Das Experiment mit den Gastfamilien
Mit dem Russland-Ukraine-Krieg wurde in der Schweiz die private Unterbringung von Geflüchteten auf einen Schlag populär. Was dieses Modell kann – und was nicht.
Von Jana Schmid (Text) und Philip Frowein (Bilder), 13.12.2022
Die Schweiz sucht Betten. Die Asylzahlen steigen. Die Bundesasylzentren sind voll. So voll, dass die «gemeinsame Notfallplanung von Bund und Kantonen» entschieden hat, Asylsuchende früher als üblich auf die ganze Schweiz zu verteilen. Es werden Mehrzweckhallen in Betrieb genommen. Und Asylverfahren beschleunigt. Mittlerweile rechnet der Bund mit rund 25’000 Asylgesuchen für das laufende Jahr – dazu kommen die 70’000 Geflüchteten aus der Ukraine.
Iryna Honcharenko und ihr Sohn sind schon etwas länger da. Sie haben sich eingelebt in der umgebauten ehemaligen Garage in Winterthur. Wenn sie ihre Gastgeber im Garten der Wohngenossenschaft trifft, spricht Iryna Honcharenko immer häufiger Deutsch statt Englisch. Heute hat sie weniger mit ihnen zu tun als am Anfang, wo sie ihr mit dem Papierkram halfen oder zusammen ins Brockenhaus fuhren. Langsam findet sie sich zurecht in der Schweiz, wo sie sich vor dem Krieg in der Ukraine nicht hätte vorstellen können, je zu leben. «Wir hatten solches Glück, wie wir hier aufgenommen wurden», sagt sie.
Dass geflüchtete Personen privat untergebracht werden, war in der Schweiz noch nie so ein Thema wie in den letzten Monaten.
Was bleibt davon? Was kann es bewirken, wenn die Schweizerinnen ihre Haustüren öffnen für Schutzbedürftige? Und welche Rolle hat der Staat dabei?
Der erstaunliche Erfolg eines Experiments
24. Februar 2022: Krieg in Europa.
Kurz darauf verfiel die Schweiz in einen Aktivismus, der nach Jahren der restriktiven Asylpolitik ähnlich erstaunlich war wie der Kriegsausbruch selbst.
Eine zivile Solidaritätswelle rollte über das Land. Zehntausende demonstrierten für Frieden, Hilfsorganisationen verzeichneten Spendenrekorde, Fassaden und Kirchtürme wurden blau-gelb beleuchtet und ihre Glocken läuteten landesweit gegen den Krieg an.
«Wir wollen grosszügig und unkompliziert sein», sagte Bundesrätin Karin Keller-Sutter vier Tage nach Kriegsbeginn und läutete damit auch auf Behördenseite einen ziemlich unschweizerisch anmutenden Pragmatismus ein.
Innert kürzester Zeit stellten Privatpersonen schweizweit 30’000 Betten zur Verfügung, um Geflüchtete aus der Ukraine bei sich zu Hause aufzunehmen.
Das Staatssekretariat für Migration beauftragte die Schweizerische Flüchtlingshilfe, die privaten Unterbringungen zu koordinieren. Es war das erste Mal, dass es das tat. Der Bundesrat aktivierte den Status S, mit dem Ukrainer rasch ein Aufenthaltsrecht erhalten können, ohne ein Asylverfahren durchlaufen zu müssen. Auch das zum ersten Mal in der Geschichte des Migrationsrechts.
Und dann ging es los, das Experiment mit den Gastfamilien.
Bis Mitte Juni hatte die Schweizer Zivilbevölkerung bereits rund 80’000 Betten in 30’000 Gastfamilien angeboten. Ende August waren etwa 40’000 Personen privat untergebracht – 60 Prozent der Schutzsuchenden aus der Ukraine in der Schweiz. Heute sind es laut Sozialdirektorenkonferenz weniger, genaue Zahlen seien jedoch nicht verfügbar.
