Klavierstunde
Musik bewegt uns alle. Beim Musikunterricht dagegen denken viele eher an mühsame Etüden. Das liegt auch an alten Vorurteilen – auf allen Seiten. Einige persönliche Noten eines Klavierlehrers.
Von Tomas Bächli (Text) und Maximilian Virgili (Bild), 16.11.2022
Musiker geworden bin ich zunächst einmal aus egoistischen Gründen: für mein eigenes Vergnügen am Spielen und Entdecken von Musik. Trotzdem gibt es etwas, das darüber hinausgeht. Ich sehe mich als Vermittler von Musik, egal ob ich dabei als Pianist die Partitur einer Komposition realisiere, ob ich sie mit Worten und Texten kommentiere oder sie unterrichte.
Musik wird subjektiv erlebt, gleichzeitig gibt es bei den Hörerinnen ein Bedürfnis, sich darüber auszutauschen und die eigene Begeisterung weiterzugeben. Aber was kann ich als Musiker überhaupt vermitteln? Wir unterscheiden gerne zwischen einem analytischen und einem emotionalen Zugang zur Musik. Für mich gibt es noch etwas, was beidem vorausgeht: die ganz körperliche Erfahrung des Hörens. Aber auch das Spielen eines Instrumentes ist zuerst einmal ein physischer Akt.
Diese Fragen führen mich unweigerlich zu dem unspektakulären Teil meines Pianistenlebens; jenem Teil, in dem viele meiner Kollegen nicht mehr als einen schlichten Broterwerb sehen: dem Klavierunterricht.
Seit etlichen Jahren unterrichte ich im Rahmen des Musikprojekts Musikompass Kinder an einer Grundschule in Berlin-Friedrichshain. Diese liegt nicht an der Partymeile, an die viele Berlinreisende bei diesem Stadtteil zunächst denken, sondern auf der anderen Seite der Warschauer Strasse, in einem bescheidenen, recht durchmischten Wohnquartier ohne Clubs oder Strassencafés. Die Eltern, die ihre Kinder beim Musikompass anmelden, leben in unterschiedlichen Verhältnissen, und dementsprechend verschieden sind bei den Kindern auch die Vorstellungen von Musik.
Für mich ist das Gewinn und Herausforderung zugleich. Was soll ich den Kindern vermitteln, wie kann ich auf ihre individuellen Wünsche eingehen, welche Kenntnisse und Fertigkeiten sind dabei für alle erstrebenswert?
Zwei Hände
Ein siebenjähriges Mädchen singt mir «Hänschen klein» vor und begleitet sich auf einer einzigen Klaviertaste im Rhythmus des Liedes, Silbe für Silbe, Note gegen Note: «Häns-chen-KLEIN-ging-al-LEIN». Eigentlich ist das eine überzeugende Darbietung, nur nicht im Sinne eines traditionellen Klavierunterrichts. Ich versuche, sie davon zu überzeugen, dass das Klavier mehr als eine Taste hat und sie selbst mehr als nur einen Finger.
Musik verläuft zwar linear in der Zeit, aber in mehreren Dimensionen, vielschichtig, polyfon. Eine mehrstimmige Komposition ist nicht besser als eine einstimmige, nicht einmal unbedingt komplexer. Doch wenn ein Kind zum ersten Mal vor die Aufgabe gestellt wird, dass beide Hände zur selben Zeit verschiedene Dinge tun sollen, wenn zum Beispiel die linke Hand mit ein paar wenigen Noten ein Lied begleitet, das die rechte Hand spielt, dann erlebt das Kind ganz konkret die philosophische Erkenntnis, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist.
Man kann beide Hände einzeln üben, aber das Zusammenspielen muss nochmals geübt werden. Setzt man die Stimmen zusammen, so entsteht nämlich etwas Neues: die Tonhöhenverhältnisse zwischen den Stimmen, aber auch die Rhythmen bilden Intervalle, an die man sich erst gewöhnen muss. Diese neue Erfahrung kann ein Gefühl von Kontrollverlust und Angst erzeugen, manche Kinder sind dabei den Tränen nahe.
Ich frage sie dann, ob sie im Wasser schwimmen können, und zum Glück sagen sie immer: Ja. Dann frage ich sie, ob sie sich an die Zeit erinnern, als sie es noch nicht konnten. Damals konnten sie sich nicht vorstellen, dass man schwimmen kann. Heute können sie sich wiederum nicht vorstellen, wie man es nicht kann.
Wer mit mehreren Stimmen spielt, verlässt den festen Grund unter den Füssen, man kann nicht mehr jede einzelne Note für sich kontrollieren: Eine andere Stimme ist auch da und relativiert die erste. Es ist wie mit dem Schwimmen, wir müssen in Bewegung bleiben. Für die Selbstkontrolle aber brauchen wir etwas Abstand zu uns und unseren Händen. Wer zwei Kinder hütet statt eines, muss den Überblick bewahren und braucht dazu eine gewisse Distanz.
