Symbolbeladen: Beim Sturm aufs Kapitol im Januar 2021 treffen sich der britische Verschwörer Guy Fawkes und der «bald eagle», der Weisskopfseeadler, das Wappentier der USA. Mark Peterson/The New York Times/Redux/laif

«Der Trump-Extremismus zieht nicht mehr»

Der Politologe Yascha Mounk gehört zu den eindringlichen Warnern vor der Bedrohung der westlichen Demokratien. Das Ergebnis der amerikanischen Wahlen stimmt ihn aber zuversichtlicher. Ein Gespräch über Polarisierung, Kultur­kampf und die politische Zukunft der USA.

Von Daniel Binswanger, 24.11.2022

Vorgelesen von Regula Imboden
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Yascha Mounk, nachdem Donald Trump gewählt worden war, haben Sie ein Buch mit dem Titel «Der Zerfall der Demokratie» geschrieben. Was ist Ihr Take-away von diesen Midterm-Wahlen?
Die Demokraten sind sehr glimpflich davon­gekommen. Die Umfragen zeigen, dass sie momentan unbeliebt sind, Präsident Biden ist sogar sehr unbeliebt. Normaler­weise verliert die Partei, die das Weisse Haus innehat, in den ersten midterms einer Präsidentschaft ja sehr viele Sitze im Kongress. Diesmal jedoch ist es anders: Die Demokraten halten ihre Mehrheit im Senat und bauen sie vielleicht sogar aus. Das Repräsentanten­haus haben sie verloren, aber nur sehr knapp.

Ihre Erklärung?
Es gibt Demokraten, die nun behaupten, sie seien eben doch beliebter, als es in den Umfragen scheine. Die amerikanische Bevölkerung sei stärker auf der Linie der Demokratischen Partei, als die Medien es behaupten würden. Ich glaube nicht, dass das zutrifft. Ich vermute, dass viele Wählerinnen richtiger­weise zum Schluss gekommen sind, dass die republikanischen Kandidaten viel extremer waren als die Kandidaten der Demokratischen Partei. Und dass sie letztlich eine Wahl für das aus ihrer Sicht kleinere Übel getroffen haben. Viele Wähler dachten sich wohl: Die Demokraten sind zwar ausserhalb des Main­streams, die Partei steht für uns eigentlich zu weit links, aber die Republikaner sind noch weiter ausserhalb des Main­streams und stehen viel zu weit rechts. Also wählen wir halt die Demokraten.

Das kleinere Übel? Das ist keine besonders euphorische Interpretation des demokratischen Erfolgs.
Nein, aber es ist zunächst mal eine grosse Erleichterung. Es beweist, dass der Appetit für Donald Trump und seinen Politikstil abebbt, besonders bei den Wechsel­wählern. Sie haben die Schnauze voll von ihm, und damit verkleinert sich die Wahrscheinlichkeit, dass Trump 2024 wiedergewählt wird. Allerdings ist auch deutlich geworden, dass der demokratische Erfolg sich nicht von selbst versteht: Wo die Republikaner mit relativ moderaten Kandidaten angetreten sind, haben sie sehr gut abgeschnitten. Falls sie 2024 nicht Donald Trump ins Rennen schicken, sondern eine gemässigtere Figur, können sie den Demokraten gefährlich werden.

Zur Person

Hannah Assouline/Opale/laif

Der Politik­wissenschaftler Yascha Mounk ist aufgewachsen in Deutschland und lehrt heute an der Johns Hopkins University in Baltimore. Er ist deutsch-amerikanischer Doppelbürger. Einem grösseren Publikum wurde Mounk bekannt mit seinem Bestseller «Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechts­staat bedroht», der 2019 auf Deutsch erschien. Anfang dieses Jahres veröffentlichte er «Das grosse Experiment», ein Plädoyer für den liberalen Rechts­staat, für den die Diversität heutiger post­migrantischer Gesellschaften eine Heraus­forderung, aber auch eine Chance darstellt. Sein bisher wichtigstes Werk ist «The Age of Responsibility», eine profunde Analyse der heutigen Dominanz von «Eigenverantwortung» als gesellschaftlichem Grundwert. Mounk ist der Gründer der Online-Plattform «Persuasion», die sich dem Anspruch verpflichtet fühlt, auch in umstrittenen Themen­feldern der Identitäts­politik offene, respektvolle und kontroverse Debatten zu führen.