In den Schweizer Medien wurde das Wort «Gastfamilie» zur Konstante: hoffnungsvolle Homestorys. Lob für die Solidarität der Schweizerinnen. Dann Frust von Gastfamilien wegen Bürokratiedschungel und mangelnder finanzieller Unterstützung durch die Kantone. Später erste Berichte über Ermüdungserscheinungen, Konflikte beim Zusammenleben und Umplatzierungen. Viel Sorge um einen Einbruch der zivilen Vorzeigesolidarität nach den Sommerferien. Und dann: das überraschende Ausbleiben dieses Einbruchs.
Die Bereitschaft der Gastfamilien liess kaum nach. Viele behielten ihre Gäste länger als erwartet. Bald war klar: Das ist mehr als nur ein Hype – und vielleicht auch mehr als die Übergangslösung, als welche die Unterbringung in Gastfamilien noch im Frühjahr bezeichnet wurde.
Ist die private Unterbringung also ein Erfolgsmodell?
Ja, sagt Eliane Engeler von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Die Erfahrungen seien sehr positiv. Das grosse Umplatzieren, das einige Kantone und Gemeinden befürchtet hatten, habe nicht stattgefunden. Oft funktioniere die private Unterbringung auch längerfristig gut – oder ende damit, dass die Gäste eine eigene Wohnung fänden.
Das Experiment Gastfamilien ist geglückt. Wie lässt sich dieser Erfolg erklären?
Der Faktor Staat
«Die Haltung des Staates und die politische Botschaft sind essenziell», sagt Eliane Engeler. Es sei das erste Mal gewesen, dass sich die Bundesbehörden so klar positioniert hätten.
Denn Hilfsbereitschaft sei grundsätzlich da. Sie müsse aber abgeholt werden.
Das ist in der Vergangenheit oft nicht geschehen.
Auch früher erhielt die Flüchtlingshilfe viele Anrufe von Menschen, die Geflüchtete privat aufnehmen wollten. Etwa nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. Doch das ist versandet – weil der Wille der Behörden, afghanische Geflüchtete aufzunehmen, viel kleiner war als heute bei den ukrainischen.
«Es braucht die politische Message der Behörden, dass man das Modell will», sagt Engeler.
Das Staatssekretariat für Migration sieht das ein wenig anders: Grundsätzlich seien die Kantone zuständig für die längerfristige Unterbringung von Asylsuchenden. Der Bund sei also nicht primär in der Verantwortung. Und weil reguläre Asylsuchende ohne Status S immer wieder anwesend sein müssten für Verfahrensschritte, ergebe es in dieser Zeit wenig Sinn, ausserhalb eines Bundesasylzentrums zu leben.
In Winterthur sitzen Iryna Honcharenko und zwei von ihren Gastgebern auf Holzstühlen in der temporären Wohnung des ukrainischen Gasts. Die Wohngenossenschaft – sechs Ehepaare im frühen Pensionsalter – hatte hier bis vor kurzem Suppe gekocht und Sitzungen abgehalten. Bei so einer Sitzung wurde einstimmig entschieden, den Raum ukrainischen Geflüchteten zur Verfügung zu stellen.
«Ich war erstaunt, wie unbürokratisch alles funktioniert hat», sagt einer der Gastgeber, Tilo Nisoli. Untypisch für die Schweiz habe sich das angefühlt. Sie seien sogar persönlich von der Stadt Winterthur informiert worden, dass sie einen Unterstützungsbeitrag beantragen können. «Alles ist so gut organisiert», fällt ihm Iryna Honcharenko ins Wort. Sie spricht lauter als die beiden Männer, und mehr. Manchmal füllen sich ihre Augen plötzlich mit Tränen, und sie spricht noch schneller weiter. So einfach sei es hier. So freundlich. So nett.
