Knietief in der Inflation
So wie die Teuerungswelle in den letzten eineinhalb Jahren herangerollt ist, dürfte sie in den kommenden eineinhalb Jahren auch wieder abebben. Verschwindet sie gar ganz?
Von Simon Schmid (Text) und Pieter Van Eenoge (Illustration), 28.11.2022
Analogien sind ein billiges Stilmittel. Aber man kommt fast nicht ohne sie aus, wenn man in der Wirtschaft irgendetwas verständlich erklären will.
Stellen Sie sich deshalb Folgendes vor:
Sie stehen am Strand, die Hosenbeine hochgekrempelt, und geniessen, wie das Meer sanft Ihre Zehen umspült. Doch dann fährt in der Bucht ein grosses Schiff vorbei. Ein heftiger Windstoss kommt. Der Sand unter Ihren Füssen gibt nach. Und ehe Sie es sich versehen, stehen Sie knietief im Wasser.
Das ist die Situation, in der die Welt inflationstechnisch gerade steckt. Und es ist auch ein Bild, das zu verstehen hilft, wie es von hier aus weitergeht.
I. Was bisher geschah
Zur Erklärung: Die Inflation gibt an, wie stark die Preise steigen. Das Prinzip ist einfach. Wenn ein Warenkorb in einem Jahr 100 Franken kostet und im nächsten Jahr 110 Franken, dann beträgt die Inflation 10 Prozent. In dem Warenkorb sind Dinge enthalten wie Nahrungsmittel, Kleider, Möbel, Arztrechnungen, Benzin, Kinoeintritte oder Hotelübernachtungen – kurz: alles, wofür man als Durchschnittskonsumentin eben so Geld ausgibt.
Und zur Erinnerung: 10 Prozent, in diese Gegend ist die Inflation zuletzt in Europa und auch in den USA gestiegen. Das ist beunruhigend, denn normalerweise liegt sie bei plus/minus 2 Prozent, was auch den offiziellen Zielen entspricht. Diese Ziele wurden seit Frühling 2021 nicht mehr erreicht.
Wahrscheinlich haben Sie seither Verschiedenes über die Inflation gelesen. Und womöglich wissen Sie nicht, wie Sie das alles einordnen sollen. Wer oder was ist schuld an der Inflation? Und was kann man dagegen machen?
Nun: Denken Sie an das Bild vom Strand. Und stellen Sie sich die Inflation wie eine Welle vor – eine grosse Welle, die von verschiedenen Kräften zugleich angetrieben wird.
Zu diesen Kräften gehören:
Engpässe in der Lieferkette: Während der Pandemie wurden Fabriken geschlossen, es gab Wartezeiten beim Verladen auf Containerschiffe, der Welthandel geriet ins Stocken, Produkte und Ersatzteile aus China waren nicht verfügbar – kurz: Die globalen Lieferketten waren sehr angespannt. Entsprechend stiegen die Preise von allerlei importierten Produkten.
Berufliche Auszeiten und Frühpensionierungen: Zahlreiche Menschen haben während der Pandemie ihren Job verloren. Manche haben eine neue Beschäftigung gefunden. Andere haben sich aus der Arbeitswelt zurückgezogen oder sind nur zögerlich wieder in den Beruf eingestiegen. So war das Angebot an Arbeitskräften in den USA und zeitweise auch in Europa stark reduziert. Die Folgen: steigende Löhne, steigende Preise.
Aufgeschobener Konsum: Während der Lockdowns gaben Leute weniger Geld aus – ihre Ersparnisse nahmen zu. Später lief es genau umgekehrt: Konsumentinnen wollten das Ersparte ausgeben. Vor allem in Daten aus den USA zeigt sich dieses Muster. Das Problem: Viele Branchen – etwa das Gastgewerbe – waren noch nicht bereit, die hohe Nachfrage zu bedienen (unter anderem wegen Personalmangel). Das führte zu steigenden Preisen.
Unternehmensgewinne: Manche Firmen haben während der Pandemie gemerkt, dass sie Preiserhöhungen einfacher als erwartet durchsetzen konnten. Sprich, sie haben ihre Margen ausgeweitet und mehr Gewinn erzielt. Dass die Inflation im Anschluss an die Pandemie überraschend stark stieg, geht – vor allem in den USA – auch darauf zurück.
