How to Tell #MeToo
Im Kino läuft der Film «She Said» über die Harvey-Weinstein-Enthüllungen an. Im aktuellen Prozess gegen den Produzenten in Kalifornien berät unterdessen die Jury. Über eine Geschichte, deren Ende noch nicht geschrieben ist.
Von Theresa Hein, 10.12.2022
Es ist schwer vorstellbar. Trotz aller Erzählungen, trotz der detailreichen Schilderungen, die die Recherche der «New York Times»-Journalistinnen Jodi Kantor und Megan Twohey im Jahr 2017 hervorgebracht hat. Trotz der Zeugenaussagen, die man im Jahr 2020 beim Prozess gegen Harvey Weinstein in New York und in den vergangenen Monaten nachlesen konnte, als in Los Angeles ein weiterer Strafprozess gegen ihn lief.
Es ist schwer vorstellbar, wie der Hollywood-Produzent es geschafft haben soll, derart viele Frauen in sein Hotelzimmer zu locken, sexuell zu belästigen und zu vergewaltigen. Schwer vorstellbar auch deshalb, weil man es sich nicht so recht vorstellen mag. Bis man es hört.
Weinstein: Ich werde nichts tun.
Gutierrez: Ich will nicht angefasst werden.
Weinstein: Ich werde nichts tun, bitte. Ich schwöre, ich werde nichts tun. Setz dich einfach zu mir. Mach keine Szene hier im Hotel. Ich bin ständig hier. Setz dich einfach zu mir, ich verspreche –
Gutierrez: Ich weiss, aber ich will nicht.
Weinstein: Bitte, setz dich da rein. Bitte. Eine Minute, ich bitte dich.
Gutierrez: Nein, ich kann nicht.
Weinstein: Geh ins Badezimmer.
Gutierrez: Bitte, ich möchte nichts tun, was ich nicht tun will.
Dieses 2015 in einem Hotelflur geführte Gespräch wurde auf Band aufgenommen, weil sich das Model Ambra Gutierrez von der Polizei vor ihrem Treffen mit Weinstein verkabeln liess. Die deutsche Regisseurin Maria Schrader hat die Aufnahme beinahe vollständig in ihren Film «She Said» eingebettet. Die Zuschauerinnen im Kino hören nicht nur, wie Gutierrez versucht, sich durchzusetzen, sondern auch, wie Harvey Weinstein im Tonfall changiert (freundlich, belustigt, drohend, flehend). Am Ende schwört er bei seinen Kindern, dass er der Frau nichts tun werde.
Man kann versuchen, diesen Dialog «objektiv» zu lesen, das Vorwissen über die Verhältnisse zwischen diesen beiden Menschen ausblenden; so tun, als wüsste man nicht, dass eine der beiden Personen ein junges Model ist und die andere ein Jahrzehnte älterer und ungleich mächtigerer, mittlerweile wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung rechtskräftig verurteilter Studioboss. Es funktioniert nicht. Zwischen den Zeilen steht glasklar der Machtmissbrauch. Eine Person sagt wiederholt, dass sie etwas nicht tun möchte. Die andere versucht, unter Zuhilfenahme von verbalen Druckmitteln (Furcht vor sozialer Ächtung, Scham) das Gegenüber dazu zu bringen, das zu tun, was es nicht will. Die eine Person äussert wiederholt Unbehagen. Die andere Person macht weiter.
Die Hotelflurgespräche folgten einem Muster
Maria Schrader hat mit «She Said» einen Film gedreht, in dem sich keine Zuschauerin die Augen zuhalten muss. Es ist ja bekannt, was passiert. Nicht noch eine Vergewaltigungsszene in die an Vergewaltigungsszenen nicht armen Hollywood-Archive bringen, das sei ihre Prämisse gewesen, sagte Schrader in einem Interview.
An der Stelle, an der die Regisseurin die Originalaufnahmen von obigem Dialog in den Film eingebettet hat, hat sie austauschbare Hotelflure abfilmen lassen, Sandwiches, Polsterstühle, Holztischchen. Das hört sich zunächst offensichtlich an wie ein Trick aus einem Dokumentarfilm, in dem das Bildmaterial nicht genügt. Aber dem Kniff schadet seine Einfachheit nicht, im Gegenteil, er macht der Zuschauerin eher bewusst, wie schrecklich austauschbar diese Szenen waren und wie oft sie sich zutrugen. Die exklusiven Hotelflure mit ihren tapezierten Wänden, ihren dämpfenden Teppichen und samtverhangenen Fenstern wirken auf einmal wie eine Falle.
