Doch … einiges bleibt

Am Sonntag hat Melinda Nadj Abonji in Wien den Erich-Fried-Preis erhalten. In ihrer Dankesrede erinnert sie an den Namensgeber, der schon als Sechsjähriger Poetisches und Politisches zusammen­dachte.

Von Melinda Nadj Abonji (Text) und Aline Zalko (Illustration), 23.11.2022

Vorgelesen von Melinda Nadj Abonji
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Lyrik machte mich nervös. Sie war zwar Sprache, aber eine, die ich oft nicht verstand. Lyrik, so vermutete ich, ist nur für wirklich Kluge, oder für Menschen, die es sich zu Hause in kompliziert gemusterten, schweren Sesseln bequem machen, im familiären Kreis gemeinsam lesen und dann mit ernster Miene flüsternd über das Gelesene sprechen. Frau Beck-Supersaxo, meine Deutsch­lehrerin, hatte eine Vorliebe für Klassik, es war aufregend, ihre Begeisterung für Schillers «Glocke» mitzuerleben in der Hoffnung, sie würde gar nicht mehr aufhören, mit ihrem rollenden «r» Anlauf zu nehmen, um dann den Kiefer fast schamlos fallen zu lassen und so den Vokalen den gehörigen Nachhall zu verleihen; aber ganz abrupt unterbrach sie ihren ekstatischen Vortrag, fuhr ihren Arm zu einem Ausrufe­zeichen aus: Und Sie, was denken Sie dazu, zu diesem Vers?

Meine endlose Bewunderung für jene, die so taten, als würden sie tatsächlich etwas dazu denken.

Die Vorliebe von Frau Beck-Supersaxo für klassische Literatur führte zur sträflichen Vernachlässigung moderner Lyrik, die dann aber umso heftiger wirkte. Erich Fried gehörte zu den wenigen zeitgenössischen Dichtern (Dichterinnen existierten in ihrem Unterricht nicht), dem unsere Lehrerin Einlass gewährte, den sie mit einem Passier­schein versah, der mich wiederum nervös machte: «engagiert» – was sollte ich darunter verstehen? War das ein Gütesiegel oder doch nicht? Es klang für mich jedenfalls nach mühsamer Arbeit, als müsste man mit aller Kraft irgend­etwas irgend­wohin tragen, dabei ununterbrochen schwitzen, engagiert … strapaziert … lädiert.

Aber ganz abgesehen von «engagierter Dichter», «Mitglied der Gruppe 47», «emigrierte vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nach London» war Erich Fried vermutlich einer der ersten Dichter, deren Sprache ich zu verstehen glaubte, fast so, als würde er zu mir sprechen und eine Antwort von mir wollen, natürlich nicht nur von mir. Ich erinnere mich, dass die Klarheit seiner Wörter mich beeindruckte – und manchmal, wie unglaublich, stand nur ein Wort auf einer Zeile, und die Zeilen waren angefressen, anders gereimt oder sogar ungereimt, drohten abzustürzen in die Hölle des weissen Blattes, und da gab es haufenweise Wörter, die eigentlich mit einem scharfen, blutigen Schnitt und mit dem Kommentar «Umgangs­sprache!» hätten abgestraft werden müssen. Aber was mich am allermeisten irritierte und einen grossartigen Verrat am bisher Gelernten bedeutete: Ein Wort stand da, tauchte unter, tauchte ein paar Zeilen später wieder auf. Und nein, das war keine Wieder­holung, es war ein neues, ein anderes Wort, im alten Kleid, wie verstörend und schön, zum Verlieben!

Ich war nun zugegebener­massen wieder nervös, diesmal nervös vor unverhofftem Glück, als ich spätnachts erfuhr (und es zunächst für eine verirrte Nachricht hielt), dass ich eine Auszeichnung erhalten würde, die im Gedenken an Erich Fried und ihm zu Ehren vergeben wird. Eigentlich wollte ich sofort Frieds Lyrik­bände aus dem Regal ziehen, prüfen, wie sie heute auf mich wirken – aber ich tat es nicht; nein, ich wollte nicht prüfen, nicht anknüpfen, sondern beginnen, den Dichter ohne Uni-Ballast und ohne Frau Beck-Supersaxo im Ohr lesen.

Es war tatsächlich eine aufregende Reise ins Unbekannte und alles, wirklich alles, was ich in den nächsten Wochen las, erfüllte mich mit Staunen über diesen Anteil nehmenden Dichter, der die Politik, die politische Öffentlichkeit nicht den Politikern und Dogmatikern überlassen hatte; in seinen Essays, Zeitungs­artikeln, Leser­briefen, mit seiner tiefen, mich an weiches Fell erinnernden Stimme war Fried in seinen Reden, Radio­ansprachen, Gesprächen, Debatten so präsent, gegenwärtig, nahm mit jedem Wort und Atemzug so spürbar Anteil am Leben, dass ich schliesslich unsagbar erleichtert war (und vor Erleichterung weinte), dass Fried kurz vor seinem Tod seine «postoperative Psychose» überwand, sich dank der Hilfe einer Freundin wieder erinnerte, dass er er war, Erich Fried, und nicht ein KZ-Ärzten Ausgelieferter, der um das Leben seiner Kinder flehen muss.