Eine interessante Erfahrung: Obschon die Wiedergabe einer Imitation von Stimmen, wie in einem Kanon oder einer Fuge, als anspruchsvolle Form mehrstimmigen Spiels gilt, bewältigen viele meiner Anfänger «Bruder Jakob» als Kanon mit zwei Stimmen gerne und recht gut. Ich weiss auch nicht, warum.
Der gute Geschmack
Ich habe grossen Respekt vor Pierre Bourdieu und seinen Untersuchungen über die Klassengesellschaft und den guten Geschmack. Die These, dass der Unterschied zwischen Bachs «Kunst der Fuge» und einem Schlager etwa von Heino oder Helene Fischer einzig mit dem Klassendünkel des Bildungsbürgertums zu erklären ist, empfinde ich als erfrischend. Aber es ist ein universitärer Diskurs.
Wenn man als Klavierlehrer etwa zwei Dutzend Schülerinnen unterrichtet, die so etwas wie «River Flows in You» des südkoreanischen Pianisten Yiruma spielen, sieht man das anders. Wenn ein Kind das wünscht, mache ich es, ohne mit der Wimper zu zucken, wir sind ja keine Geschmackspolizei. Aber bei der x-ten Klavierstunde mit einem dieser Stücke packt mich dann doch heimlich die Verzweiflung.
Klavierunterricht deckt die Stärken und Schwächen einer Komposition erbarmungslos auf, es geht dabei nicht um grosse ästhetische Konzepte, sondern um musikalischen Kleinkram. Denn die Fehler, die das Kind zunächst macht, sind meistens Angleichungen an das Gewohnte: Hat man zweimal dasselbe gespielt, fliegt man aus der Kurve, wenns beim dritten Mal anders kommt. Also muss die Lehrerin dem Schüler den Sinn dieser Variante erklären.
Das ist eigentlich eine schöne Aufgabe. Sucht man diesen Sinn jedoch vergebens, dann bleibt der Eindruck prätentiöser Selbstdarstellung und der Simulation eines gehobenen Stils, wenn etwa bei der x-ten Wiederholung einer Melodie ohne jeden ersichtlichen Grund ein Vorzeichen geändert wird, zum Verdruss von Schülerin und Lehrer. Klavierstücke mit dem New-Classic-Label sind besonders anfällig für diese Form der Schaumschlägerei. Gute Musik jedoch findet man in allen Sparten. Sie zu unterrichten, kann für alle Beteiligten ein ästhetisches Erlebnis sein.
Ich will gar nicht den Zusammenhang von Bildung und Klasse leugnen: den Eigendünkel mancher Gebildeter, die Wut der anderen, die sich verachtet fühlen. Ich glaube sogar, dass dies der Schlüssel für viele unserer Probleme ist. Aber meine Erfahrung mit dem Unterrichten relativiert viele gängige Klischees. Die Mutter einer Arbeiterfamilie möchte, dass ihre Kinder «etwas von Beethoven spielen», was diese dann auch gut machen. Bei einem Kind aus klassischem Bildungsbürgerhaus wiederum singen die Grosseltern den Popsong mit, und das gefällt mir auch.
Es ist immer wieder erstaunlich, was auf der Wunschliste der Kinder steht. Eine grosse Rolle spielt dabei die Begleitmusik von Youtube-Videos. Ein zehnjähriger Junge möchte tatsächlich «Vielen Dank für die Blumen» von Udo Jürgens spielen – wegen «Tom und Jerry». Ein anderer will unbedingt den Strauss-Walzer «An der schönen blauen Donau» können – weil er ihn von den «Simpsons» kennt. An dieser Aushebelung der Klischees habe ich meinen Spass.
Die Zeiten eines festen Kanons für Unterrichtsliteratur mit Czerny-Etüden und der Sonatine von Muzio Clementi sind zum Glück vorbei, obschon viele Kinder das «Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach» oder Schumanns «Der wilde Reiter» ausgesprochen gerne spielen.
Die Unterscheidung zwischen Klassik und Pop weckt bei den meisten Kindern ohnehin nur nebulöse Assoziationen. Eine Schülerin erklärte mir einmal, dass ihre Musiklehrerin im Unterricht nur über «alte Musik» rede: «über Bach, über Joseph (gemeint war wohl Haydn) und Donovan». Altes Zeug also – eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen den Komponisten aus dem 18. Jahrhundert und einem in die Jahre gekommenen Singer-Songwriter unserer Zeit macht das Mädchen nicht mehr. Diese Haltung ermöglicht aber auch einen vorurteilslosen Zugang zu jeglicher Art von Musik.
Noten lesen
Ein Flachwitz aus meiner Jugendzeit: «Wie kann man einen Heavy-Metal-Gitarristen dazu bewegen, seinen Verstärker leiser zu stellen? Man setzt ihm ein Notenblatt vor die Nase.»
Ein Konzertpianist wiederum gibt gerne damit an, dass er einen ganzen Klavierabend ohne Noten spielt.
So zweifelhaft Bezeichnungen wie Klassik, Jazz, Rock und Pop sein mögen, so eindeutig sind die Unterschiede in der Form der Überlieferung von Musik. Das musikalische Vermächtnis von Haydn und Schönberg besteht in ihren Partituren, das Vermächtnis von John Coltrane und Jimi Hendrix in Aufnahmen. Viel Musik ausserhalb Europas existierte jahrtausendelang ausschliesslich durch ihre Überlieferung.
