Im Sprachgewand

Der Songmeister Bob Dylan bewertet in einem neuen Buch Lyrics seiner Kollegen und überlässt ihnen dafür mehr als 300 Seiten lang das Rampenlicht (oder versucht es zumindest).

Von Katarina Holländer, 10.11.2022

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Vorgelesen von Egon Fässler
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Bob Dylan 1963: Damals begann er gerade, eigene Songs zu schreiben. Heute schreibt er über die Songs anderer Autoren. William C. Eckenberg/NYT/Redux/laif

«In diesem Song bist du der verlorene Sohn.» Zack. So überfällt dich ein Buch, das als Liste von Songs strukturiert ist, so bricht es seinem zwiespältigen Genre gleich zu Beginn das Genick. Es holt dich in eine unvorhergesehene Rolle und setzt dich aus. Durchs ganze Buch wirst du direkt angesprochen und in die existenziellen Dramen der Songs, die Bob Dylan in einer langen Reihe vorstellt, eingewickelt.

Vom Buchdeckel schaut ein finsterer alter Mann und würdigt dich scheinbar demonstrativ keines Blickes. Streng guckt er in dieser Pose, humorlos. Fadendünne Schrift in nüchternem Weiss kriecht ihm über die Nase. Und dann dieser Titel: «Die Philosophie des modernen Songs». Bob Dylan, Doktor der Musik honoris causa, mal von verdichtetem Wort­fluss befallener Schrift­steller (in «Tarantula», verfasst 1966), mal wortknausriger literatur­nobelpreis­gekrönter Singer-Songwriter, dessen Autobiografie-Fragment «Chronicles Volume 1» 2004 erschien, nun also als Richard David Prechts Kollege?

Beirrend anders kommt das Cover der amerikanischen Ausgabe daher, vor Freude sprühend, jung, hell und bereit, gleich loszutanzen. Der blutrote Schriftzug prangt schräg wie die Gitarre. Gehalten wird sie von einer androgynen Alis Lesley, die zwischen Little Richard und Eddie Cochran funkelt, eine weibliche Elvis-Imitatorin. Wir sehen drei strahlende Schmalz­tollen aus dem Jahr 1957, eine Dreifaltigkeit des Rock and Roll, die allerdings keine Ewigkeit repräsentieren kann: Alle drei waren wenige Jahre danach, vorüber­gehend oder für immer, weg von der Bühne.

Bob Dylans neuestes Buch kommt also, obwohl es weltweit denselben Erscheinungs­termin hatte, mit sehr unter­schiedlichen Gesichtern daher, einem hellen und einem dunklen. Ist es so schwierig, dem Inhalt ein entsprechendes Cover zu verpassen? Gut möglich. In den letzten 12 Jahren hat sich Dylan einzelne Songs seiner Kollegen von den 1920er- bis in die 2000er-Jahre vorgenommen und diese Glossen oder Essays nun als Buch publiziert. Allerdings zitiert er die Lyrics nicht, sondern erzählt sie in seine eigene Prosa gekleidet nach. Dabei enthüllt er hier etwas, legt da in Falten und fantasiert dort eine Schärpe hinzu, appliziert anekdotische Schleifen.

66 solcher Songs lässt er auf seinem philosophischen Laufsteg Revue passieren, mit Cowboy­hut, Revolver, Schulter­polstern und Lauf­maschen, und bei der Gelegenheit kommentiert er sie als master of ceremonies nochmals ausführlich. Über musikalische Detail­fragen lässt er sich eher anekdotisch aus; das Phänomen Song behandelt er – der auch als Song­writer in erster Linie Dichter ist – vor allem als literarisch kondensierte Geschichten von menschlichen Erfahrungen sowie deren Vermittlung durch hervor­ragende Interpreten.

Über die Autorin

Katarina Holländer ist Autorin, Publizistin und Fotografin. In der Tschecho­slowakei geboren, lebt sie seit 1968 in der Schweiz. Sie war unter anderem Lektorin beim Benteli-Verlag und Redaktorin der Kultur­zeitschrift «Du». 2020 erschien von ihr «Der Riegel» in der Suhrkamp-Anthologie «Dunkel­kammern. Geschichten vom Entstehen und Verschwinden». 2021 erschienen Gedichte und lyrische Prosa unter dem Titel «Wurzelwerk» im Telegramme-Verlag.