Rohstoffpreise: Schon vergangenes Jahr begannen die globalen Energie- und Nahrungsmittelpreise zu steigen – nachdem sie in der ersten Phase der Pandemie stark gefallen waren. Noch viel teurer wurden Rohstoffe wie etwa Erdöl, Erdgas, Weizen oder Speiseöl nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022. Unter all den Faktoren, welche die Inflation antreiben, ist das der wichtigste. In der Eurozone gehen rund zwei Drittel der Inflation darauf zurück. In den USA, die für ihre Öl- und Gasversorgung weniger vom Weltmarkt abhängen, ging zeitweise rund ein Drittel darauf zurück.
Geldpolitik: Als Reaktion auf die Pandemie haben die Notenbanken in den USA und in Europa ihre Bilanzen stark ausgeweitet. In den USA wurden anfänglich auch die Leitzinsen gesenkt. Das hat dafür gesorgt, dass sich Firmen mit Krediten versorgen konnten, aber es hat auch die Börse und den Immobilienmarkt ziemlich befeuert – und unter dem Strich etwas zu lockere Konditionen geschaffen für alle, die sich Geld leihen wollten.
Mieten: Vor allem in den USA sind die Immobilienpreise schon kurz nach Beginn der Pandemie stark gestiegen. Dies, weil Hypotheken günstig waren und viele Leute zusätzlichen Platzbedarf hatten. Ab 2021 erfasste diese Dynamik auch den Mietwohnungsmarkt. Statistisch gesehen geht gut ein Drittel der aktuellen US-Inflation auf steigende Mieten zurück.
Fiskalpolitik: Während der Pandemie wurden grosse Konjunkturpakete geschnürt. In den USA profitierten via Direktzahlungen vor allem die Haushalte davon, in Europa allerlei öffentliche Projekte sowie später via Subventionen – etwa auf Benzin oder Erdgas– ebenfalls die Haushalte. Dies ist ein Novum gegenüber früheren Krisen, die vor allem durch Geldpolitik bekämpft wurden, aber weniger durch Fiskalpolitik.
Schwache Währung: Der Euro hat innerhalb eines Jahres gegenüber dem Dollar rund 20 Prozent an Wert verloren. Damit verteuern sich für Europa auch die Energieimporte, was die Inflation zusätzlich antreibt. (Die Schweiz, die in diesem Text nur am Rande vorkommt, hat umgekehrt davon profitiert, dass der Franken stärker geworden ist: Importe sind so billiger geworden.)
Es ist schwierig, all diese Mechanismen exakt zu beziffern. Das liegt daran, dass sie praktisch zeitgleich abgelaufen sind: Noch bevor etwa die globalen Lieferketten wieder intakt waren, begannen schon die Energiepreise zu steigen. So überlagerten sich auch die inflationären Auswirkungen dieser Ereignisse.
Und so steht die Weltwirtschaft nun knietief in der Inflation.
Doch das wird ziemlich sicher nicht lange so bleiben.
II. Was jetzt geschieht
Eine Welle kann noch so gross sein – ab einem bestimmten Moment spült sie nicht noch mehr Wasser an, sondern das Wasser fliesst wieder weg. Das ist so, wenn man am Meer steht, und genauso ist es auch bei der Inflation.
In den USA sind die Anzeichen dafür bereits deutlich. Die Inflation hat hier im Juni ihren Spitzenwert erreicht – seither hat sich das Wachstum der Konsumentenpreise verlangsamt. In der Eurozone ist die Inflation zwar bis zuletzt angestiegen, doch auch hier prognostizieren Wirtschaftsinstitute, dass sich die Situation über die kommenden Quartale hinweg entspannt.
Folgende Gründe sind dafür verantwortlich:
1. Die externen Triebkräfte lassen nach
Dass es in Europa einen Gasmangel geben würde: Diese Sorge war im August am grössten. Der Gaspreis im Grosshandel stieg damals ins Astronomische.
Heute sind die Aussichten besser. Die EU hat ihre Versorgung fürs Erste gesichert, dank Flüssiggasimporten und einem bislang milden Herbst. So ist der Preis von Erdgas wieder markant gefallen, ungefähr auf das Niveau, auf dem er vor Ausbruch des Russland-Ukraine-Kriegs stand.