Entscheidend war also der Extremismus der Kandidatinnen, besonders derer, die der Trump-Bewegung nahestehen?
Dieser Extremismus zieht nicht mehr. 2016 war Donald Trump ein Novum in der amerikanischen Politik. Er hatte aus Sicht vieler Wähler etwas Aufregendes, Erfrischendes, Unkonventionelles. Und manche dachten sich: Wir geben ihm eine Chance. Er war im Vergleich zu den anderen republikanischen Präsidentschafts­anwärtern 2016 gerade auch bei wirtschaftlichen Fragen viel moderater. Beispielsweise vertrat er im Gegensatz zu anderen Kandidaten die Position, dass der Staat durchaus die Pflicht habe, die Bürgerinnen bei der Gesundheits­versicherung zu unterstützen. Der zweite wichtige Punkt war: Bei breiten Wähler­schichten war Hillary Clinton extrem unpopulär. Sie hat insbesondere bei kulturellen Themen einen recht radikalen Wahlkampf geführt und ist stark nach links gegangen. In dieser Lage sagten sich die Leute: Na gut, wir haben zwei relativ schlechte Wahl­möglichkeiten. Versuchen wir es also mal mit Trump.

Und jetzt ist dieser Versuch definitiv gescheitert?
Erstens wird Trump inzwischen viel stärker als der Extremist wahrgenommen, der er tatsächlich ist. Von seinen Versprechen hat er fast keines eingehalten. Heute redet er auch gar nicht mehr über die tolle Zukunft, die er Amerika bescheren will, sondern nur noch darüber, wie unfair er selbst behandelt worden sei. Sein Narzissmus ist noch erdrückender geworden. Zweitens führte Joe Biden 2020 eine moderatere Kampagne, als Hillary Clinton das 2016 tat. Und jetzt beobachten wir wieder ein analoges Phänomen: Die demokratischen Kandidaten, die in den swing districts gewinnen konnten, kommen aus dem eher moderaten Teil der Partei. Die midterms bestätigen deshalb: In der breiten Bevölkerung gibt es wohl keinen grossen Appetit mehr für Trump und die Maga-Republikaner. Aber die Demokraten bleiben weiterhin verwundbar, wenn sie als zu radikal betrachtet werden.

Ihre Schluss­folgerung lautet also: Radikalität schadet sowohl der Rechten wie der Linken. Der Erfolg liegt wieder in der Mitte. Es gibt aber auch die Gegenthese: dass sich die Sitz­zahlen deshalb nicht gross verschoben haben, weil die Polarisierung so stark ist. Dass ein sehr rechter Wähler­block einem sehr linken Wähler­block gegenüber­steht und deshalb die Parteien­landschaft erstarrt und Wechsel­wählerinnen selten werden. Das würde bedeuten, dass das Zentrum heute zunehmend irrelevant ist.
Von den midterms wird diese These aber nicht bestätigt. Man sieht es an folgendem Phänomen: Vor 20, 30 Jahren kam es relativ häufig vor, dass die Wählerinnen eines Bundes­staates sogenanntes vote splitting praktizierten, dass sie also bei der Wahl für den Senat zum Beispiel dem Republikaner ihre Stimme gaben und bei der Wahl fürs Gouverneurs­amt dem Demokraten. Seit einigen Jahrzehnten sagen uns die Politik­wissenschaften nun, dass dies kaum mehr vorkomme. Die Polarisierung sei so gross, dass fast alle Wählerinnen entweder immer zu den Demokraten oder immer zu den Republikanern halten. Folglich würden Wahlen nicht mehr von Wechsel­wählern, sondern nur noch durch die Mobilisierung der eigenen Basis entschieden. Aber jetzt stellen wir fest: Viele Wähler sind zum splitting zurückgekehrt, etwa in Georgia oder auch in Pennsylvania.

