«Ich hab mich getäuscht»

Wehrpflicht abschaffen

Ich war überzeugter Armee­gegner. Dann hat Russland die Ukraine überfallen. Die erste Folge einer Serie zu einem Jahr ohne Gewissheiten.

Von Elia Blülle (Text), Taiyo Onorato und Nico Krebs (Bilder), 14.12.2022

Vorgelesen von Danny Exnar
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Im Jahr 2010 radelte ich Samstag für Samstag früh­morgens in die Stadt und nervte alle Passanten, die sich nicht früh genug vor mir in Sicherheit bringen konnten. Das erste und bisher letzte Mal in meinem Leben sammelte ich Unter­schriften für eine eidgenössische Volks­initiative. Tausendmal stellte ich dieselbe Frage: «Grüezi, wollen Sie auch die Wehr­pflicht abschaffen?»

Ungefähr ein Jahr zuvor hatte mich ein Militär­mensch in einem miefigen Mehrzweck­saal der Gemeinde auf die Rekruten­schule eingeschworen. Obligatorischer Informations­abend, die männliche Dorf­jugend meines Jahrgangs musste antraben. James-Bond-mässige Propaganda­videos liefen über die fleckige Lein­wand, unterlegt mit Gitarren­riffs und Funk­rauschen: Soldaten, die sich aus Helikoptern abseilen, durch Gebüsche robben, Krieg üben.

Die letzten Minuten widmete der Militär­mensch dem Zivil­dienst, den es zwar gebe, den man jedoch gut bedenken müsse, weil es wirklich nicht jeder­manns Sache sei, im Alters­heim alten Menschen den Hintern abzuwischen.

Und dann sagte er den einen albernen Satz, den jeder Schweizer mit Penis irgend­wann einmal zu hören bekommt: «In der Armee werdet ihr zu richtigen Männern.»

Der Militär­mensch leistete im Mehrzweck­raum ganze Arbeit und machte mich in zwei Stunden erfolgreich zum überzeugten Armee­gegner.

Zur Serie und zu den Bildern

In Europa ist Krieg. In den USA verlieren Frauen das Grundrecht auf Abtreibung. Die Teuerung spielt verrückt. Die Energie wird knapp. 2022 hat viele scheinbare Gewissheiten auf die Probe gestellt. Auch bei der Republik-Crew.

Im Format «Ich hab mich getäuscht» erzählen wir Ihnen davon. Und vielleicht finden Sie sich in der einen oder anderen Geschichte selbst wieder. Und wenn Sie mögen: Erzählen Sie uns und der Community, wo Sie dieses Jahr eine Überzeugung loslassen, eine Meinung ändern, einen Irrtum eingestehen mussten. Irren ist schliesslich menschlich. Und Scheu­klappen sind für Pferde.

Die Bilder zur Serie stammen vom Zürcher Künstlerduo Taiyo Onorato und Nico Krebs, die in ihrer Fotografie den Blick auch immer wieder auf Skurriles richten.

Damals bewunderte ich die Bekannten meiner Eltern, die den Dienst verweigerten, dafür noch ins Gefängnis mussten und (etwas zu oft) von der Bibel in der Zelle, den kalten Nächten und kratzigen Woll­decken erzählten.

Die Armee war für sie ein Maskottchen, das sich die Schweiz aus Nostalgie leistete, als Über­bleibsel Geistiger Landes­verteidigung, als Folklore.

Im Studium lernte ich die Arbeiten von Immanuel Kant kennen, der stehende Heere als einen Ursprung des Krieges begriff, weil sie Wett­rüsten und Konkurrenz zwischen den Nationen befeuerten. Wir lasen auch Texte von Max Frisch, der in seinen letzten Jahren die Abkehr vom militärischen Denken als Voraus­setzung für den Frieden bemühte und für die Abschaffung der Armee warb – er nannte sie die «Verteidiger der Murmel­tiere».

Wider­stand gegen die Armee war – auch für mich – Wider­stand gegen den Krieg.

Eine Überzeugung, die am 24. Februar 2022 bröckelte, als ich morgens um 4 Uhr mein Handy anstupste und aus einer Push­nachricht erfuhr, dass die russische Armee gerade die Ukraine überfallen hatte.

Was bleibt vom Pazifismus übrig, wenn autoritäre Regimes ihre Nachbarn angreifen? Die Demokratie global erodiert? Also jene Staats­form auf dem Spiel steht, die als einzige Kriege langfristig zu verhindern weiss?

Nach der Matura arbeitete ich während zehn Monaten als Zivil­dienst­leistender in einer Primar­schule. Es war die beste Zeit meines Lebens, von der ich keine Sekunde missen möchte. Und trotzdem: Würde ich nur zuschauen, wenn meinem demokratischen Geburts­land dasselbe wider­fahren würde wie gerade der Ukraine? Es von einem faschistischen Regime überfallen würde?