Das bedeutet, dass Haushalte mit Gasheizung wieder weniger Geld ausgeben müssen und dass die Energiekosten in Branchen wie der chemischen Industrie zurückgehen.
Ähnlich ist es beim Erdöl. Auch hier kann man noch nicht von niedrigen Preisen sprechen – aber im Vergleich zu den Höchstständen von Mitte Jahr ist der Ölpreis trotzdem gesunken. Das gilt für die USA ebenso wie für Europa. So wird Benzin und Diesel an der Tankstelle wieder günstiger, und auch viele weitere Waren und Dienstleistungen können wieder billiger angeboten werden – weil die herstellenden Firmen kleinere Produktions- und Transportkosten haben.
Bei den Nahrungsmitteln ist das Bild ähnlich: Getreide wie Weizen, Gerste und Mais sowie Speiseöl, Milchprodukte, Fleisch und Zucker kosten gemäss einem Index, der den Welthandelspreis für all diese Kategorien zusammenfasst, etwa so viel wie vor einem Jahr. Das ist zwar immer noch deutlich mehr als vor der Pandemie. Aber es ist auch deutlich weniger als in den ersten Monaten nach der russischen Invasion.
Dann, die Arbeitstätigen. Manche schätzen das Gesundheitsrisiko, das vom Coronavirus ausgeht, inzwischen weniger gravierend ein. Andere können sich ein Dasein ohne Job nicht mehr leisten, weil die Arbeitslosengelder auslaufen. Und nochmals andere haben ein Sabbatical hinter sich und sitzen jetzt wieder am Schreibtisch (Ihr Autor lässt grüssen). Aus diesen und wohl noch weiteren Gründen partizipieren inzwischen wieder mehr Menschen am Arbeitsleben – die «Grosse Resignation» ist zum Grossteil passé – und mit ihr auch der exzessive Aufwärtsdruck auf die Löhne, der zuletzt geherrscht hat.
Und schliesslich: die Lieferkettenprobleme. Auch sie sind gemäss einschlägigen Statistiken weitgehend entschärft. Container zu verschiffen, ist nach der Preisexplosion vor gut einem Jahr wieder massiv günstiger geworden.
Und auch die Lieferfristen sind wieder deutlich kürzer. Das gilt zwar nicht für alle Produkte: Wenn ein europäischer Autohersteller etwa Halbleiter in einer chinesischen Fabrik bestellt, dauert es noch immer ein halbes Jahr, bis die Computerchips eintreffen – vor der Pandemie dauerte das ungefähr halb so lang. Doch der Trend zeigt auch hier in die richtige Richtung. Seit der Pandemie wurde zudem enorm in die Halbleiterfabrikation investiert – so stark, dass jetzt bereits die Frage im Raum steht, ob es in der Halbleiterindustrie bald Überkapazitäten geben wird.
Nach und nach klingen also viele der Störfaktoren ab, welche die Wirtschaft während der Pandemie durcheinandergebracht haben. Doch nicht nur die äusseren Einflüsse, welche die Inflation angetrieben haben, gehen jetzt zurück: Auch die inflationäre Dynamik innerhalb der Wirtschaft nimmt ab.
2. Selbstkorrigierende Mechanismen setzen ein
«Das beste Mittel gegen hohe Preise sind hohe Preise», lautet ein Bonmot unter Volkswirten (nicht nur Analogien sind in diesem Metier beliebt: auch altkluge Sentenzen, die man im passenden Kontext einwerfen kann).
Die Redewendung bringt zum Ausdruck, dass sich die Wirtschaft zu einem gewissen Grad von selbst an veränderte Umstände anpasst. Werden Dinge teurer, dann sinkt einerseits die Nachfrage nach diesen Dingen, weil Konsumenten weniger davon verbrauchen. Andererseits sind hohe Preise ein Signal für Produzentinnen, dass es sich lohnt, in die Herstellung dieser Dinge zu investieren. So sinken die Preise nach einer Weile wieder.