Hört ihr uns? Auf der Jahreskonferenz der republikanischen Aktivisten (CPAC), die 2021 in Florida stattfand. Mark Peterson/The New York Times/Redux/laif

Können Sie das etwas konkretisieren?
Nehmen Sie Georgia. Für das Gouverneurs­amt trat Brian Kemp, ein relativ moderater Republikaner, gegen Stacey Abrams an, eine sehr progressive Demokratin – und Kemp hat klar gewonnen. Im Senats­rennen dagegen kandidiert Herschel Walker, ein ideologisch sehr radikaler Republikaner und zudem eine skandal­beladene, problematische Persönlichkeit, gegen Raphael Warnock, einen eher moderaten Demokraten. Die beiden sind nun so nah beieinander, dass es zu einer zweiten Wahlrunde kommt. Auch in Pennsylvania gab es den Kontrast zwischen einem sehr radikalen republikanischen Kandidaten für das Gouverneurs­amt, der letztlich haushoch verloren hat, und einem vergleichsweise moderaten republikanischen Kandidaten für den Senatssitz, der zwar auch verlor, aber nur knapp. Insofern sehen wir bei dieser Wahl, dass nicht nur die Partei­zugehörigkeit wichtig ist, sondern auch die konkrete Positionierung der Kandidaten – und dass moderate Kandidaten sowohl bei den Republikanern als auch bei den Demokraten viel besser abgeschnitten haben.

Vote splitting ist also der Beweis, dass es doch noch so etwas gibt wie ein entscheidendes Zentrum in der amerikanischen Politik?
Die Mehrzahl der Wähler sind loyale Demokraten oder Republikaner – ganz egal, wer die Kandidaten sind, die man ihnen vorsetzt. Aber wenn es 10 oder 15 Prozent der Bevölkerung sind, die jedes Mal neu darüber entscheiden, für wen sie stimmen wollen, ist das bei weitem genug, um in einem Grossteil des Landes bei den Wahlen den Ausschlag zu geben. Ein wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist auch, dass die Theorie von der ethnischen Mobilisierung inzwischen widerlegt ist.

Ethnische Mobilisierung?
Seit zwei, drei Jahrzehnten ist die aus meiner Sicht gefährliche Theorie der «unausweichlich wachsenden demografischen Mehrheit» für die Demokraten populär. Diese Theorie geht davon aus, dass die Republikaner Probleme bekommen werden, weil die weissen Wähler, die mehrheitlich republikanisch stimmen, einen immer kleineren Teil der Gesamt­bevölkerung ausmachen. People of Color hingegen, nichtweisse Wähler, die traditionell zu den Demokraten halten, nähern sich immer mehr einer Mehrheits­position. Daraus wird dann geschlossen, dass sich die Demokraten auf eine fast zwangsläufige Ausdehnung ihrer Wählerschaft freuen dürfen.

So hat man vor sechs Jahren die Niederlage von Hillary Clinton theoretisiert. Man sagte: Jetzt kommt der Backlash der sich bedroht fühlenden weissen Mittel- und Unterschicht. Noch erreicht diese eine knappe Mehrheit. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis das demografisch nicht mehr möglich sein wird.
Vor allem war diese Theorie der Grund, warum niemand die Clinton-Niederlage kommen sah. Sowohl die «New York Times» als auch viele andere Medien verbreiteten die These, dass Clinton aufgrund der demografischen Trends gar nicht verlieren könne. Aber dann haben die Menschen eben doch nicht so abgestimmt, wie es prognostiziert wurde. Das haben wir auch wieder in den Wahlen 2018 und 2020 gesehen. Die Demokraten haben da relativ gut abgeschnitten, weil sie in den letzten Jahren wieder Zuspruch bei weissen Wählern zugewonnen haben. Die Republikaner konnten sich dagegen gerade 2020 besser halten als gedacht, weil sie unter nichtweissen Wählern zugelegt haben, besonders unter Latinos, aber auch darüber hinaus. Und diese Entwicklung passt nicht zur Theorie der Hyper­polarisierung, wo es nur noch auf die Mobilisierung der – zum Teil ethnisch verstandenen – Basis ankommen soll.