Und jetzt bin ich schon bei seinem Tod, werden Sie vielleicht denken, obwohl ich kaum angefangen habe, aber ich muss von hier aus erzählen, weil mir dieser Moment, als Frieds Vertraute darüber spricht, wie sie in die Buch­handlungen rennt, um alle erhältlichen Bücher von Fried zu kaufen, um ihm, dem Sterbenden, zu beweisen, dass er gelebt hat, als Erich Fried, als Dichter, so elementar zu sein scheint; diese schier unfassbare Tatsache, dass kurz vor dem Tod das eigene Leben ausgelöscht werden könnte, die Möglichkeit zu sterben, ohne zu wissen, wer man war, gefangen in einer Wahn­vorstellung, die doch gar nicht so wahnhaft ist – denn hätte es nicht sein können, dass Erich Fried genauso umgebracht, vergast worden wäre? Wie seine geliebte Grossmutter, die Hälfte seiner Verwandtschaft, sein Vater, der durch die Fusstritte eines deutschen Gestapo-Beamten einen Magenriss erlitt und an den Folgen starb, wie sechs Millionen Jüdinnen und Juden, die deportiert und ermordet worden waren? War es nicht sehr verständlich, dass die Furcht vor dieser von Menschen ausgedachten und exekutierten Grausamkeit im Angesicht des Todes das eigene, gelebte Leben zu überwältigen, also auszulöschen drohte? – und dann, was geschah dann, ein Wunder? Oder was sonst?

Und ich stelle mir vor, wie Erich Fried im Krankenhaus eines seiner Bücher öffnete, mit dem Finger langsam über die dunklen Spuren fuhr; und vielleicht, es kann gut sein, belebte, erinnerte ihn ein einziges Wort, es schaute ihn an, fast frech, aufmüpfig, als wollte es sagen: Siehst du, ich bin immer noch da, obwohl du nie ganz glücklich mit mir warst, wochenlang über dein Blatt gebeugt vergeblich nach einem besseren gesucht hast; ja, ich stelle mir Fried vor, lachend, weinend, zurückgeholt, gerettet von einem widerborstigen Wort, das ihn nicht in Ruhe gelassen hatte – und ist das nicht der Beginn? Die Wörter, die an einem Dichter rütteln, ihn innerlich bewegen, bevor er überhaupt weiss, dass er ein Dichter ist?

Erich Fried, der 1927 als sechsjähriger Junge erlebte, wie die Polizei an einer Demonstration 84 Arbeiter tötete; durch das Schau­fenster eines Ladens sah er die «Bahren mit Toten und Verwundeten», wie Fried später in seinem Erinnerungs­buch schrieb. Im burgen­ländischen Schatten­dorf waren Rechts­radikale, die einen Arbeiter und ein Kind erschossen hatten, von den Richtern in allen Instanzen freigesprochen worden. Das führte zu einem Protest der Arbeiter in Wien, dessen brutale Niederschlagung Fried, wie bereits erwähnt, miterlebte. Kurz darauf las er auf einem Plakat, das der Schrift­steller Karl Kraus hatte anschlagen lassen, folgenden Satz: «Ich fordere Sie auf, abzutreten. – Karl Kraus.»

Das Plakat richtete sich an den damaligen Polizei­präsidenten Schober, der für das brutale Vorgehen gegen die Arbeiter verantwortlich gewesen war. Auf Fried machte das Plakat auch deshalb grossen Eindruck, weil die Worte «auf» und «ab» typografisch unter­einander angeordnet waren.

Als der bereits bühnen­erfahrene Fried im Festsaal seiner Schule nun ein Weihnachts­gedicht aufsagen sollte, trat er auf, verbeugte sich und verkündete: «Meine Damen und Herren! Ich kann leider mein Weihnachts­gedicht nicht aufsagen. Ich habe gerade gehört, Herr Polizei­präsident Doktor Schober ist unter den Fest­gästen. Ich war am Blutigen Freitag in der Inneren Stadt und habe die Bahren mit Toten und Verwundeten gesehen, und ich kann vor Herrn Doktor Schober kein Gedicht aufsagen.» Der Auftritt des Erstklässlers Fried hatte den sofortigen Abgang des Herrn Schober inklusive Begleitern zur Folge. Danach betrat Fried die Bühne wieder und tat das, was eigentlich von ihm erwartet worden war: Er sagte sein Gedicht auf.