Je anpassungsfähiger eine Wirtschaft ist, desto schneller kann sie einen Preisanstieg – etwa bei Rohstoffen – verdauen. Erste Anzeichen dafür, dass ein Anpassungsprozess bereits in Gang gekommen ist, sind vorhanden: So haben sich in manchen europäischen Ländern etwa die Verkaufszahlen von Wärmepumpen verdoppelt. Das dämpft die Nachfrage nach Erdgas und mindert den Preisdruck. Und in Deutschland wurde diesen Frühling wegen der hohen Preise offenbar auch weniger Benzin getankt.
Wie stark der Öl- und Gaspreis und damit auch die Gesamtinflation durch solche Umstellungen gebremst wird, ist freilich schwer zu beziffern.
Mehr ins Gewicht fällt vermutlich, dass den meisten Industrieländern nun ein Abschwung bevorsteht. Anders als für 2021 und 2022 wird für 2023 mit einem sehr schwachen Wachstum gerechnet. Das ist mit eine Folge der aktuellen Inflation – und wirkt im Gegenzug dämpfend auf die künftige Inflation. Denn: Wenn sich die Konjunktur abschwächt, sinkt in aller Regel (es gibt jedenfalls kein ökonomisches Modell, in dem das nicht so wäre) auch die Teuerung.
Erwähnt werden muss schliesslich noch ein letzter Mechanismus. Dieser ist zwar banal, geht aber trotzdem oft vergessen: der sogenannte Basiseffekt.
Dieser Effekt hat zur Folge, dass ein einmaliges Ereignis – wie etwa ein Energiepreisanstieg – ein ganzes Jahr lang ununterbrochen Schlagzeilen macht («Schon wieder 10 Prozent Inflation?!»). Leicht entsteht in solchen Situationen der Eindruck, ein neuer Normalzustand habe sich eingestellt.
Aber spätestens nach einem Jahr fällt die ausgewiesene Inflation wieder auf ihren ursprünglichen Wert zurück, weil dann der Basiseffekt ausläuft.
Ich will es genau wissen: Was ist der Basiseffekt?
Die Inflation wird üblicherweise mit einem Abstand von zwölf Monaten gemessen. Man vergleicht etwa die Preise im Oktober 2022 mit jenen im Oktober 2021 und jene im November 2022 mit jenen im November 2021.
Steigen die Preise nun in einem bestimmten Monat um den Faktor X, zum Beispiel um 10 Prozent, dann beträgt die ausgewiesene Inflation in allen elf darauffolgenden Monaten ebenfalls 10 Prozent – auch wenn sich die Preise in diesen elf Monaten effektiv gar nicht mehr verändern.
Doch im zwölften Monat springt die Inflation von 10 Prozent plötzlich wieder auf null. Warum? Weil der ursprüngliche Anstieg dann nicht mehr in die einjährige Zeitperiode fällt, die der Messung zugrunde liegt.
Dies ist in der jetzigen Situation relevant, weil der Basiseffekt für viele Güter, deren Preise 2022 gestiegen sind, 2023 auslaufen oder sogar ins Negative drehen wird.
Oder, um es nochmals ganz deutlich zu sagen: Es kann ab jetzt zwölf Monate lang nichts passieren – und die Inflation sinkt automatisch.
3. Politische Interventionen
Wenn die Inflation in naher Zukunft sinkt, dann liegt das aber nicht nur an ökonomischen Prozessen, die sich von selbst einstellen. Sondern auch am Zutun der Politik. Und dabei allen voran: am Kurswechsel der Notenbanken.
Angeführt von der amerikanischen Federal Reserve haben zahlreiche Notenbanken dieses Jahr ihre Geldpolitik gestrafft. Dies aus Furcht, dass sich die Inflation verfestigen könnte: Arbeitnehmer könnten wegen der steigenden Preise mehr Lohn verlangen, Arbeitgeberinnen könnten wegen der steigenden Löhne noch höhere Preise verlangen. So könnte eine ungute Dynamik einsetzen, welche die Inflation auf Dauer hoch hält.
Die Federal Reserve hat deshalb bereits im Frühling begonnen, die Leitzinsen anzuheben. Ausgehend von 0 Prozent ist sie inzwischen bei fast 4 Prozent angelangt. Die Europäische Zentralbank ist ihr im Sommer gefolgt und steht bei 2 Prozent. Die Interventionen dienen dazu, die Konjunktur zu bremsen, und sie sollen dem Publikum signalisieren: «Wir tun alles, um die Inflation zu bekämpfen.»