Der Präsentator, der Performer Dylan weiss, wie man sich in Songs kleidet, und als Literat hat er auch einiges drauf: Die Songs präsentiert er in Du-Form, er zieht sie dir über. Und so bist du es, gehüllt in den Song, die lesend den runway unter die Füsse nimmt, während Dylan mit seinem Kommentar deine Erfahrung formt. Er lässt dich je nach Song die Orientierung verlieren, macht dein Glück zunichte, setzt dein Gesicht auf das Fahndungs­plakat, lockt dich, lässt dich schmachten und in eine andere Dimension hinein­reiten, im Sumpf waten und den Weg zurück finden. Er hat die Performance ins Buch geholt.

Dreifaltigkeit des Rock and Roll: Little Richard, Alis Lesley und Eddie Cochran zieren das Cover der amerikanischen Ausgabe von Dylans Buch. Bruce Perry/The Sydney Morning Herald/Fairfax Media/Getty Images

Die Prosa drängt sich in den Vorder­grund, vorgetragen in der Art der «Theme Time Radio Hour», jener themen­bezogenen Radio­sendung, die Dylan über Jahre moderierte, genüsslich melodisch und heftig rhythmisiert sprechend und stets hart an der Kante der Ironie tanzend. Schlendern und Abschweifen bringt diese Reise von Ort zu Ort, die Nummern sind weder chronologisch oder alphabetisch noch regional, thematisch oder ihrer Bedeutung nach geordnet. Dylans Kollektion ist unberechenbar, und besser erwartet man von ihm nie das, was man gemeinhin erwarten würde.

Tief in die Wahrnehmung Dylans hinein

Mag auch eine lexikalische Fülle an Personen vorkommen, von Uncle Dave Macon bis Alvin Youngblood Hart, von Judy Garland bis Nina Simone (wobei Damen unter den besprochenen Musikern Raritäten sind), von Stephen Foster zu John Trudell, von Little Richard über Elvis Presley bis Johnny Cash und Pete Seeger und so weiter, so liegt hier doch keine Musik­geschichte zum Nach­schlagen vor. Wir bekommen auch keine Backstage-Enthüllungen. Und schon gar nicht «Volume 2» von Dylans Biografie, wie manche hofften – dennoch kann er es sich nicht verkneifen, ein feuriges Pamphlet für Polygamie einzuschliessen und seine Leserinnen mit dem Inventar eines modernen Tourbusses oder den Gründen für Namens­änderungen vertraut zu machen.

Vor allem lesen wir hier keine schlüssige Philosophie des modernen Songs: Der Begriff «Philosophie» kommt in den Texten über die einzelnen Songs nicht einmal vor.

Über die Jahre hat Dylan mehrfach ausgedrückt, dass für ihn Philosophie und Religion in der Musik zu finden sind, nicht umgekehrt. Songs, erklärte er, hätten ihn mehr gelehrt als irgend­etwas sonst, sie seien sein Lexikon, an sie, spitzte er zu, glaube er. Der Song, gesungene Lyrik, war ihm von Anfang an das Prisma, durch das die Welt in ihn einbrach und durch das er sie sehen lernte. Diesem zutiefst künstlerischen Erleben von Musik ist das, was in diesem Buch Schrift­form annimmt, geschuldet. Und es gelingt dem Autor, eine üppige, ebenso tiefsinnige wie eigenartige philosophisch-künstlerische Summa seiner Wahrnehmung von Songs, aber auch des Singens zu verfassen. «Die Philosophie des modernen Songs» ist ein weiterer Teil von Bob Dylans umfassendem Alters­werk, das ihn, in einer Zeit, in der man an dessen Vorkommen kaum noch glauben wollte, als einen Homo universalis ausweist.

In der Zeit, als Robert Allen Zimmerman in Duluth, Minnesota, 1941 zur Welt kam, sass Theodor W. Adorno in Los Angeles im Exil und schrieb an seiner «Philosophie der neuen Musik». Er setzte sich darin mit der musikalischen Avant­garde auseinander, was ihn auch zu einer Auseinander­setzung mit der Gesellschaft führte. Insofern könnte man vielleicht sagen, dass der zum 81-jährigen Bob Dylan herangereifte Robert Zimmerman nicht nur den Buch­titel von Adorno, sondern auch die Fackel übernommen hat: Über die Gesellschaft und die Musik sinniert auch er. Avant­garden auszuspähen hingegen fällt im 21. Jahr­hundert schwer. Mag Dylan in seiner «Philosophie des modernen Songs» durchaus mit Rang­listen hantieren und Spitzen­plätze zuweisen, so ist seine Ausrichtung doch eine andere.

