Warten auf den Bundesrat
Seit Monaten redet die Schweiz mit der EU darüber, worüber sie reden will. Nun findet die EU: Genug geredet. Warum die Schweizer Diplomatie Stoff für ein absurdes Theaterstück liefert.
Eine Analyse von Priscilla Imboden, 23.11.2022
Wladimir: Was sollen wir also machen?
Estragon: Gar nichts. Das ist klüger.
Ein klitzekleiner Silberstreifen am Horizont: So ungefähr stellt die Schweizer Staatssekretärin Livia Leu die aktuelle Lage dar, wenn sie nach den Beziehungen mit der EU gefragt wird. Man habe sich auf «ein gemeinsames Verständnis» geeinigt, sagte sie nach dem letzten Treffen mit Juraj Nociar, dem Kabinettschef von EU-Kommissionsvizepräsident Maroš Šefčovič.
Neu wollen die EU und die Schweiz ihre Beziehungen offensichtlich in Form eines Pakets regeln – um mit mehr Themen mehr Verhandlungsmasse zu haben. Laut Leu bietet das Paket «mehr Möglichkeiten für Kompromisse und Lösungen». Und Kompromisse (sprich: Ausnahmen) will die Schweiz, vor allem beim Lohnschutz und bei der Zuwanderung. Die EU hingegen pocht weiterhin darauf, dass eine Lösung gefunden wird in den sogenannten institutionellen Fragen: Wie passt sich die Schweiz an die sich wandelnden europäischen Gesetze an, die den Marktzugang zur EU regeln? Wer entscheidet im Streitfall? Und welche Rolle hat dann der Europäische Gerichtshof?
Man bleibe in Kontakt, liess das Eidgenössische Aussendepartement derweil verlauten. Ein weiterer Termin stehe aber noch nicht fest. Wie Radio SRF berichtete, sprach Aussenminister Ignazio Cassis im Bundesrat von Zugeständnissen der EU.
Das will EU-Botschafter Petros Mavromichalis jedoch nicht bestätigen. Fortschritte seien insofern zu erkennen, «als wir die Schweizer Position nun besser verstehen», sagt er zur Republik. Und: «Die exploratorischen Gespräche sind im Prinzip abgeschlossen. Es sind im Moment keine weiteren Treffen geplant.» Das hat man bisher so nicht gehört. Es ist eine klare Ansage. Und bedeutet: Als Nächstes müssen beide Seiten entscheiden, ob sie offiziell Verhandlungen aufnehmen wollen oder nicht.
Das Aussendepartement beschreibt den Stand der Dinge wie so oft allerdings etwas anders: Es blieben weiterhin offene Fragen bestehen, teilt ein Sprecher mit. «Die Gespräche werden so lange weitergeführt, bis eine Lösung gefunden ist, die für beide Seiten passt.»
Diese unterschiedlichen Aussagen sind bezeichnend. Die Schweiz und die EU nähern sich einander nur im Zeitlupentempo an. Nach sechs Gesprächsrunden, die sich über sieben Monate erstreckten, ist das Ergebnis ziemlich dürftig.
Zwar erklärte Staatssekretärin Livia Leu im September, die EU «spiele auf Zeit». Alle Hinweise deuten aber eher darauf hin, dass es nicht die EU ist, die für den schleppenden Fortschritt der Gespräche verantwortlich ist. Im November 2021 sagte EU-Kommissionsvizepräsident Šefčovič nach einem Treffen mit Cassis, er wolle schnelle Ergebnisse, in einem Jahr könne man viel erreichen. Doch der Schweizer Aussenminister trat schon damals auf die Bremse, indem er sagte, die Schweiz wolle zuerst mit der EU festlegen, worüber man reden wolle. Genau da stehen Bern und Brüssel heute immer noch – ein Jahr später.
Schon nachdem er dem Rahmenabkommen im Mai 2021 eine Abfuhr erteilt hatte, liess sich der Bundesrat neun Monate Zeit, bis er einen Plan vorlegte: eben diese Paketlösung. Sie ist eine Art Bilaterale III, die neben den bisherigen Themen auch neue aufnehmen soll – wie Gesundheit, Strom oder Kultur. Die Probleme bei den institutionellen Fragen bleiben aber die alten. Neue Lösungen sind nicht in Sicht.
Die Gesprächsbereitschaft in Brüssel blieb über diese ganze Zeit trotzdem bestehen. EU-Kommissionsvizepräsident Šefčovič schlug im Mai sogar vor, in die Schweiz zu reisen, um sich mit dem Bundesrat, den Gewerkschaften und allen interessierten Kreisen zu treffen. Die EU-Botschaft in der Schweiz stellte diesen Antrag auch offiziell an das Aussendepartement. Die Antwort: Bundesrat Ignazio Cassis habe am genannten Termin keine Zeit für den Besuch aus Brüssel, man schlage ein anderes Datum vor.
Darauf wartet die EU bis heute. Botschafter Mavromichalis sagt: «Vizepräsident Šefčovič ist jederzeit bereit, die Schweiz zu besuchen, sollte er eingeladen werden.» Dass die Einladung ausbleibt, ist ein diplomatischer Affront. Ein Sprecher des Aussendepartements sagt dazu, Bundespräsident Ignazio Cassis habe in den letzten Monaten die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mehrmals am Rande internationaler Gipfeltreffen gesprochen und habe mit ihr auch über bilaterale Themen geredet.