Das scheint vorerst gelungen. In den USA bleiben Konsumenten gemäss Umfragen davon überzeugt, dass die Inflation spätestens nach drei bis fünf Jahren wieder nahe am Ziel von 2 Prozent liegen wird. Ähnlich ist es, gemessen an den Erwartungen von Finanzmarktteilnehmern, auch in der Euro-Zone.
Das ist wichtig, weil solche Erwartungen in der Wirtschaft wie eine selbsterfüllende Prophezeiung wirken. Wird eine tiefe Inflation erwartet, dann ist die Chance gross, dass die Inflation tatsächlich auch tief sein wird.
So dürfte es ab 2023 nach allgemeiner Einschätzung mit der Inflation abwärts gehen – in den USA etwas rascher, weil dort die Teuerung stärker von der Binnenkonjunktur abhängt und weil die Geldpolitik bereits recht restriktiv ist; in Europa etwas langsamer, weil hier die Teuerung mehr von importierten Produkten abhängt und weil die Geldpolitik bislang weniger gestrafft wurde.
Doch nicht alle Beobachter teilen diese Prognose. So ist unter Journalisten und sogar unter Notenbankerinnen eine gegenteilige These gerade ziemlich en vogue. Sie besagt, dass die momentane Inflationswelle nur partiell abebben wird – sodass die Inflation zwar wieder sinkt, aber danach über längere Zeit über dem Pegel verharrt, wo sie die Notenbanken eigentlich gerne sähen.
III. Worauf es hinausläuft
Hintergrund dieser These, dass die Inflation noch länger auf einem höheren Pegel bleiben wird, sind eine Reihe fundamentaler Veränderungen, die in der Weltwirtschaft gerade stattzufinden scheinen. Diese könnten in der Tendenz inflationstreibend sein und in ihrem Zusammenspiel eine neue Ära einleiten, in der die Teuerung generell höher liegt als vor der Pandemie.
Die Veränderungen betreffen etwa:
Die Demografie: Wenn die Weltbevölkerung altert (was sie in Zukunft zweifellos tun wird, im Westen wie auch in China), dann sind weniger Menschen arbeitstätig und mehr Menschen in Rente. Das bedeutet: Es wird anteilsmässig weniger produziert und mehr konsumiert. Und das wiederum führt zu höheren Preisen. Anders als in den 2010er-Jahren, in denen die Inflation aussergewöhnlich tief war (weil viele Leute kurz vor der Pensionierung standen und deshalb viel Geld zur Seite legten anstatt es auszugeben), könnte die Inflation in den 2020er-Jahren deshalb aussergewöhnlich hoch ausfallen (weil diese Leute nun tatsächlich pensioniert sind und ihr erspartes Geld zunehmend ausgeben wollen).
Das Energiesystem: Wegen der Energiewende könnten die Energiepreise steigen. Dies, weil es a) aus politischen Gründen (CO2-Bepreisung) keinen vermeintlich billigen Fossilstrom und keine billigen fossilen Treibstoffe mehr gibt, weil b) mehr und mehr vermeintlich teure Energie erneuerbar gewonnen wird und weil c) die erneuerbaren Energien und Anwendungen (etwa Elektroautos) grosse Mengen an Rohstoffen benötigen (etwa Lithium) und auch diese Rohstoffe immer teurer werden. Diese Idee wird seit gut einem Jahr unter dem Schlagwort «Greenflation» diskutiert.
Die Geopolitik: Die Vereinigten Staaten und China sehen sich zunehmend als Konkurrenten. Das beeinflusst auch die Wirtschaftspolitik: Statt dass der Handel weiter liberalisiert wird, werden Schranken errichtet – in Form von Zöllen auf importierte Produkte und in Form von Subventionen oder Herkunftsbestimmungen, die der heimischen Industrie helfen sollen. So scheint die Globalisierung zunehmend zu erlahmen. Statt Offshoring ist «Reshoring» in aller Munde: Lieferketten, die vormals um die ganze Welt reichten, werden zunehmend wieder national oder regional ausgelegt. All das verteuert – so die Vermutung – unter dem Strich die Produktion.