Das Wort «Falle» verwendete vergangene Woche auch die Bezirksstaatsanwältin im Schlussplädoyer am Prozess in L.A., wo sich Harvey Weinstein eineinhalb Jahre nach seiner rechtskräftigen Verurteilung im Bundesstaat New York nochmals vor Gericht verantworten musste. Selten ist ein Film derart vom aktuellen Geschehen begleitet und hat zugleich so viel Potenzial, auf das aktuelle Geschehen einzuwirken, wie in diesem Fall. Der Jury im Prozess in L.A. wurde sogar davon abgeraten, sich den Trailer zum Film anzusehen.
Das ist die erste Besonderheit des Films, die offensichtliche – da läuft eine Geschichte im Kino, deren Ende noch nicht ganz geschrieben ist. Die zweite hängt damit zusammen, dass «She Said» keinen Einzelfall, sondern eine universelle Begebenheit erzählt. Es geht um nichts Geringeres als die weltumspannende Geschichte von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Es läuft also auch eine Geschichte im Kino, von der man nicht weiss, ob ihr Ende je geschrieben sein wird.
Wenn das Schauspielerinnen passiert …
Die Tatsache, dass Weinsteins Übergriffe unter anderem berühmte Schauspielerinnen betrafen, haben die Vorfälle für die Boulevardpresse zwar aufregender gemacht als bei Menschen, die in Jobs abseits des Rampenlichts arbeiteten. Am anderen Ende des Machtmissbrauchs aber standen hier wie dort verängstigte Frauen, die oft aus Scham oder Sorge um ihre Karriere schwiegen, ob es sich nun um eine Mitarbeiterin hinter den Kulissen handelte oder eine Oscarpreisträgerin. Wie eine der beiden Journalistinnen in «She Said» folgerichtig fragt: «Wenn Hollywoodschauspielerinnen so was am Arbeitsplatz passiert ist, wem noch?»
Wie kann man diese Geschichte angemessen erzählen? Geht das überhaupt?
Es geht, indem die Frau hinter der Kamera sich sehr zurücknimmt.
Die Regisseurin Maria Schrader hat bereits öfter gezeigt, dass sie weiss, wie man das tut. Sie hat die Technik der Zurückhaltung in ihrem aussergewöhnlich ruhig erzählten Film «Vor der Morgenröte» (2016) über den Schriftsteller Stefan Zweig perfektioniert und nutzte sie für ihre preisgekrönte Serie «Unorthodox» (2020) über eine junge Frau, die sich ein neues Leben abseits ihrer ultraorthodoxen Herkunft aufbaut.
In «She Said» folgen wir nun den Journalistinnen Jodi Kantor (Zoe Kazan) und Megan Twohey (Carey Mulligan) bei ihrer Arbeit, die alles andere als einfach ist. Denn die beiden Journalistinnen führen Telefongespräche, bei denen aufgelegt, gelogen oder geweint wird, sie werden bedroht und fahren zu mutmasslichen Opfern Weinsteins nach Hause, wo sie mit ihnen sprechen und Wunden aufreissen, ohne sie (zunächst) davon überzeugen zu können, an die Öffentlichkeit zu gehen. Zu gross ist die Angst, zu viele Unterlassungserklärungen sind unterschrieben worden. Der Frust der Journalistinnen wächst, aber sie spüren, dass sie hier etwas Gravierendem auf der Spur sind, nämlich institutionalisiertem Machtmissbrauch, daher machen sie weiter.
Als Zuschauerinnen haben wir ihnen voraus, dass wir wissen, wie die Geschichte ausgeht: Artikel veröffentlicht, Produzent verurteilt, beispiellose Welle an Aufmerksamkeit für Fälle von Machtmissbrauch auf der ganzen Welt, Pulitzer-Preis, erhöhte Aufmerksamkeit für sexuelle Belästigung in vielen Teilen der Erde.
Wir kennen das Ziel. Wir sitzen hier, weil wir den Weg sehen wollen.
