekten geworden: Wenn ein Projekt zu riskant sei, werde Chinas Haltung sofort konservativer. «Staatseigene Firmen sprechen immer weniger von finanzieller Expansion im Zusammenhang mit der BRI. Eher fragen sie jetzt: Wird man sein Geld für dieses Projekt zurückbekommen?»
Verkümmert die Neue Seidenstrasse?
Obwohl sich das generelle Entwicklungsumfeld um die Neue Seidenstrasse verschlechtert hat, könne man nicht erwarten, dass die chinesische Regierung plötzlich verkünde, sie würden ihren Kurs aufgeben, sagt Chen. Die BRI habe oberste Priorität für China.
Ob es so bleibt, erst recht nach dem 20. Parteitag im November, der die Rolle von Chinas Präsident Xi Jinping weiter gestärkt hat?
«Es ist unvermeidlich, dass die Neue Seidenstrasse angepasst wird», sagt Chen. «Sie wird vielleicht von einer strategischen Vision der ökonomischen Kooperation auf dem Land- und Seeweg zu einer multilateralen Kooperationsinitiative schrumpfen; oder sie wird nach und nach komplett fallen gelassen. Das ist ganz abhängig vom Willen der obersten Führer.»
Adnan Aamir, Marwaan Macan-Markar, Shaun Turton, Cissy Zhou und Grace Li sind Redaktoren und Autorinnen bei «Nikkei», das seit 145 Jahren Wirtschaftsjournalismus mit Schwerpunkt Asien und vor allem Japan betreibt. Dieser Beitrag erschien am 10. August 2022 unter dem Titel «Road to Nowhere: China’s Belt and Road Initiative at Tipping Point» in «Nikkei Asia».