Die Sache mit den Kantonen
Die Kantone sind grösstenteils verantwortlich dafür, geflüchtete Personen unterzubringen. Dass sie das sehr unterschiedlich handhaben, kann ein Problem sein.
Es funktioniere in jenen Kantonen klar am besten, die die Gastfamilien unterstützen und eng begleiten, sagt Eliane Engeler von der Flüchtlingshilfe. Viele Schwierigkeiten liessen sich mit einer guten Betreuung abfedern.
Das zeigt sich etwa in Basel-Stadt, wo die private Unterbringung stark gefördert wird. Der Kanton musste bisher kaum jemanden umplatzieren. In Luzern hingegen, wo wenig auf das Gastfamilienmodell gesetzt wird, hat es bis Ende Oktober 270 Umplatzierungen gegeben. Auf Anfrage bezeichnet der Kanton die private Unterbringung als «herausfordernd für alle Beteiligten».
Die Kantone erhalten vom Bund pro Person mit Status S eine Pauschale von rund 1500 Franken monatlich für Unterbringung und Betreuung. Wie viel davon an Gastfamilien geht, entscheiden die Kantone. Eine Umfrage vom Juni zeigt: Sie haben verschiedene Lösungen.
Während die meisten Kantone den Gastfamilien einen Beitrag zwischen 100 und 270 Franken monatlich zahlen, delegieren andere diese Frage an die Gemeinden oder entrichten den ukrainischen Gästen einen Betrag, den sie weitergeben müssen. Drei Kantone entschädigen die Gastfamilien gar nicht. Sie bezahlen höchstens eine Miete, wenn ein Mietvertrag über eine eigenständige Wohneinheit abgeschlossen wird.
Diese Eigenregie findet die SP-Nationalrätin Céline Widmer problematisch. Per Motion fordert sie, dass Gastfamilien schweizweit einheitlich und ausreichend unterstützt werden. Und damit: eine gesetzliche Grundlage für das Gastfamilienmodell auf Bundesebene.
Wenn überall betont werde, wie wichtig die Gastfamilien seien, dann müsse man das gesetzlich auch abbilden, findet Widmer.
Der Bundesrat findet das nicht, weil die Kantone zuständig seien. Und sowohl die Sozialdirektorenkonferenz als auch das Staatssekretariat für Migration finden auf Anfrage: Es sei noch zu früh, um über eine gesetzliche Grundlage zu diskutieren. Das müsse nach der Krise geprüft werden. Aktuell brauche man die volle Energie, um die «grösste Fluchtwelle seit dem Zweiten Weltkrieg» gut zu meistern, schreibt Gaby Szöllösy, Generalsekretärin der Sozialdirektorenkonferenz.
Das Modell funktioniert also vor allem dann, wenn die Behörden es fördern. Was aber unterscheidet die private Unterbringung von staatlichen Strukturen? Und was bringt sie – den Gästen, den Gastgebern, dem Staat?
Mittendrin statt aussen vor
Iryna Honcharenko ist in einem der guten Quartiere Winterthurs untergekommen. Hier dominiert das Eigenheim. Schmucke historische Backsteinhäuser mit wilden, aber nicht verwilderten Gärten und Gartenzäunen, deren Farbe man bewusst etwas abblättern lässt. Wenig Verkehr. Elektrovelos, oder solche mit handgefertigtem Stahlrahmen. Ein typisch linksakademisches Umfeld. Ein Quartier, dem man wenig soziale Probleme attestieren würde und einen «geringen Ausländeranteil».
Ein Quartier also, in dem selten jemand wohnt, dessen Leben in der Schweiz mit einem Asylgesuch begonnen hat.
Und genau darin liegt die Stärke des Gastfamilienmodells: Man begegnet sich.
«Private haben ein Potenzial, das der Staat nicht hat», sagt Eliane Engeler von der Flüchtlingshilfe. Bei Privaten sind Geflüchtete mitten in der Gesellschaft, sobald sie hier sind. Das mache das Modell zum «Integrationsbooster» für die Gäste.