Ein Beispiel?
Nehmen wir noch einmal Stacey Abrams, die demokratische Kandidatin in Georgia. Sie ist gewisser­massen das Gesicht der Mobilisierungs­theorie. Sie war überzeugt, dass sie in einem Staat wie Georgia gewinnen könne, indem sie sich auf die Schwarzen, Latinos und asiatischen Wählerinnen konzentriert. Sie hat deshalb gar nicht gross den Versuch gemacht, zum Beispiel moderatere weisse Wähler in den Vororten von Atlanta von sich zu überzeugen. Jetzt aber hat sie die Wahl haushoch verloren. Raphael Warnock hingegen, der afro­amerikanische Kandidat im Senats­rennen in Georgia, hat eine völlig andere politische Strategie. Er ist während der Kampagne durch den gesamten Staat gereist, hat offensiv versucht, neue Wähler zu mobilisieren, beispielsweise auch in den weissen Vororten. Er hat jetzt in der kommenden Stichwahl gute Chancen, wieder in den Senat einzuziehen.

Man könnte dem entgegenhalten, dass Stacey Abrams mit ihrer fokussierten Strategie zwar selbst gescheitert ist, aber durch die Aktivierung der schwarzen Wählerinnen gewisser­massen den Boden gelegt hat für den Erfolg von Warnock. Auch wenn Warnock den Vorteil hat, auch noch andere Wähler­segmente anzusprechen.
Das mag sein. Dennoch hat er im ersten Wahlgang nur deshalb die Nase vorn, weil er Wählerinnen abholte, die Abrams abgeschrieben hat. Ich denke, die gesamte Theorie, die hinter Abrams’ Wahl­strategie steht, ist damit krachend widerlegt worden. Auch in Florida zeigt sich das sehr deutlich. Ich bin gerade in Miami, einem riesigen Ballungs­zentrum, das vor 20 oder 30 Jahren mit grosser Mehrheit demokratisch wählte. Die Demokraten dachten, dass sie aufgrund des raschen Zuwachses von Latino-Wählerinnen Florida schon bald für immer und ewig als sicheren Staat für sich verbuchen könnten. Moderate Demokraten, die versuchten, alle Wähler­gruppen anzusprechen, zum Beispiel Barack Obama, schafften es auch, in Florida zu gewinnen. Aber mittlerweile ist Florida quasi ein roter Staat geworden: republikanisches Terrain. Selbst in Miami, wo man auf der Strasse mindestens so viel Spanisch hört wie Englisch und wo die Kunden in Geschäften oft direkt auf Spanisch angesprochen werden, haben die Republikaner mittlerweile eine Mehrheit.

In Georgia werden die Senats­wahlen also in den white suburbs von Atlanta mitentschieden. In Florida gewinnt Ron DeSantis deshalb so deutlich, weil er auch Latino-Stimmen erobert. Wenn ich Sie richtig verstehe, bewerten Sie das als positiv.
Ich will nicht in einem Land leben, in dem ich auf die Strasse gehen und aufgrund der Hautfarbe eines Passanten mit grosser Wahrscheinlichkeit erkennen kann, für wen diese Person politisch stimmt. Ich habe mich mit dieser Frage in meinem letzten Buch «Das grosse Experiment» beschäftigt: Wenn wir darüber nachdenken, was es bedeutet, ethnisch und religiös sehr diverse Demokratien zusammen­zuhalten, dann ist klar, dass feste demografische Blöcke, die sich politisch gegenüber­stehen, ein Risiko darstellen. Ich halte es deshalb für die moralische Pflicht aller Politiker, über die eigene, historisch gewachsene Unterstützer­gruppe hinaus immer alle Mitbürger von sich überzeugen zu wollen.

