Von «eisernen Ladys» und «Landesmüttern»
Ein Memo für die nächsten Bundesratswahlen, bevor der «grösste Konflikt der Schweiz» bereits wieder vergessen ist.
Von Elia Blülle, 17.12.2022
Die klassische Tragödie kannte zwei Protagonisten: eine edle Heldin und eine weniger freundliche Antagonistin. Zum Beispiel Batman gegen Joker, James Bond gegen Dr. No, Schneewittchen gegen die böse Stiefmutter oder wie vor einer Woche: Eva Herzog gegen Elisabeth Baume-Schneider.
Der «grösste Konflikt der Schweiz» stehe bevor, schrieben Zeitungen von CH Media im Vorfeld: die «arrogante Städterin» gegen die «gmögige Bauerntochter».
Eva Herzog, «die eiserne Lady», verkündete dasselbe Medienhaus bereits 2016, habe sich mit ihrem «eisernen Auftritt» in die erste Reihe für die Nachfolge von Simonetta Sommaruga gestellt. Als sie dann 2022 tatsächlich zu den Wahlen antritt, hängen ihr diverse Zeitungen Attribute wie «unnahbar» und «sperrig» an. Sie komme «unterkühlt herüber», meint ein Journalist von «Watson». Und bald unterstellen ihr Medienberichte «Arroganz».
Ganz anders Elisabeth Baume-Schneider. Eine «gmögige Bauerntochter», die gerne lisme und koche, wie die CH Media-Zeitungen schreiben. Abgehobenheit habe man bei ihr nicht zu befürchten: «Sie hat sicher das Potenzial zur Landesmutter.» Und als sie dann die Wahl gegen Eva Herzog tatsächlich gewonnen hat, rätselt die NZZ, wie ihr der Coup gelingen konnte: «Einfach, weil sie sich zugänglicher und mütterlicher präsentierte als Herzog?»
Die Bevölkerung sollte wissen, wer ihre Interessen in der Landesregierung vertritt. Und dazu gehört es auch, den Charakter der Neugewählten auszuleuchten.
Doch würde man den hiesigen Politikjournalismus an seinen Charakteranalysen messen, erhielte er ein Zeugnis des Grauens.
1984 wählte die Bundesversammlung Elisabeth Kopp als erste Frau in den Bundesrat. Bald nannte sie der «Blick» in den Schlagzeilen nicht mehr beim Namen: «Eiserne Lady befiehlt: Tamilen müssen raus!», «Eiserne Lady Kopp» oder «Eiserne Lady will knallharte Strafen für Zivildienstverweigerer».
1993 folgte Ruth Dreifuss. «Fühlen Sie sich schon als Landesmutter?», fragte die «Schweizer Woche» einige Wochen nach der Wahl. «Ich habe Mühe mit diesem Begriff», antwortete Dreifuss. Trotzdem: Seit dreissig Jahren schwärmen Zeitungen von ihrer «mütterlichen Ausstrahlung», ihrem «mütterlichen Charme». Sie sei die «Mutter aller Bundesrätinnen».
1999, Ruth Metzler-Arnold. Der «Tages-Anzeiger» schreibt zum ersten Auftritt, sie spreche «sachlich, fast unterkühlt». Als sie vier Jahre später nach der Abwahl vor der Bundesversammlung eine Rede hielt, habe sie «dies weitgehend emotionslos, ja fast ein wenig unterkühlt» getan, berichtet der «Bund».
2003, Micheline Calmy-Rey. Oder die «eiserne Lady von Genf», wie der «Blick» sie nennt. Die charismatische «Dame de fer» vereinige «calvinistische Strenge mit dem Eigensinn ihrer Walliser Herkunft», schreibt «Swissinfo». Man bezeichne sie als «Cruella», so die Nachrichtenagentur Associated Press. Und das «Oltner Tagblatt» teilt seine Beobachtung: «Die unbequeme, hartnäckige Lederjacken-Frau hat es faustdick hinter den Ohren.»
2006, Doris Leuthard. Der «Blick» erklärt sie zur «Prinzessin Doris» oder titelt über dem Bild von einem Festauftritt: «Hier winkt die Landesmutter!»
2007, Eveline Widmer-Schlumpf ersetzt Christoph Blocher. «Eine neue eiserne Lady?», fragt der Blick; die «Aargauer Zeitung» titelt «Die eiserne ‹Evelina›».
2010 wählt das Parlament Simonetta Sommaruga in den Bundesrat, die mit dem Auftritt als «eiserne Lady» ihren politischen Kontrahenten tüchtig Wind aus den Segeln nehme, so die «Aargauer Zeitung». Der «Blick» montiert ihren Kopf auf den Körper einer Eiskunstläuferin und schreibt, «ihre Strenge» sei ein Handicap. Die Überschrift dazu: «kühle Eisprinzessin».
2019, Viola Amherd. Der «Blick» fragt wieder einmal: «Frau Amherd, sehen Sie sich nach Ihrer Wahl als Landesmutter?» Und bei «Glanz & Gloria» erklären zwei Experten, Amherd wirke mütterlich, so «rund, weich, warm».
2019, Karin Keller-Sutter. Keine andere Bundesrätin wird so oft mit Metall in Verbindung gebracht wie die St. Galler FDP-Politikerin: Glaubt man einigen Politikjournalisten und -journalistinnen, ist sie quasi die eisernste aller eisernen Bundesrätinnen.
Selbstverständlich: Nicht alle journalistischen Charakterbeschreibungen zu den bisherigen neun Bundesrätinnen waren dermassen einseitig fokussiert wie die zuvor aufgeführten, und auch die Republik hat sich einige Male bei den Bundesrätinnen-Klischees bedient. Aber – und das hat die Berichterstattung zu den jüngsten Wahlen eindrücklich gezeigt – die Lernkurve ist allgemein doch erstaunlich flach.
Neunmal sexistischer Quatsch. Und jetzt? Vor der Charakterdeutung weiblicher Politikerinnen am besten immer den Muttertest absolvieren. Das Telefon in die Hand nehmen, zu Hause anrufen und fragen: Mami, wie fändest du es, wenn ich dich künftig «eiserne Lady» nennen würde?