Und für die Gastgeberinnen – und deren Freunde, Grosseltern, Nachbarinnen – zu einem effektiven Präventionsmittel gegen Fremdenfeindlichkeit.
Gastgeber Tilo Nisoli sagt, der Austausch mit Iryna Honcharenko habe ihm die Augen geöffnet. Das Weltgeschehen habe ihn vorher schon beschäftigt, aber Krieg und Flucht fühlten sich immer weit weg an. Jetzt sei das anders. Sein Mitbewohner Hans Schütz erzählt, wie ihm dank Iryna Honcharenko klar geworden ist, welche Privilegien man in der Schweiz habe: zum Beispiel den Luxus, auf Improvisation verzichten zu können.
Die Gastfamilien seien eine neue Anspruchsgruppe im Asylwesen, sagt Eliane Engeler. Viele hätten ihre Gäste eng begleitet und so zum ersten Mal hautnah erfahren, was etwa in einem Bundesasylzentrum geschieht oder wie die Asylsozialhilfe ausgestaltet ist.
Gastfamilie zu sein, schafft also auch ein Bewusstsein dafür, was es heisst, mit einer Fluchtgeschichte in die Schweiz zu kommen. Und wenn das in der Mehrheitsgesellschaft ankommt, kann es Forderungen von Menschen aus dem Asylbereich stärkeren Rückhalt geben.
Zu diesem Schluss kommt auch die Soziologin Sarah Schilliger. Sie hat eine Studie zu Freiwilligenarbeit mit Geflüchteten in der Schweiz verfasst. «Bekommen Flüchtlinge ein Gesicht, distanzieren sich bisher eher skeptische Menschen von einem verallgemeinernden Diskurs», schreibt sie. Und: Wenn beide Seiten vom Austausch profitieren, haben weniger Menschen die Vorstellung, dass alles, was Geflüchteten zugutekommt, auf Kosten der Alteingesessenen gehe.
Schilliger weist aber auch auf die Gefahr hin, dass Freiwilligenarbeit zum «Lückenfüller» im Sozialstaat werde und damit den Anschein wecke, dass es keine politischen Lösungen mehr brauche.
Es liegt auf der Hand, dass der Staat von der effektiven und kostenlosen Integrationsarbeit profitiert, die Private dabei leisten – Spracherwerb, der Gang zu Ämtern, die Vermittlung bei kulturellen Fragen.
Klar ist: Ziviles Engagement kann eine Chance für das Asylwesen sein, weil Private Dinge können, die der Staat nicht kann. Menschlichkeit zum Beispiel. Und dafür sorgen, dass Geflüchtete und Alteingesessene sich wirklich begegnen.
Der Fachbegriff dafür: community sponsorship. Im Rahmen einer Studie hat sich das Staatssekretariat für Migration kürzlich mit dessen Potenzial auseinandergesetzt. Die Analyse fällt aber eher dünn aus: Im Vordergrund steht vor allem die Frage, wie die Kompetenzen zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden verteilt werden.
Das erfolgreiche Experiment mit den ukrainischen Gästen hat gezeigt: Die Behörden dürfen sich nicht zurücklehnen. Was passiert, wenn sie es trotzdem tun, illustriert ein Beispiel aus Zürich, das nichts mit der Ukraine zu tun hat.
Warum eine Pflegefamilie nicht mehr mitmacht
Der Kanton Zürich sucht dringend Pflegefamilien. Er hat dafür im Sommer eine Kampagne gestartet. «Als Pflegefamilie geben Sie einem Kind ein zweites Zuhause», heisst es in einem Promo-Video. «Bei Ihnen darf es unbeschwert aufwachsen.»