Diese Geschichte kennen vermutlich die meisten von Ihnen, ich kannte sie nicht, und ich rufe sie deshalb in Erinnerung, weil sie nicht nur erzählt, wie mutig Fried bereits als Schul­junge war, sondern wie der Schrift­steller Karl Kraus mit seinem Plakat unmittelbar auf Fried wirkte, sodass er sich zum Handeln aufgerufen fühlte, und Handeln hiess in diesem Moment, bestärkt von den gelesenen Wörtern auszusprechen, was er gesehen hatte, wovon er Zeuge gewesen war, was wiederum dazu führte, dass der Polizei­präsident aufstand und den Saal verliess.

Was für ein dramatischer Beginn!

Selbstverständlich hätte es Fried niemand verübelt, wenn er sein Gedicht einfach vorgetragen hätte, trotz des Wissens, dass Schober im Saal war. Er hätte so tun können, als ob er nicht wüsste, dass der Polizei­präsident im Publikum sass. Oder seine Anwesenheit schweigend akzeptieren. Wie alle anderen. Die versammelten Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, der Rektor. Niemand stand auf, weil er oder sie nicht in der Nachbarschaft des Polizei­präsidenten sitzen wollte; niemand verliess den Saal, um gegen die Anwesenheit eines Mannes zu protestieren, der für ein Massaker verantwortlich gewesen war. Nur der Schul­junge Fried tut etwas wider alle Erwartungen, ist nicht bereit, so zu tun, als ob nichts wäre. Damit betritt Fried nicht nur die Schul­bühne, sondern die Bühne des Lebens, was für einmal keine Floskel ist; die Entscheidung, die Fried bereits als Junge traf, ist dramatisch (im besten Sinn): nicht zu schweigen, nicht die Faust im Sack zu machen, sondern Zeugenschaft abzulegen, mit Worten und Taten.

Erst vor ein paar Tagen fiel mir auf, dass ich bei meinem ersten Auftritt gleich jung war wie Fried. Im Kinder­garten wurde das «Schneewittchen» aufgeführt, und meine umsichtige Lehrerin hatte mich als Baum verkleidet, braune Hose, grüner Filzhut; ich stand einen Baum, war sogar der ganze Wald, da ich kein Deutsch sprach, nur Ungarisch; mein Auftritt war also ganz komplementär zu demjenigen von Fried: Ich stand still, schwieg, was in meinem Empfinden ewig dauerte, und obwohl es ungeheuer beschämend war, hätte ich die Bühne niemals verlassen, niemals verlassen können – ich harrte also aus, bis das Theater endlich zu Ende war. Viel später, als ich schon längst Schrift­stellerin war, auf Deutsch schrieb, erinnerte ich mich (unter anderem) an diese Vorstellung, als mir die Frage gestellt wurde, wie ich denn zum Schreiben gekommen sei. Ohne zu überlegen antwortete ich, dass ich aus dem Nicht-sprechen-Können, aus dem Schweigen zum Schreiben gekommen sei – und die Scham? Ist geblieben, und ist zum produktiven Stachel geworden.

Zum Schluss die letzten Zeilen von Frieds Gedicht mit dem Titel «Was bleibt?»:

Worte bleiben
Gefühle
Gedanken
Wissen und Angst
Zorn bleibt und Widerstand
und keine Ruhe
und Wünsche bleiben
auch einfache Wünsche für Menschen
(für sehr nahe und unbekannte)
und Hoffnungen auf eine Zukunft

Einiges bleibt
Nach dem eigenen Bleiben
Die ganze Welt soll bleiben –

Oder bleibt nichts?

Erich Fried: «Was bleibt?»

Doch, antworte ich, einiges bleibt, die Erinnerung an diesen beherzten Jungen, der die Wirklichkeit zu verändern vermochte – und ihm verdanke ich, dass ich heute nicht allein vor Ihnen auf der Bühne stehe. Frieds unermüdliche Bereitschaft zum Dialog, seine Übersetzungen, seine Essays, Reden, Anklagen, die wie ein kräftiges Licht in unsere Gegenwart leuchten, sie bleiben; seine weiche Stimme, die auch mich bestärkt, weiterhin gegen die Gewöhnung aufzubegehren, mit Anteil­nahme und Imagination, Humor und Wut und Wärme, im Wissen, dass die Wörter nie fertig sind, gar nie.

Zur Autorin und zum Preis

Melinda Nadj Abonji wurde 1968 in Becsej im heutigen Serbien geboren und wuchs ab 1973 in Zürich auf, wo sie heute lebt. Ihre Familie gehörte zur ungarischen Minderheit in der Region Vojvodina. Nadj Abonji ist Musikerin und Schrift­stellerin. Für ihren Roman «Tauben fliegen auf» erhielt sie 2010 sowohl den Deutschen als auch den Schweizer Buchpreis. 2017 erschien ihr Roman «Schildkröten­soldat», der mit dem Schiller­preis ausgezeichnet wurde.

Der Erich-Fried-Preis wird seit 1990 jedes Jahr an Schreibende aus dem deutsch­sprachigen Raum vergeben, auf Vorschlag einer jährlich wechselnden Jurorin. Dieses Jahr war Klaus Merz der Juror.