Damals, als Dylan mitten im Krieg zur Welt kam, gelangte in der Alten Welt gerade Olivier Messiaens «Quatuor pour la fin du temps» zur Uraufführung, das er 1940/1941 in einem deutschen Kriegsgefangenen­lager komponiert hatte. «Il n’y aura plus de temps», zitiert er darin den Engel der Apokalypse. «Es wird keine Zeit mehr sein.» Die Aufhebung der scheinbar linearen Zeit als ein Thema der Musik, deren Medium die Zeit selber ist, ist in Dylans Spätwerk zentral geworden. Wie bereits in seinem letzten Album «Rough and Rowdy Ways» führt er uns auch im neuen Buch in Räume nach der Wieder­auferstehung und am Ende in eine Wieder­geburt.

In dem Album war am Ende ein «philosopher pirate» aufgetreten. Dieser versucht, das Radio­signal eines Piraten­senders, der von jenseits des letzten Horizonts sendet, zu empfangen.

Heimwärts, aber ins Verlorene

Nun ist der Philosoph aus der Musik heraus­getreten und spielt uns selber seine Musik­auswahl vor. Es gibt ein Kontinuum zwischen Dylans letztem Album, seinem späten Meister­werk, und dem Philosophie­buch. Eine der überraschendsten Weiter­schreibungen ist die zunächst ironische, dann immer explizitere Wiederkehr der Politik. Bob Dylan hatte sich seit den Tagen der Bürgerrechts­bewegung radikal von allem abgehalten, was sein Image als politischer Protest­sänger verstärkt hätte. Doch «Rough and Rowdy Ways» nahm 2020 sein altes Gespräch mit den Präsidenten der Vereinigten Staaten wieder auf. Ein diffuses und fast metaphysisches, auf Rache und Vergeltung sinnendes Subjekt trat dem Herrscher als Stimme entgegen, verhöhnte ihn und machte ihn nieder. Und auch in diesem neuen Buch vernehmen wir ganz schön explizite Worte.

Doch kurz noch einmal zurück zum Anfang. Dem Autor ist es wichtig, den Song in einer anderen Welt anzusiedeln, einer Zwischen­welt.

In diesem Song bist du der verlorene Sohn. Gestern Abend bist du in Detroit City zu Bett gegangen. Heute Morgen hast du verschlafen, von schneeweissen Baumwoll­feldern geträumt und imaginären Bauern­höfen phantasiert. Hast dir über deine Mutter Gedanken gemacht, deinen alten Papa vor dir gesehen, dir Geschichten über deinen Bruder ausgedacht und deine Schwester verklärt – jetzt willst du wieder nach Hause.

So beginnt das Buch, mit «Detroit City», einem Titel von Danny Dill und Mel Tillis (1963), gesungen von Bobby Bare.

Der Song ist weniger der eines Träumers als der einer Person, die in einer Phantasie­welt gefangen ist, wo die Dinge so sind, wie sie früher mal waren. Der Hörer weiss, dass diese Welt gar nicht existiert. Es gibt keine Mutter, keinen lieben alten Vater, keine Schwester und keinen Bruder. Sie sind alle entweder tot oder gegangen. Das Mädchen, von dem der Sänger träumt, ist längst mit einem Scheidungs­anwalt verheiratet und hat drei Kinder mit ihm bekommen. Wie tausende andere verliess er die Farm, zog in die Gross­stadt, um es zu etwas zu bringen, und ging dort unter. Deshalb funktioniert der Song.

Weil der Song es schafft, zu vermitteln, dass es dieses Zuhause nicht mehr gibt; weil die Hörerin das Unstimmige als den schmerzhaften Inhalt des Lieds und die Welt, die es nur als Innen­welt gibt, als dessen Ort versteht. Und versteht, dass es immer heimwärts ins Verlorene geht, von Anfang an.

Anlässlich des Songs «Poor Little Fool» von Sharon Sheeley, von Ricky Nelson ebenfalls 1958 eingespielt, sinniert Dylan des Längeren darüber nach, wie viele Lieder der fool, «der Narr», uns doch beschert hat, um am Ende hintenrum das Publikum als den Genarrten zu entlarven. Doch unterwegs bläst er das harmlose Narren­liedchen zu monumentaler Grösse auf, als er ein Porträt des Sängers zeichnet. Ricky Nelson könnte «mehr noch als Elvis der eigentliche Botschafter des Rock and Roll gewesen» sein. «Und nicht nur bei uns, sondern auf der ganzen Welt, auf magische Weise verwandelte Ricky den Bildschirm eines Schwarz-Weiss-Fernsehers in den amerikanischen Traum.» Er sei es gewesen, der «die Menschen aller möglichen Nationen dazu brachte, selbst in den kommunistischen Ländern, sich in Amerika zu verlieben».