Dieser Weg ist zäh, wenig glamourös und manchmal passieren auch «New York Times»-Journalistinnen grobe Schnitzer. Das Drehbuch zu «She Said» basiert auf dem gleichnamigen Buch von Kantor und Twohey, und sie haben darin nicht nur geschildert, was sie alles richtig gemacht haben, sondern auch, was bei der Arbeit schieflief.
«Du musst dich nicht entschuldigen»
Einen Rückschlag erleben wir im Film mit, als Jodi Kantor eines der mutmasslichen Opfer Weinsteins zu Hause in Kalifornien besucht und in der Einfahrt des Hauses nur den Ehemann antrifft. Seine Frau sei verreist, erzählt der Mann. Er fragt, was Kantor wolle. Kantor gibt zu, Journalistin zu sein und irgendwie rutscht ihr heraus, dass sie mit der Frau des Hauses über eine Unterlassungserklärung sprechen möchte, die diese mal unterzeichnet hat. Darauf der Mann: «Sehe ich aus wie der Mann einer Frau, die eine Unterlassungserklärung unterzeichnet?»
Noch während Kantor spricht, wird ihr bewusst, dass sie das jetzt lieber nicht hätte sagen sollen, dass sie nicht nur eine potenzielle Quelle verraten hat, bevor sie diese überhaupt getroffen hat, sondern vermutlich auch noch eine Ehekrise ausgelöst hat. Was die Schauspielerin Zoe Kazan während dieser Szene an sympathischer Zerknirschtheit abliefert, ist ein wunderbares Zusammenspiel von Stirn und Gehirn, die sich gegenseitig zu fragen scheinen: «Wie dämlich bist du denn?»
Kazan gelingt es auch, die Frage nicht mit der nächsten Szene wegzuwischen. Der Fehltritt schwebt noch über ihrer Figur, als die sich tags darauf mit der nächsten Gesprächspartnerin Zelda Perkins in London trifft, und bleibt an ihr haften, bis sie einen Anruf von Rowena Chiu erhält, der Frau mit der Unterlassungserklärung, die sie in Kalifornien treffen wollte: Sie ist nicht böse. Sie will reden. Uff.
Die Schauspielerin Carey Mulligan ist in die Rolle der von Anfang an als taffer und auch trotz Depressionen etwas eindimensionaler dargestellten Megan Twohey geschlüpft, die bei der Konfrontation schwieriger Gesprächspartner wie Donald Trump oder Harvey Weinstein eine beneidenswerte Routine an den Tag legt. Auch an Twohey gehen die Erzählungen der missbrauchten Frauen nicht spurlos vorüber. Als sie mit ihrer Kollegin Kantor und der Chefin des Investigativbüros in einer Bar die neuesten Entwicklungen austauschen will, schreit sie einen Mann an, der mit einem dummen Anmachspruch vorbeikommt. «Sorry», sagt sie nach der Szene zu ihren Kolleginnen, und Kantor gibt zurück: «Du musst dich nicht entschuldigen.»
Der Mann ist ausfallend geworden. Der Mann hat nicht lockergelassen.
Mit der kleinen Szene vergegenwärtigt Schrader natürlich, dass es ums Ganze geht. Die Journalistinnen halten mit ihrer Recherche einen Hebel in den Händen, der dazu taugt, jahrzehntealte patriarchale Muster zu zerstören; Muster, die sie selbst verinnerlicht haben. Sich zu entschuldigen, nachdem man belästigt wurde, zum Beispiel.
Auch die Schauspielerin Katherine Kendall, die nach der Veröffentlichung der Vorwürfe in einem Podcast der «New York Times» aussagte, von Harvey Weinstein belästigt worden zu sein, hat die Schuld zunächst bei sich gesucht. Wie Dreck habe sie sich gefühlt, nachdem Harvey Weinstein ihr in seinem Hotelzimmer nackt mit seiner schieren körperlichen Masse die Tür versperrt hatte. Sie habe gedacht, sicher sei es etwas gewesen, das sie provoziert hätte. Sie erinnert sich an einen Gedanken, den sie nach dem Vorfall hatte: «I bet it’s just you» – «Ich wette, das ist nur dir passiert.»