Das heisst, der Erfolg von DeSantis unter den Latinos in Florida ist demokratie­politisch betrachtet eine gute Sache?
Jein. Ich bin sicher kein Fan von Ron DeSantis und freue mich im Allgemeinen nicht über republikanische Wahlerfolge – zumal die Partei weiterhin gefährliche Verschwörungs­theoretiker zu den letzten Präsidentschafts­wahlen in ihren Reihen duldet. Gleichzeitig halte ich es aber für ein positives Zeichen, wenn die vermeintliche ethnische Polarisierung der Bevölkerung nicht eintritt. Und Miami oder auch das starke Abschneiden der Republikaner im Süden von Texas legen nahe, dass die Theorie vom demografischen Determinismus empirisch falsch ist.

Sie sagen also, dass eine zu dominante Identitäts­politik zu gesellschaftlichen Flieh­kräften führt. Aber Identitäts­politik wird ja nicht nur im Hinblick auf ethnische Minderheiten betrieben. Und gerade DeSantis ist doch das Beispiel eines Politikers, der den identitäts­politischen Kultur­kampf sehr weit treibt, den «Anti-Wokismus» quasi ins Zentrum seiner Rhetorik stellt. Er erscheint als Polarisierer, nicht als Integrations­kraft. Steht das nicht im Widerspruch zu Ihrer Analyse?
Dem würde ich zwei Beobachtungen entgegen­halten. Einerseits beruht DeSantis’ Erfolg primär nicht auf der Kulturkampf-Rhetorik, sondern auf seiner Pandemie­politik. So kritisch man diese auch betrachten kann: DeSantis hat in Florida eine Covid-Strategie verfolgt, die der Mehrheits­meinung in seinem Staat entsprach. Dass die Restriktionen viel schneller gelockert wurden als anderswo, verschaffte ihm eine grosse Popularität. Zum Beispiel hielt Florida die öffentlichen Schulen offen, die in anderen Bundes­staaten zum Teil anderthalb Jahre lang geschlossen blieben, und ermöglichte es den Leuten, über die Zeit der Pandemie hinweg ein einiger­massen normales Leben zu führen. Das kam sicherlich zu einem hohen Preis – eine hohe Covid-Sterblichkeit –, aber es war ein Preis, den die Wähler anscheinend gerne akzeptiert haben. Wie immer man das bewerten mag: Aus Sicht der Wähler hat DeSantis geliefert. Andererseits spielen zwar die gesellschafts­politischen Themen in der Tat eine wichtige Rolle, und es trifft zu, dass es hier eine sehr starke Polarisierung gibt. Aber die demokratischen Positionen sind häufig noch viel unbeliebter als die der Republikaner – und erscheinen den Wählerinnen als radikaler. Auch das zeigt sich in dieser Wahl in Florida relativ klar.

Woran?
Nehmen Sie das für diese Wahlen so wichtige Thema der Abtreibung. Da DeSantis nicht in einem tief konservativen Staat regiert, ist er deutlich moderater positioniert als viele andere Republikaner, die Abtreibungen schlicht und einfach verbieten wollen. Florida hat schon im Vorfeld des Entscheids des Obersten Gerichtshofs, die verfassungs­rechtliche Garantie des Zugangs zur Abtreibung aufzuheben, ein Gesetz erlassen, das DeSantis mitgetragen hat und das im Wesentlichen der Fristen­lösung in europäischen Staaten ähnelt. So ist künftig in Florida die Abtreibung bis zur Vollendung der 15. Schwangerschafts­woche legal. Die Demokraten im Kongress dagegen haben für ein Abtreibungs­gesetz gestimmt, das es dem Staat verbietet, den Schwangerschafts­abbruch in jeglicher Form einzuschränken, bis der Fötus lebensfähig ist.