Die Notation von Musik ist eine geniale Erfindung des europäischen Mittelalters. Viele Jahrhunderte lang ging es dabei ausschliesslich um Vokalmusik, daher auch die unterschiedlichen Notenschlüssel, sie markierten ursprünglich den Stimmumfang. Die Notenschrift geht dabei von siebenstufigen Tonleitern aus, die durch die Versetzungszeichen in zwölf mehr oder weniger gleich schwebende Halbtöne unterteilt werden, jedenfalls für die Tasteninstrumente. Die verschiedenen Parameter werden in einer Partitur verschieden exakt festgehalten: die Tonhöhe und der Rhythmus recht präzise, die Lautstärke nur ungefähr, die Klangfarbe überhaupt nicht.
Der Tonansatz der Saxofonistin, der Groove des Drummers, der Sound eines Popsongs – all das lässt sich in der Notenschrift nicht fixieren.
Auch die Musik, die nicht von Europa geprägt wurde, entzieht sich weitgehend unserer Notation, da schon die Tonhöhensysteme nicht dieselben sind. Wenn man zum Beispiel Musik aus dem arabischen Raum in Viertel- statt in Halbtönen notiert, verringert man zwar den Fehler. Gleichzeitig entsteht der falsche Eindruck von einer «mikrotonalen» Musik. Es handelt sich aber nicht um kleinere oder grössere Abstufungen, es sind ganz einfach andere Tonschritte als in der europäischen Musikkultur.
Notenschrift ist also an Voraussetzungen gebunden, die in einer diversen Gesellschaft keine Selbstverständlichkeit sind. Gleichzeitig ist der gesellschaftliche Stellenwert des Notenlesens ungebrochen. Für manche Eltern ist es immer noch die Legitimation für die Kosten des Klavierunterrichts.
Lob der «Quatschmusik»
Das Gegenstück zum Mythos des Notenlesens ist der Mythos der Improvisation: Sie steht in unserer Gesellschaft für das express yourself. Unter Improvisation werden die unterschiedlichsten Dinge verstanden. Für mich ist das Ausprobieren von Klängen und ihren Kombinationen zusammen mit den Kindern dabei am wichtigsten. Ein Schüler von mir bezeichnet das als «Quatschmusik». Er macht gerne Quatsch, ich auch.
Was das Notenlesen betrifft, frage ich meine Schüler, ob sie es lernen wollen. Ich betone dabei, dass ich ein Nein gut akzeptieren kann. Fast alle sagen mir, dass sie es lernen möchten. Die Praxis sieht dann allerdings ganz anders aus, viele vermeiden es, die Noten anzugucken, andere wiederum werden ängstlich, wenn man ihnen die Noten einmal wegnimmt.
Ich staune immer wieder, was die Schülerinnen ohne Notenlesen alles hinkriegen, rein nach dem Gehör: Bagatellen von Beethoven, Sätze aus Bachs Französischen Suiten, Menuette aus den Sonaten von Mozart.
Dabei ist klar, dass das Spielen ohne Noten irgendwann an seine Grenzen stösst: Eine lange Sonate kann man nicht lernen, ohne Noten zu lesen. Aber ist es überhaupt das Ziel des Klavierunterrichts, später einmal die «Appassionata» zu bewältigen?
Klar ist: Man sollte Kindern nicht Fertigkeiten vorenthalten, die in unserer Gesellschaft als notwendig betrachtet werden oder die sie selber gerne beherrschen möchten. Ich versuche deshalb, ihnen das Prinzip der Notation beizubringen. Allerdings ist Notenlesen vor allem eine Sache der Übung, und wer sich dieser Übung entziehen will, findet seine Wege. Bei mir muss niemand nach Noten spielen, ich will den Kindern nicht die Musik verleiden.
In der Populärmusik können Noten ärgerlich sein. Oft sind es überteuerte Hefte mit bombastischen Arrangements von Popsongs, einschliesslich Akkord- und Oktavkaskaden, die furchtbar schwer zu spielen sind und dabei auch noch miserabel klingen. Amüsanter sind die Anleitungen auf Youtube, die mir die Kinder im Unterricht auf dem Handy vorspielen. Dort wird die Musik mit Bildern der entsprechenden Klaviertasten illustriert. Damit wird eine altehrwürdige Form der Überlieferung wiederbelebt, die es schon in der Renaissance gab: die sogenannten Tabulaturen, also Griffzeichenschriften. Sie halten die Tätigkeiten des Instrumentalisten fest und nicht das klangliche Resultat.
Schöner als jedes Nachspielen ist es jedoch, wenn die Kinder, vielleicht mit ein wenig Anleitung, selbst eine freie Coverversion ihres Lieblingssongs erstellen, ganz nach Gehör. Dann lernen sie nicht nur Klavier spielen, sondern auch Hören – die Voraussetzung für jede Auseinandersetzung mit Musik.