Das System Weinstein ist das Problem
Im Buch «She Said» ebenso wie in der Verfilmung wird deutlich, wie viel Sensibilität und menschliches Gespür notwendig waren, um die teilweise massiv sexuell belästigten, teilweise vergewaltigten Frauen dazu zu bringen, sich zu öffnen. Maria Schrader wusste, dass die betroffenen Frauen, deren Expertise und Geschichten sie und ihr Cast für den Film erneut einholten, vor der Gefahr standen, eine Retraumatisierung zu erleiden.
Schraders Sensibilitätsansatz ist bis in die Figurenwahl konsistent. Denn nicht auf den Schauspielerinnen wie Ashley Judd (die sich selbst spielt) oder Gwyneth Paltrow (die dem Film ihre Stimme leiht) liegt der grösste Fokus, sondern auf den Menschen, die im Hintergrund für Harvey Weinsteins Produktionsfirma Miramax tätig waren. Zelda Perkins (gespielt von Samantha Morton), Laura Madden (gespielt von Jennifer Ehle) und Rowena Chiu (gespielt von Angela Yeoh), die alle als Assistentinnen für Weinstein arbeiteten. Es geht um ein System.
Vom System landet man schnell beim Pathos, und ohne Pathos kommt auch dieser Film nicht ganz aus. Das ist beinahe der Sache inhärent, dem Genre des «Journalistenfilms», der «She Said» nun mal immer auch ist. David gegen Goliath ist die Grunderzählung, ein kleines Team (okay, einer renommierten Zeitung, aber trotzdem) kämpft gegen die sehr viel mächtigeren Bösen mit den Millionen und ihrer erkauften Sicherheit.
Die pathetische Anlage kann man der Regisseurin also nicht vorwerfen. Aber ist der Rest des Films, die Systemerzählung, die Geschichte zahlreicher Opfer, die endlich Mut fassen, aufzustehen, überhaupt pathosfrei darstellbar?
Maria Schrader hätte es fast geschafft.
Stutzen muss man bei der Szene, in der die an Brustkrebs erkrankte Laura Madden noch Minuten vor ihrer Mastektomie die Journalistinnen anruft, um zu verkünden, dass sie bereit sei, mit Namen in der «Times»-Geschichte genannt zu werden. Nach dem Anruf wird Madden weinend in den OP geschoben – im Buch lagen zwischen dem Anruf Maddens und ihrer OP immerhin ein paar Tage. Die Szene und ihre zugespitzte Dramaturgie fallen spürbar aus dem unaufgeregten Fahrwasser von «She Said» heraus, sie stören gerade deshalb, weil der Rest des Films sich bis auf dramatisch anschwellende Geigenmusik bewusst gegen Verkitschung stellt.
Schrader hat dem Film beispielsweise extra Szenen hinzugefügt, die nicht im Buch vorkommen: Sie zeigen Hauptfiguren, die zwischen der Anforderung, gute Mütter und Partnerinnen zu sein, und dem Druck, ihre zeitintensive Arbeit nicht zu vernachlässigen, beinahe zerrieben werden.
Harvey Weinstein taucht in «She Said» übrigens allenfalls als Hinterkopf auf. Eine Bühne für seine Taten ist der Film nicht geworden, was ein ziemlicher Geniestreich Schraders ist angesichts der Vorlagen, die sich geboten hätten.
Sprung ins Jetzt. Die Beratungen der Jury im zweiten Strafprozess gegen Weinstein in L.A. dauern nach einer Woche weiter an, ein Urteil dürfte in den nächsten Tagen fallen. In New York wurde Weinstein bereits zu 23 Jahren Haft verurteilt, dieses Urteil darf er, wie die letzte Instanz 2022 entschied, anfechten. Ein Prozess in London steht noch aus.
In «She Said» hören wir die Journalistinnen einmal darüber sprechen, wie sie die Arbeit mit den immer neuen Details und die aufreibenden Aussagen der Frauen persönlich mitnehmen. Als Jodi Kantor ihre Kollegin Megan Twohey im Film einmal fragt, ob sie bereue, die Recherche begonnen zu haben, antwortet die: «Meine grösste Sorge ist, dass es den Menschen egal ist.»
Maria Schrader (Regie): «She Said». Mit Carey Mulligan, Zoe Kazan, Patricia Clarkson u. a., USA, 2022. 129 Minuten. Seit 8. Dezember im Kino.