Simone Steiner aus Wetzikon weiss: Das ist eine Herkulesaufgabe. Eine, die sie liebt. Sie hat ihr in den letzten sechs Jahren viel gewidmet: Hingabe, Zeit, Geduld, Geld. Jetzt sitzt sie an ihrem Küchentisch und sagt nach langem Zögern: «So, wie es jetzt ist, kann ich nicht mehr weitermachen. Wenn ich alles auf die Waagschale lege, geht es einfach nicht mehr auf.»
Drei Pflegekinder hat sie gemeinsam mit ihrem Ehemann nacheinander betreut, neben der eigenen Tochter. Zwei waren unbegleitete minderjährige Asylsuchende. Fnan Teklehaimanot war der erste. Heute ist er 19 Jahre alt und wohnt in einer WG in Zürich, wo er bald seine Lehre abschliesst.
Gerade war er mit der Familie Steiner den Grossvater im Engadin besuchen, mit dem er manchmal auch zu zweit wandern geht. «Sie sind meine Ersatzfamilie hier in der Schweiz», sagt er. Für beide Seiten war es alles andere als einfach, als er als 13-Jähriger aus dem Jugendasylzentrum Lilienberg zu ihnen zog und überrollt wurde von den Traumata seiner eineinhalbjährigen Flucht aus Eritrea.
Auch dank viel Arbeit ist die Beziehung bis heute eng. Fnan Teklehaimanot ist an Weihnachten dabei, in den Ferien und immer dann, wenn er etwas Geborgenheit braucht. Pflegekind ist er zwar nicht mehr, doch zur Familie gehört er nach wie vor.
«Im Zentrum Lilienberg hätten sich alle meine Kollegen gewünscht, bei einer Familie leben zu können», sagt er.
«Ein Pflegekind zu betreuen, ist enorm viel Aufwand», sagt Steiner. Sie hat mehrere Weiterbildungen absolviert, obligatorische und freiwillige. Gerade macht sie einen CAS in Traumapädagogik. Das letzte Pflegekind hat die Familie diesen Frühling verlassen. Und auch wenn sie es gerne möchte, kann sich Steiner nicht vorstellen, unter den gegebenen Rahmenbedingungen ein neues Kind aufzunehmen.
Früher bekam sie für ein Pflegekind einen Betreuungsbeitrag von 115 Franken pro Tag, zusätzlich zu einer Nebenkosten- und Verpflegungspauschale. Seit im Kanton Zürich im Januar 2022 ein neues Kinder- und Jugendheimgesetz in Kraft getreten ist, sind es noch 51 Franken. Und auch das nur, wenn das Pflegeverhältnis bereits vor Januar 2022 bestand.
Würde Simone Steiner heute einen unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden neu als Pflegekind aufnehmen, wäre nicht klar, ob sie überhaupt einen Betreuungsbeitrag erhielte.
Der Kanton Zürich hat diese Frage bis heute – fast ein Jahr nach der Gesetzesänderung – für Kinder aus dem Asylbereich nicht geklärt.
Einige Finanzierungsfragen seien in Klärung, schreibt das Zürcher Sozialamt dazu bloss. Währenddessen sucht der Kanton weiter Pflegefamilien.
Wie die private Unterbringung zum Druckmittel wurde
Im Kanton Bern zeigt sich derweil: Steht ziviles Engagement den migrationspolitischen Zielen der Behörden entgegen, hat es einen besonders schweren Stand.
Jürg Schneider ist seit vielen Jahren Aktivist. Und er ist wütend. Darüber, wie die Berner Migrationsbehörden mit einer Errungenschaft des zivilen Engagements umgehen: der privaten Unterbringung von abgewiesenen Asylsuchenden.
Diese ist im Kanton Bern seit einigen Jahren möglich. Per 1. November 2022 ist sie – bisher einmalig in der Schweiz – auch gesetzlich geregelt.
Das ist keine Selbstverständlichkeit.
Denn abgewiesene Asylsuchende stehen in einem komplizierten Verhältnis zum Staat: Sie sind hier, obwohl sie nach einem Asylverfahren rechtskräftig weggewiesen wurden und die Schweiz verlassen müssten.