Mässigung hat also wieder Zugkraft, oder jedenfalls der Anschein von Mässigung. Aber die heutige Situation ist doch auch dadurch bestimmt, dass sich die Stimmen quasi paritätisch verteilen. In etwa die Hälfte der Sitze für die Demokraten, in etwa die Hälfte für die Republikaner. Das führt dazu, dass ganz kleine Verschiebungen die Mehrheits­verhältnisse drehen können, so wie es jetzt im Repräsentanten­haus geschieht. Das spricht doch gegen eine relevante Wechsel­wählerschaft im Zentrum der amerikanischen Politik.
Das beurteile ich anders. 2016 haben die Republikaner gerade im Repräsentanten­haus einen grossen Erfolg gefeiert und viele Sitze gewonnen. 2018 haben die Demokraten – weil viele Amerikanerinnen von Trump enttäuscht waren – dann ihrerseits eine deutliche Mehrheit erobert. Die Wahlen 2020 und 2022, da haben Sie recht, sind beide relativ knapp ausgegangen. Aber was würde geschehen, wenn eine der beiden Parteien es schaffen würde, einen charismatischen Politiker hervorzubringen, der die Mehrheits­meinung der Amerikaner klar zu vertreten weiss, etwa so wie Barack Obama das 2008 gelungen ist? Dann ist ein grosser Wahlsieg weiterhin möglich. Mich würde es nicht überraschen, wenn 2024 wieder zu einem deutlichen Wahlsieg führen würde, sofern eine der beiden Parteien den richtigen Kandidaten hat.

War es ein Aufruf zum Aufruhr? Die Rede von Trump vor dem Sturm aufs Kapitol wird ein Jahr später auf einer Anhörung im US-Repräsentantenhaus gezeigt. Mark Peterson/The New York Times/Redux/laif

Die bipolare Erstarrung wird wieder aufbrechen?
Dass die Bevölkerung in zwei Blöcke aus überzeugten Republikanern und überzeugten Demokratinnen geteilt sein soll, ist eine Täuschung. Es ist nicht wie mit den Fussballfans in Madrid: Die eine Hälfte liebt Atlético, die andere Real. Über die Parteien­präferenzen in den USA sagen uns die Umfragen etwas anderes: Fast zwei Drittel der Amerikaner mögen Donald Trump gar nicht, und fast zwei Drittel der Amerikaner sehen Joe Biden eher negativ. Auch die Beliebtheits­werte der Abgeordneten im Kongress, aus beiden Parteien, sind sehr tief. Das heisst, die Politik wird nicht bestimmt von der Begeisterung der Wählerinnen für eines der beiden Lager, sondern von dem Misstrauen gegenüber der Gegenseite. Viele Amerikanerinnen halten nur deshalb zu den Demokraten, weil sie die Republikaner als Gefahr wahrnehmen – und umgekehrt. Wenn ein Politiker es schaffen würde, diese Ängste zu entschärfen und einer grösseren Bandbreite von Amerikanerinnen aus der Seele zu reden, müsste sich deshalb eine weitreichende Koalition aufbauen lassen. Dann wäre auch ein sehr eindeutiger Sieg wieder möglich.

Aber steht dem nicht entgegen, dass der Kultur­kampf immer wichtiger zu werden scheint? 2016 hatte Trump noch so etwas wie ein Programm: gegen Freihandel, für die Favorisierung der amerikanischen Industrie und eine vermeintlich viel bessere, billigere Form von Obamacare. Heute dominieren die Werte­debatten, welche die Gesellschaft spalten.
Das ist richtig, aber das eigentliche Problem der Republikaner ist Donald Trump. Er versucht, mit den «kulturellen» Themen, also zum Beispiel der Verhinderung von Einwanderung, Punkte zu machen, vertritt dabei aber Thesen, die viel radikaler sind, als es sich der Mainstream-Wähler wünscht. Doch auch diese Debatten wirken nur noch vorgeschoben. Es scheint Trump nur noch um ihn selbst zu gehen, der Wahlsieg, der ihm gestohlen worden sein soll, die Untersuchungen des FBI, die Verfahren gegen seine Person. Das ist für viele Wählerinnen nur noch abstossend.