Offenbar waren diese Kontakte aber aus Sicht der EU inhaltlich zu wenig relevant, um ihren Vertreter in der Schweiz darüber zu informieren. Auf die Frage, ob Ignazio Cassis und Ursula von der Leyen bilaterale Fragen thematisiert hätten, sagt Botschafter Petros Mavromichalis, er könne dazu nichts sagen, da er nicht dabei gewesen sei.
Während der Bundesrat Eile mit Weile spielt mit der EU, verliert der Schweizer Forschungs- und Universitätsplatz den Anschluss an die wichtigen EU-Forschungsprogramme. Vertreterinnen des Forschungsplatzes Schweiz schauen zunehmend fassungslos zu. Andrea Schenker-Wicki, Rektorin der Universität Basel, sagt: «Die Schweiz ist in der Quantentechnologie eine der führenden Nationen. Quantentechnologie ist die Technologie des 21. Jahrhunderts. Doch nun dürfen wir am Flaggschiffprogramm der EU nicht mehr teilnehmen, und zusätzlich haben unsere Konkurrenten riesige nationale Initiativen gestartet, was bei uns noch nicht der Fall ist. Dadurch droht die Schweiz ihren Vorsprung zu verlieren.»
Vor allem grenznahe Regionen leiden unter dem Stillstand, wie der Erosionsmonitor der Wirtschaftsdenkfabrik Avenir Suisse zu den bilateralen Beziehungen aufzeigt. Beat Jans, Regierungspräsident des Kantons Basel-Stadt, bezeichnet die Situation als «dramatisch»: «Schleichend werden Grenzen zur EU hochgezogen. Das ist sehr belastend für die ganze Grenzregion, auch für das Elsass und für Baden-Württemberg.» Die Argumente für Forscher und Start-up-Unternehmerinnen, in die Schweiz zu kommen, würden schwinden, sagt er: «Die besten Leute gehen dorthin, wo sie Zugang haben zu grossen Fördertöpfen und wo sie grosse Forschungsprojekte leiten können. Das wird sich je länger, desto mehr auswirken.»
In Bundesbern hingegen scheut man die innenpolitische Auseinandersetzung mit der Europapolitik. Und man will der SVP im kommenden Jahr keine Gelegenheit geben, mit ihrem Lieblingsthema in den Wahlkampf zu steigen: der EU. Dabei kommt der Bundesrat den Europagegnern so weit entgegen, dass ihnen gar keine europapolitischen Forderungen mehr einfallen. So ist es bezeichnend, dass der Verein Pro Schweiz, Nachfolger der europafeindlichen Kampforganisation Auns, mangels europapolitischer Angriffsfläche nun auf die Neutralitätsinitiative ausweicht.
Das Aussendepartement macht also das, was die Politik stets macht, wenn sie nicht weiss, was sie tun soll: Es schindet Zeit.
So beauftragte die Landesregierung den pensionierten Staatssekretär Mario Gattiker damit, nach europapolitischen Lösungen zu suchen. Ferner gründete der Bundesrat ein neues Gremium mit dem wichtig klingenden Namen «Sounding Board». Er verschleppte den Europabericht, die erste Standortbestimmung nach dem Abbruch der Verhandlungen vor anderthalb Jahren. Und er lässt das Parlament aussen vor, was namentlich in der Aussenpolitischen Kommission zu anhaltender Ungeduld führt.
Um fair zu sein: Die Aufgabe ist keineswegs einfach. Der parteipolitische Wind hat gedreht, was die Europapolitik angeht, die öffentliche Meinung ist euroskeptischer geworden als früher. So ist es heute unvorstellbar, dass der Bundesrat sich für EU-Beitrittsverhandlungen ausspricht wie noch in den Neunzigerjahren. Die frühere europapolitische Koalition, bestehend aus SP, FDP und Mittepartei, ist zerbröckelt, wie auch in einem neuen Sammelband zu den Beziehungen zwischen der Schweiz und Europa dargelegt wird. Die Bundesratsparteien tragen ebenfalls Verantwortung für die verfahrene Situation: Ausser der SVP sind sie sich auch nicht mehr sicher, welchen Weg sie mit der EU gehen wollen.
Offensichtlich ist, dass der Bundesrat wenig Anstalten macht, die innenpolitische Blockade zu lösen. Schon vor vier Jahren nicht, als er keine Stellung bezog zum Rahmenabkommen, dem Resultat siebenjähriger Verhandlungen zwischen Bern und Brüssel. Und zusah, wie es von praktisch allen Seiten zerredet wurde. Der Bundesrat schaut auch weiter ratlos zu. Andrea Schenker-Wicki, die Rektorin der Uni Basel, ist enttäuscht: «Niemand im Bundesrat übernimmt Verantwortung und sagt: Wir wagen diese Auseinandersetzung in unserem Land, wir müssen unsere Beziehungen mit der EU dringend regeln.»
Es ist fast wie bei den wartenden Protagonisten im berühmten Theaterstück von Samuel Beckett.
Estragon: Komm, wir gehen!
Wladimir: Wir können nicht.
Estragon: Warum nicht?
Wladimir: Wir warten auf Godot.
Estragon: Ach ja.
Worauf sie warten, erfährt das Publikum nie.