Dieser Zustand kann lange andauern. Etwa dann, wenn eine Ausschaffung nicht möglich ist, weil mit dem Herkunftsstaat kein Rückübernahmeabkommen besteht oder weil Identitätspapiere fehlen. Und die Betroffenen das Land nicht verlassen können oder wollen.
Der Versuch der Behörden, an einer konsequenten Asylpolitik festzuhalten: Sie machen den abgewiesenen Asylsuchenden das Leben so unbequem wie möglich, um sie dazu zu bewegen, das Land zu verlassen.
Sie werden aus der Sozialhilfe ausgeschlossen und erhalten nur die grundrechtlich garantierte Nothilfe – rund 10 Franken pro Tag. Erwerbstätigkeit ist ihnen verboten. Und sie werden in sogenannten Rückkehrzentren untergebracht – Kollektivunterkünfte mit sehr wenig Komfort und sehr viel Kontrolle.
Dieses Nothilferegime wird von Menschenrechtsorganisationen seit Jahren kritisiert.
Im Kanton Bern zum Beispiel von der Aktionsgruppe Nothilfe, der auch Jürg Schneider angehört. Die zivile Organisation hat dazu beigetragen, dass abgewiesene Asylsuchende, die lange in der Schweiz sind, bei Privaten leben und so zumindest einigen Restriktionen entkommen können. Rund 140 Personen sind im Kanton Bern privat untergebracht. Seit Anfang November erhalten auch sie die 10 Franken Nothilfe pro Tag. Die Wohnung finanzieren weiterhin ihre Gastgeber.
Damit zu dem Thema, das Jürg Schneider umtreibt.
Im Untergeschoss einer Kirche erzählt Aref Rostami seine Geschichte. Im Kirchensaal übt jemand Posaune. An der Wand hängen Porträts von Hochzeitspaaren. Draussen glotzen Kühe den Autos nach, die selten vorbeifahren und noch seltener anhalten.
Rostami lebt seit acht Jahren in der Schweiz. 2018 wurde sein Asylgesuch abgelehnt. Seit eineinhalb Jahren ist der 33-jährige Iraner privat untergebracht, bei einem Pfarrer aus dem 2000-Seelen-Dorf Niederscherli in der Nähe von Bern.
In den Iran zurückzukehren, kommt für ihn unter keinen Umständen infrage. Sein Leben wäre in Gefahr, sagt er. Auch weil er vom Islam wegkonvertiert ist. Die Migrationsbehörden glauben ihm nicht. Und würden ihn, hätte er denn einen Pass, in den Iran zurückschaffen. Doch sie konnten ihn bisher nicht dazu bringen, sich einen Pass zu beschaffen.
Und hier kommt die private Unterbringung ins Spiel.
Rostami sagt, sie rette ihn davor, in einer psychiatrischen Klinik zu landen. «Ich bin seit acht Jahren hier und darf nichts, gar nichts tun. Das Leben in einem Rückkehrzentrum macht mich verrückt. Nur weil ich da nicht sein muss, bin ich jetzt einigermassen stabil.»
Jeweils sechs Monate darf er bei seinem Gastgeber bleiben, dann braucht es wieder eine neue Vereinbarung mit dem kantonalen Migrationsdienst. Im Sommer stand die dritte Verlängerung an.
Einen Monat davor erhielt er eine E-Mail vom Migrationsdienst: Sie werde nur genehmigt, wenn er bis dahin bei der iranischen Botschaft war, um einen Pass zu verlangen.
Das war neu. Bisher war das nie ein Thema gewesen bei der Verlängerung.
Rostami ging nicht zur Botschaft. Dafür sprach er mehrmals persönlich beim Migrationsdienst vor. Auch sein Gastgeber setzte sich ein. Es gebe keine Grundlage, die private Unterbringung zu beenden. Alles laufe tadellos.