Finanz- und Geldpolitik: Im Nachgang zur Finanzkrise überliessen es die Regierungen mehrheitlich den Notenbanken, die Konjunktur anzukurbeln. Diese Arbeitsteilung gilt als Auslaufmodell. Während der Pandemie haben Staaten viel Geld ausgegeben, um Firmen und Haushalte zu unterstützen. Und seit Beginn des Russland-Ukraine-Kriegs fliessen zusätzlich Subventionen in den Energiekonsum. So werden vermehrt Defizite in Kauf genommen, und die Schulden steigen. Liegt es da überhaupt drin, dass Notenbanken mit hohen Zinsen die Inflation bekämpfen? Nein, glauben manche Volkswirte und folgern daraus, dass die Inflationsraten künftig höher sein werden.
Unterhält man sich mit Ökonominnen, die in der Finanzindustrie tätig sind – Wirtschaftsjournalisten tun das gerne, wenn sie nicht weiterwissen (und natürlich auch weil diese Leute gut informiert sind) –, so bekommt man durchaus den Eindruck, dass an diesen Thesen etwas dran sein könnte.
«Im Zuge der Globalisierung und insbesondere seit Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation um die Jahrtausendwende konnten viele Produkte immer günstiger hergestellt werden», sagt Raphael Olszyna-Marzys, ein Spezialist für internationale Ökonomie bei der Bank J. Safra Sarasin. «Wenn die Globalisierung jetzt zum Erliegen kommt und die Weltwirtschaft in einzelne Handelsblöcke zerfällt, dann fallen diese deflationären Kräfte weg oder kehren sich sogar um, und es entsteht Aufwärtsdruck auf die Preise.»
Auch wenn die Logik hinter solchen Aussagen Sinn ergibt: Quantitativ beurteilen lassen sie sich nur schlecht. Denn erstens gibt es kaum Studien, die sich mit den inflationären Auswirkungen einer möglichen Deglobalisierung beschäftigen. Man kann kaum beziffern, ob die Inflation deswegen nur wenig steigen könnte (etwa: um 0,1 Prozent) oder sehr stark (zum Beispiel: um 1 Prozent, was einem echten Epochenwechsel gleichkäme).
Zweitens ist unklar, ob die besagten Trends wirklich auch eintreten. «Es ist immer wieder erstaunlich, wie anpassungsfähig die Weltwirtschaft ist», sagt Marc Brütsch, Chefökonom bei der Versicherung Swiss Life. Falle ein Land als Produktionsstandort aus, würden vielfach rasch neue Standorte gefunden. Ein Beispiel dafür sei die Fertigung von sogenannten Kabelbäumen für die Autoindustrie: Sie wurde wegen des Krieges kurzerhand von der Ukraine nach Marokko verlegt. «Ich glaube deshalb nicht an die Deglobalisierungsthese», sagt Brütsch.
Drittens gibt es zu vielen Argumenten auch passende Gegenargumente.
Erneuerbare Energien? Müssen nicht unbedingt teurer sein als fossile – das weiss jeder, der sein Auto mit Strom statt mit Benzin tankt und der schon mal die Kostenentwicklungskurve von Solarpanels angeschaut hat.
Steigende Schulden? Wäre das wirklich ein Inflationstreiber: Warum ist dann die Inflation nicht schon nach der Finanzkrise gestiegen oder im Verlauf der letzten vierzig Jahre (die Schulden steigen schon seit 1980)?
Demografie? Ja sicher, die Bevölkerung wird älter. Aber die Menschen arbeiten seit einigen Jahren auch wieder länger, und sie müssen ihre Ausgaben als Rentner wegen der längeren Lebenserwartung besser einteilen. Das könnte die demografisch-ökonomische Wende abfedern.
«Wie sich die Inflation über den Horizont von zwei bis drei Jahren hinaus entwickelt, ist sehr schwer einzuschätzen», sagt Anastassios Frangulidis, Anlagestratege bei Pictet Asset Management. Wahrscheinlich werde man in den 2020er-Jahren weniger über Deflation diskutieren als in den 2010er-Jahren. «Aber auch nicht so viel über Inflation wie in den 1970er-Jahren.»
Und damit zurück ans Meer, an den idyllischen Sandstrand, wo eine grössere Welle gerade einige Leute ziemlich erschreckt hat.
Fühlen Sie schon, wie sich das Wasser wieder zurückzieht?