Schweizer Männer dürfen auf den Zivil­dienst ausweichen, wenn sie das Militär mit ihrem «Gewissen» nicht vereinbaren können. Die Generation vor mir musste für den Zivildienst noch eine «Gewissens­prüfung» absolvieren, die glücklicher­weise abgeschafft wurde. Trotzdem die Frage: Aus welchen Gründen habe ich mich und viele meiner männlichen Freunde bei der Rekrutierung gegen die Armee entschieden? War es wirklich das Gewissen, die tiefe pazifistische Überzeugung, die uns davon fern­gehalten hat?

Bis vor drei Jahren ging ich mit der Sicherheit durchs Leben, alles komme gut. Das Urvertrauen von Millennials, den Kindern des Neo­liberalismus.

Uns wurde erzählt: Du kannst alles werden und alles wird immer besser.

Dann kam die Pandemie. Dann der Krieg in Europa. Dann die unmiss­verständliche chinesische Kriegs­drohung gegen Taiwan.

Heute bin ich froh um Panzer und Kampf­flieger in Europas Demokratien.

Das auszusprechen, fühlt sich wie Verrat an. Aber in einer Welt, in der sich Faschisten und totalitäre Autokraten so sicher fühlen, dass sie mit Boden­truppen ein anderes Land überfallen, müssen sich Demokratien verteidigen – mit dem Recht, aber notfalls und leider auch mit Soldaten.

Bevor mich Militär­fans nun als geläuterten Zivi instrumentalisieren: Der Krieg in der Ukraine ändert nichts am Wider­stand gegen Militarismus, kriegs­positive Erzählungen und nationalistische Männer­fantasien. Denn was mich vom Wehr­dienst ferngehalten und mit 17 Jahren dazu bewogen hat, meine Samstage für eine Volks­initiative zu opfern, war weniger der Pazifismus, sondern wohl eher die Institution an sich: die Schweizer Armee.

Vor einiger Zeit trank ich vor einem Interview mit einem Politiker eine Cola in der Mensa einer Schweizer Militär­behörde. Ein Dutzend Männer in Zivil tunkten da ihr Gipfeli synchron und stumm in den Milch­kaffee. Fast alle waren ungefähr gleich alt, trugen Schnäuzer und ihr Handy am Gurt.

An jenem Morgen wurde mir wieder bewusst, was mich so sehr stört.

Die Armee ist der grösste Männer­verein der Schweiz. Ein Ort, an dem man noch von Kamerad­schaft spricht. Oder, wie es der Journalist William Stern einmal in einer Reportage aus dem Militär­gericht passend beschrieb: «Ein System, das auf Macht­ausübung, Unter­drückung und Rohheit beruht und Empathie, Unsicherheit und Empfind­samkeit als Schwäche geisselt.»

Man muss nicht in der Armee gedient haben, um zu wissen, dass Kollektiv­strafen in einigen Truppen­gattungen trotz Verboten an der Tages­ordnung sind, stumpfe Rituale und Mut­proben dazugehören. Eine Recherche der «SonntagsZeitung» zeigte, wie Frauen, die freiwillig in die Armee eintreten, «bedroht, belästigt und gemobbt» werden. Ein Inspektions­bericht des Verteidigungs­departements stellte fest: Ein Kultur­wandel sei unabdingbar, Kader müssten sensibilisiert und ausgebildet werden.

Dabei wäre die Schweizer Miliz­armee im Grunde eine gute Idee. Zwar zwingt sie Tausende Männer in die Langeweile, aber sie scheint noch immer probat, um braune Netzwerke und gewalt­verliebte Männer­bünde zu vermeiden. Oder, wie es ein Militär­kader mir gegenüber einmal formuliert hat: Eine Division von durchmischten Miliz­soldaten, die ihre Aufgabe stumpf­sinnig fänden, sei ihm lieber als eine Horde von Berufs­rambos, die blind allen Befehlen folgten.

«Über Sex können wir mit Anstand, ohne Anstand sprechen», meinte Schrift­steller Max Frisch einst. «Nicht sprechen können wir über die Armee.»

Das ist heute nicht mehr so. Zu verdanken ist das auch jenen Menschen, die sich vor über 30 Jahren für die Abschaffung der Armee und die Schaffung eines zivilen Ersatz­dienstes eingesetzt haben, so das Schweige­kartell aufbrachen und das Militär dorthin brachten, wo es hingehört: in die breite öffentliche Debatte.

Und jetzt?

Jetzt wäre es an der Zeit, die Armee nicht mehr nur jenen Menschen zu überlassen, die sie teilweise noch immer als autoritäre Lebens­schule für «richtige Männer» verstehen – und sie fort­während an ihrem Auftrag zu messen, den die Bundes­verfassung vorschreibt: Erhaltung des Friedens.

Zur Debatte: Wozu haben Sie 2022 Ihre Meinung geändert?

Haben auch Sie sich in einem Urteil, einer Einschätzung oder in einer Person geirrt? Und wenn ja: Warum haben Sie Ihre Meinung geändert, was hat Sie dazu bewogen? War es ein bestimmtes Ereignis, eine Begegnung oder eine Nachricht, die Sie ins Grübeln brachte? Wie fühlt sich das Eingeständnis, sich geirrt zu haben, heute an? Ist es schmerz­haft, verwirrend oder vielleicht sogar erleichternd? Hier gehts zur Debatte.