Jetzt sind wir bei der 1000-Dollar-Frage: Kommt endlich der Punkt, an dem die republikanische Parteielite von Trump abrückt? Er hat ja nun seine Kandidatur erklärt.
Das ist schwer zu prognostizieren. Wenn man sich die Umfragen anschaut, sagen 50 Prozent der Amerikaner, dass sie Trump überhaupt nicht mögen, und noch einmal 11 Prozent, dass sie ihn nicht mögen. Er wird sehr negativ bewertet, und nicht nur das: Er wird sehr intensiv negativ bewertet. Gleichzeitig gibt es aber 16 bis 17 Prozent der Amerikaner, die ihm sehr starke Zustimmung entgegen­bringen. Das ist eine relativ kleine Minderheit der Bevölkerung, aber bei den republikanischen Vorwahlen ist diese Minderheit natürlich überproportional repräsentiert. Die Frage ist deshalb, ob ein anderer Kandidat es schaffen kann, eine vergleichbar starke Gruppe von hoch motivierten Anhängern heranzuziehen und dadurch die Vorwahlen zu gewinnen. Das ist schwer vorherzusagen. Die Erfolg versprechende Strategie bei den republikanischen Vorwahlen wird vermutlich aber nicht darin bestehen, mit Trump abzurechnen. Sein Heraus­forderer wird mit der Botschaft antreten: Trump ist die Vergangenheit, ich bin die Zukunft. Selbst wenn die Republikaner schliesslich von Trump selber abrücken, wird es zumindest vorerst nicht zu einer entschlossenen Distanzierung vom Trumpianismus kommen – so sehr wir alle darauf hoffen.

Das Problem ist also nicht Trump, sondern die fanatische Basis, die Trump bisher unterstützt. Und die sich auch in Zukunft nicht in Luft auflösen wird.
In Luft auflösen nicht, aber diese Midterm-Wahlen stimmen mich doch etwas optimistischer. Das Problem bei Trump geht ja weit über die ideologisch radikalen Positionen hinaus, die er vertritt. Bedrohlich ist auch seine Persönlichkeit, sein Agieren in der Aussen­politik – und natürlich die Behauptung, er sei um seinen Sieg betrogen worden. Bei den midterms gab es nun zahlreiche republikanische Kandidaten, die ebenfalls die Legitimität der Wahlen 2020 infrage stellten und schon im Vorfeld ankündigten, auch beim jetzigen Urnengang könne es Unregel­mässigkeiten geben, und dann würden sie das Resultat nicht anerkennen. Praktisch alle diese Kandidatinnen sind gescheitert, und fast alle haben ihre Niederlage nun doch anerkannt, selbst ein Extremist wie Doug Mastriano in Pennsylvania. Dass die Republikaner eine zu Teilen so fanatisierte Basis haben, wird ein Problem bleiben, aber Trumps Angriff auf die amerikanische Demokratie ist durch diese Niederlage deutlich geschwächt.

Aber hat der Angriff auf die Demokratie nicht auch Gründe, die über Trump hinausgehen? Es gibt zum Beispiel die These, dass die Republikanische Partei zur Verwirklichung ihres heutigen Programms eigentlich eine Minderheiten­regierung anstreben muss, weil die Mischung aus Lobbying für pluto­kratische Sonder­interessen und eine sich bedroht fühlende weisse Unter- und Mittelschicht gar nicht mehrheits­fähig sein kann.
Mich überzeugt dieses Argument nicht richtig. Wir haben ja bereits diskutiert, dass DeSantis in Florida eine komfortable Mehrheit erobern konnte, obwohl gerade noch 51 Prozent der Bevölkerung weiss sind. DeSantis hat offensichtlich eine Strategie, die fähig ist, eine Mehrheit zu gewinnen. Ich habe auch den Eindruck, dass Teile der Republikanischen Partei langsam begreifen, dass eine Minderheiten­strategie nicht funktionieren wird. Sie werden nicht darum herumkommen, eine Politik zu verfolgen, die eine Mehrheit erobern kann. Natürlich bleiben extreme Positionen, die de facto zu einer Minderheiten­position führen, immer eine Versuchung. Aber auch die Demokraten sind nicht ganz frei davon.