Der Sound, der Amerika gross gemacht hat

Das hat was. Der offenbar völker­verbindenden Kraft des Rock and Roll stellt er Stimmungs­heber mit Wohlfühl­effekt zur Seite wie «Feel So Good» (von Herman Parker Jr.), vom Rocka­billy-Sänger Sonny Burgess in der gleichen Zeit für Sun Records eingespielt. Und Dylan witzelt: «Wenn ihr eine politische Platte hören wollt, dann legt diese auf. Stellt sie auf Repeat, spielt sie immer und immer wieder, Tag und Nacht, und vielleicht fragt ihr euch (...), wie man Amerika wieder great machen kann, vielleicht kommt ihr durch diese Platte auf eine Idee.» Auf eine Idee kommt er später dann auch selber noch.

Es ist eine Platte der Extreme, schwärzer als schwarz, weisser als weiss. In den fünfziger Jahren gab es für so etwas keinen Namen, deshalb wusste niemand, als was man es verkaufen sollte, bis der Discjockey Alan Freed aus Cleveland von einigen früheren, gewagten Platten den Begriff ‹Rock and Roll› klaute – im schwarzen und weissen Country Boogie und Rhythm and Blues, auf beiden Seiten des Zauns, wurde er als bestenfalls notdürftig verschleierter Euphemismus für den Beischlaf verwendet. Versteht sich von selbst, dass sich die Musik mit ihrem neuen Namen sehr viel leichter verkaufen liess. Das ist der Sound, der Amerika great gemacht hat.

«War», der Protest­song von Norman Whit­field und Barrett Strong von 1969 gegen den Vietnam­krieg, wurde für die Temptations geschrieben und kam auf deren Album «Psychedelic Shack» heraus. «Zu dieser Zeit war der Motown-Sound bereits beim weissen Publikum angekommen, fand aber immer noch eine grosse und erstaunlich konservative Hörerschaft in der schwarzen Mittel­klasse», erläutert Dylan. Um diese Käufer nicht zu vergraulen, sollte der Song nicht als Single der Temptations herauskommen. Edwin Starr schnappte sich den Song, warf die Single auf den Markt und landete einen Voll­treffer.

Dylan hinterfragt diesen Erfolg. «War, what is it good for?», wie es im Lied hiess, sei vielleicht die falsche Frage gewesen. Man solle nicht fragen, wofür der Kampf gut sein soll, sondern vielmehr klären, wofür es sich zu kämpfen lohne. Und dabei nicht vergessen, dass es auch Kriege gewesen seien, die Menschen aus Sklaverei befreit hätten. Wenn Diplomatie scheitere, könne Krieg die einzige Lösung sein, lesen wir, während Russlands Angriffs­krieg gegen die Ukraine sich weiter zuspitzt. Dylan holt zu einer dreieinhalb Seiten langen Abhandlung zu Krieg und Pazifismus aus.

Ein Blick in die Antike erinnert uns daran, dass grosse Nationen oder Städte kleine nicht anzugreifen pflegten. Über Hiroshima und Nagasaki gelangt Dylan zu Shakespeare, und ein Zitat aus dem «Kaufmann von Venedig» – «Die Sünden der Väter sollen an den Kindern heimgesucht werden» – liefert ihm das Stichwort für die Präsidenten­dynastie der Bushs und die beiden Golf­kriege. Im Gegensatz zum Vater George Bush, der «chirurgisch» auf Saddam Husseins Invasion in Kuwait reagiert habe und dazu die höchsten Zustimmungs­werte geerntet habe, habe der Sohn George W. Bush Schuld auf sich geladen. «Im Zuge der Paranoia nach 9/11» seien Behauptungen über Massen­vernichtungs­waffen in die Welt gesetzt worden, die man aber nie fand.

Viele liessen ihr Leben im Zuge einer nicht provozierten Invasion. (...) Aber damit endet die Schuld noch nicht. Als Volk neigen wir dazu, sehr stolz auf uns und unsere Demokratie zu sein. (...) Wenn die Leute, die wir wählen, andere in den Tod oder Schlimmeres schicken (...), und wir nichts tun, um es zu verhindern, sind wir dann nicht ebenso schuldig?

«Die Philosophie des modernen Songs.» Wo hat sie uns hingebracht?

Von Detroit nach Detroit, in die wiedergeborene Motown-Stadt, die am Ende wieder da ist und bleibt. Aber wo bleibt Bob Dylan in der Philosophie des modernen amerikanischen Songs, ihr Grossmeister, ihr Nobelpreis­träger?

Er ist in jedem Song. Er trägt jeden vor. Er ist der Träger dieser Tradition und ihr Wort­führer, eingekleidet in Song-Stoffe, er ist ihre Verkörperung.