Am letztmöglichen Tag verlängerte der Migrationsdienst dann doch noch. Zum letzten Mal, wie es hiess. Habe er in einem halben Jahr immer noch keinen Pass verlangt, sei endgültig Schluss.
«In einem halben Jahr wird meine Situation nicht anders sein als heute», sagt Rostami. Die Druckversuche des Migrationsdienstes setzen ihm stark zu. Trotzdem: Er könne nicht zur iranischen Botschaft gehen.
Seine Situation ist kein Einzelfall. «Seit dem Frühling beobachten wir diese Praxis der Migrationsbehörden», sagt Jürg Schneider. Der Aktivist und pensionierte Professor für Betriebswirtschaft geht von einer neuen internen Weisung des Kantons aus.
Zahlreiche solcher Meldungen und E-Mails sind laut Schneider in den letzten Monaten verschickt worden – besonders häufig an iranische und eritreische Staatsangehörige.
In etwa einem Dutzend Fällen wurde die private Unterbringung abgebrochen. Gegen den Willen der Gastgeberinnen. Die betroffenen Personen müssen wieder in einem Rückkehrzentrum leben – oder untertauchen.
Das Berner Amt für Bevölkerungsdienste bestreitet eine Praxisverschärfung. Auch eine interne Weisung habe es nie gegeben. Vielmehr sei es eine gesetzliche Pflicht, bei der Beschaffung von Dokumenten mitzuwirken. Diese gelte für abgewiesene Asylsuchende, egal wo sie untergebracht seien. Tun sie dies nicht, könne die Privatunterbringung rechtmässig beendet werden.
Für Schneider geht es um ziviles Engagement, das einen Zustand erträglicher machen will, der von den Behörden herbeigeführt ist.
Dass die Behörden diese Solidarität als Druckmittel brauchen, um die eigenen Ziele zu erreichen – das ist es, was ihn so wütend macht.
Was Private brauchen, damit es trägt
Die Asylzahlen steigen. Die Bundesasylzentren sind voll. Auch die Kantone suchen händeringend nach Unterkünften. Viele Gesuchsteller sind minderjährig und unbegleitet, etwa aus Afghanistan. Das Wort «Flüchtlingskrise» ist zurück im öffentlichen Diskurs.
Der Krieg in der Ukraine hat gezeigt, dass die private Unterbringung einen wichtigen Beitrag leisten kann – wenn Staat und Private dasselbe wollen. Wenn sie eine nachhaltige Ergänzung im Asylsystem sein soll, dürfen zwei Dinge nicht vergessen gehen.
Erstens: Weil Private nicht der Staat sind, dürfen sie grundsätzlich helfen, wann und wem sie wollen.
Es ist populärer, Familien zu unterstützen als alleinstehende Männer. Wenn die Helferin keine Lust mehr hat, fällt das Angebot wieder weg. Und: Es ist offensichtlich, dass gewisse Herkunftsstaaten beliebter sind als andere.
Der Staat hingegen muss diskriminierungsfrei die Grundrechte aller wahren, die auf seinem Staatsgebiet gelandet sind. Das ist ein entscheidender Unterschied – und ein Grund, weshalb Private nicht für allzu grundsätzliche Bedürfnisse zuständig sein sollten. Denn ziviles Engagement kann soziale Rechte nicht ersetzen.
Und zweitens: Ziviles Engagement funktioniert dann am zuverlässigsten, wenn es sich zwar nicht wie ein Geschäftsmodell, aber eben auch nicht wie reine Aufopferung anfühlt. Eine angemessene finanzielle oder beratende Unterstützung wiegt die Eigenleistung von Privaten vielleicht nicht gänzlich auf. Aber sie sollte sie zumindest anerkennen. Und nicht unnötig kompliziert machen. Denn auch wenn es um Solidarität geht – soll das Potenzial von Privaten wirklich genutzt werden, brauchen sie einen fairen Deal.