In welchem Sinn?
Es entsteht manchmal der Eindruck, die Demokraten würden eine Minderheits­regierung der hoch qualifizierten Absolventen der amerikanischen Eliteunis anstreben – eine Minderheit, die mittlerweile sowohl die Partei als auch die Medien­landschaft in den USA extrem stark dominiert. Auf der Ebene der politischen Inhalte mag man das ja befürworten, aber es ist leider eine vollkommen unrealistische Strategie, denn gerade dieser Bevölkerungs­teil wird auf alle Zeiten in der Minderheit bleiben. Und solange die Demokraten vorrangig die Weltsicht dieser Zielgruppe vertreten, werden sie an der Urne immer wieder in die Bredouille kommen.

Joe Biden hat keine Elite­universität besucht.
Ja, das ist seine grosse Stärke. Er stammt aus einem älteren Teil der Demokratischen Partei und hat trotz seiner Jahrzehnte in der Politik zu den durchschnittlichen Amerikanern einen engeren Bezug als viele der Politiker, die die Partei heute vertreten. Ich denke, als linke Partei muss man sich Fragen stellen, wenn man in der Arbeiterklasse – und zwar nicht nur in der weissen Arbeiterklasse, sondern zum Beispiel auch unter Latinos, die nicht die Uni besucht haben – immer stärker an Rückhalt verliert. Langfristig ist eine Linke, die es nicht schafft, ärmere und weniger gut ausgebildete Menschen für sich zu gewinnen, keine linke Partei mehr.

Schon in Ihrem Buch «Der Zerfall der Demokratie» wenden Sie sich gegen die These des Politologen Ronald Inglehart, gemäss der wir in eine post­materialistische Welt eingetreten sind, in der es nicht mehr primär um Verteilungs­kämpfe, sondern um Werte­debatten geht. Sie sagen: Heute sind wir zurück­gekehrt in eine post-post-materialistische Welt. Aber Inglehart hat gemeinsam mit Pippa Norris ein Buch über das Trump-Phänomen und den Rechts­populismus in anderen Teilen der Welt veröffentlicht, das die These des Post­materialismus zu bestätigen scheint. Es scheinen nicht ökonomische, sondern kulturelle Fragen zu sein, die der populistischen Rechten zum Erfolg verhelfen.
Aus meiner Sicht ist es beides. Sowohl kulturelle als auch ökonomische Fragen sind wichtig, auch für den Erfolg von Trump. Die Strategie, um populistische Kräfte zu besiegen, kann deshalb nicht ausschliesslich auf dem Versprechen für guten wirtschaftlichen Ausgleich oder auf dem blossen Kultur­kampf für progressive Werte bestehen. Linke Parteien können gewinnen, wenn sie wirtschaftlich für Wachstum einstehen, aber auch den Sozialstaat klar und unzweideutig verteidigen. Genauso gibt es heute in Ländern wie der Schweiz, den USA, Gross­britannien auch in gesellschafts­politischen Fragen durchaus Mehrheiten für tolerante Positionen bei Themen wie Einwanderung, Gleich­stellung, Rechte von sexuellen Minderheiten, Klima­politik und Umwelt­schutz. Dazu müssen diese Themen aber auf eine vernünftige, relativ moderate Weise vertreten werden. Sonst treibt man die Leute in die Arme der intoleranten Rechten.