Gleich beim zweiten vorgestellten Song, Elvis Costellos «Pump It Up» von 1978 («Elvis Costello and the Attractions waren eine bessere Band als alle anderen zu ihrer Zeit. Lichtjahre besser»), merkt er an, Costello habe da «eine starke Dosis ‹Sub­terranean Home­sick Blues› intus» gehabt – dass dies Bob Dylans eigener epochaler Proto-Rap von 1965 ist, das herauszulesen überlässt der Philosoph der geneigten Leserschaft.

Bildhauer und Spiegel­bild

Im letzten Kapitel landen wir im «Where or When». «Das ist ein Song über Wieder­geburt», stellt Dylan zunächst klar und beschreibt über den Song ausladend das, was er selber gerade durchs ganze Buch betrieben hat (hier, wie auch an anderen Stellen, hätte man der Übersetzerin Conny Lösch mehr Zeit gewünscht):

Du hast eine Rede gehalten, drauflos­schwadroniert, laut gedacht, diskutiert – hast die Sau rausgelassen, bist anderen von Angesicht zu Angesicht begegnet, hast Kuckuck gespielt – hast dich vorwärts und rückwärts bewegt, hin und her – ohne jeden Unterschied, mit einer Ahnung, dass alles früher passiert ist, (...) und jetzt passiert es wieder, ein zeitloser Augenblick ist mit dem nächsten identisch – (...) es ist ein übersinnliches Gefühl (...) – ein lebenslängliches Bild, das bleibt.

Die Outfits, Klamotten (...), die pelzgefütterten Mäntel, was man damals trug, in grauer Vorzeit, das alles ist noch genau dasselbe. Die Schürze (...), die Nylon­strümpfe, der Hüftgürtel (...) – aufgedonnert und todschick.

Aufgedonnert und todschick: Ist das nicht eine exakte Beschreibung von Dylans eigenem Bühnen­outfit? Seinen zeitlos und übergross geschneiderten Edel­klamotten mit Western­stickerei?

Doch wir bleiben nicht im Zeitlosen. Da kommen noch «My Funny Valentine» vorbei, ein Nietzsche zitierender Kommunist und ein rassistischer Süd­staatler und ein Blues­man aus einem anderen Delta, es folgt Kritik an Hollywood, an der Zensur, am Black­facing und einiges mehr, das noch gesagt werden muss, bevor es am Schluss auf das hinausläuft, was dies alles überhaupt ausmacht: die Stimme.

Dions Version von ‹Where or When›, 1959 ein Riesenhit, wirft ein Licht auf das Talent hinter diesen Verwandlungen. Dank seiner atemberaubenden Gesangs­harmonien war es der grösste Hit der Belmonts in den Billboard-Charts (...). Wenn Dions Stimme im Mittelteil zu einem kurzen Solo durchbricht, fängt sie die schimmernde Beständigkeit der Erinnerung auf eine Weise ein, die das gedruckte Wort nur anzudeuten vermag.

Aber so ist das mit der Musik. Sie entspringt ihrer Zeit, ist aber zeitlos; durch sie entstehen Erinnerungen und das Gedächtnis selbst. Auch wenn wir dies selten berücksichtigen, baut die Musik so sicher auf ihrer eigenen Zeit auf, wie ein Bildhauer oder Schweisser im physischen Raum arbeitet. Musik überwindet die Zeit, weil sie in ihr lebt, so wie es die Reinkarnation einem ermöglicht, das Leben zu überwinden, indem man es immer wieder von Neuem lebt.

Mnemosyne, die aus der Musik Geborene, Mutter der Musen und des Gedächtnisses, wurde vom Gesang erschaffen. Wenn die Welt durch den Song hindurch gesehen wird, liegt sie in ihm. Bob Dylan malt hier in einem riesenhaften Zeit­gemälde seine Welt. Darin kommen Wildwest­mythen und Biblisches ebenso vor wie die mediale Lüge über den Selbstmord der Lemminge, die Frage nach einer nationalen Kunstform oder Frank Sinatras Gefühle für Ava Gardner.

O ja, und es gibt auch viel über amerikanische Musik zu lernen.

Zum Buch und darüber hinaus:

Bob Dylan: «Die Philosophie des modernen Songs». Aus dem Englischen von Conny Lösch. Verlag C. H. Beck, München 2022. 352 Seiten, ca. 50 Franken.

Das zeitgleich erscheinende Hörbuch wird gelesen von Wolfgang Niedecken. Das englische Original, unter anderem von Bob Dylan vorgelesen, gibt es hier zu hören.