Unterwegs mit den fünf Reitern des Posthistoire: Milo Rau. Gael Turine/The New York Times/laif

Moral und Paralyse. Zur totalen Gegenwart

Am Donnerstagabend hat der Regisseur, Theaterautor und Essayist Milo Rau im Schauspiel­haus die erste von drei Zürcher Poetik­vorlesungen gehalten. Ein Vortrag über Kunst, Moral und Realismus, den die Republik in voller Länge veröffentlicht.

Von Milo Rau, 04.11.2022

Vorgelesen von Milo Rau
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Guten Abend.

Im Verlauf der nächsten drei Wochen werde ich drei Vorlesungen halten. Jede dieser Vorlesungen soll, darum bat mich die Leiterin des Literatur­hauses Gesa Schneider, nicht viel mehr als eine Stunde dauern. Es fällt mir zwar schwer, mich kurz­zufassen, aber als Regisseur ist man Punkt­landungen gewohnt. Gestern beispiels­weise rief mich Aviel Cahn an, der Direktor der Genfer Oper, für den ich gemeinsam mit meinen Freunden Fiston Mwanza Mujila und Hèctor Parra eine Oper über die Wirtschafts­verbrechen im Kongo schreibe. Aviel sagte: «Ich wäre froh, wenn deine Oper weniger als zwei Stunden dauert, sonst muss ich eine Pause machen.»

Eine Stoppuhr wird eingeblendet. Und sie beginnt zu ticken.

Zum ersten Mal von den Poetik­vorlesungen gehört habe ich als junger Student der Soziologie und der Germanistik an der Universität Zürich. Das war im Jahr 1997. Damals sass man noch einmal in der Woche in der Vorlesung von Peter von Matt, aber nur ab der dritten Reihe, weil in den ersten beiden die Damen und Herren vom Züriberg sassen. Kurt Imhof, der Soziologe mit dem Motorrad, lebte noch, verwirrte uns alle – und nutzte uns junge Studentinnen natürlich aus als Recherche­maschinen. Er konnte nicht anders, wie alle strahlenden Menschen. Sigrid Weigel führte uns in Freud, das Alte Testament, die Postmoderne ein, gemeinsam mit meinem damaligen und heutigen Professorinnen-Star, Elisabeth Bronfen, die heute mir zuhört. Verrückt.

Aber für mich, von einem St. Galler Gymnasium kommend, war das, was an der Universität Zürich gelehrt wurde, sowieso verrückt. Es war verrückt, dass Tarantino, Moses, Pornofilme, mathematische Gleichungen, die Beastie Boys, Judith Butler, Molière, die Schwestern Brontë, Schweizer Tages­politik und Max Weber in der gleichen Lektion vorkamen. Dass Moral mit Ironie gemischt wurde, System­theorie mit Marxismus, die aufblühende Identitäts­politik mit Bruno Latours «Parlament der Dinge». Wenn ich 1997 aus den Vorlesungen kam, wusste ich nicht mehr, sondern weniger als vorher. Und ich bin noch heute der Meinung: Wissen ist die Vernichtung von Gewissheiten. Wissen ist nicht Information, sondern eine Art von Überblick, der uns aus der Welt der Informationen befreit.

Zum Autor

Milo Rau, geboren 1977 in Bern, zählt zu den wichtigsten Theater­machern der Gegenwart. Seine vielfach ausgezeichneten Arbeiten sprengen die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, Aktivismus und Kunst. Als er 2018 die künstlerische Leitung des Stadt­theaters NTGent in Belgien übernahm, erklärte er in einem Manifest, dass eine Produktion zweisprachig und pro Saison in einem Krisen- oder Kriegs­gebiet geprobt oder aufgeführt werden sowie wenigstens zwei Laien­darstellerinnen engagieren solle. Bereits 2007 gründete er dafür das International Institute of Political Murder – die Produktions­gesellschaft realisierte Projekte wie «Hate Radio» mit Über­lebenden des Genozids in Ruanda (2011), «Das Kongo Tribunal», das die neokoloniale Welt­ordnung neu verhandelt (2017), oder «Die Revolte der Würde & Das Neue Evangelium» (2019) über die Rechte von Geflüchteten, die über das Mittelmeer nach Europa kamen. Die Poetikvorlesung, die er am Donnerstag­abend im Schauspiel­haus Zürich eröffnete, setzte er am 10. November im Literaturhaus Zürich und am 16. November im Kunsthaus Zürich fort.

Aber vielleicht ist eine Information trotzdem hilfreich, damit Sie mich besser verstehen: Ich habe meine Ausbildung an der Mittel­schule und der Universität genau zwischen den Jahren 1989 und 2001 erhalten. Als hätte der Weltgeist an mir ein besonders kindisches Experiment durchführen wollen, bezog ich das Gymnasium direkt nach dem Fall der Berliner Mauer und schloss ich mein Studium in dem Moment ab, als die Türme fielen. 1989 bis 2001, das waren die Jahre der grossen Revision.

Die 1970er- und 80er-Jahre waren die Jahrzehnte der Auflösung dessen gewesen, was man früher etwas hochtrabend die «grossen Erzählungen» genannt hatte – der europa­zentrierten Universal­geschichte, des biologischen Geschlechts, der sozialen Klassen und der Idee des Klassen­kampfs, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Diese Auflösung wurde in den 1990ern, als ich ein Teenager war, demokratisiert. Mit anderen Worten: Unser Lehrplan war diese Auflösung. Und «Dekonstruktion» des guten alten binären Abend­lands war die einzige Aufgabe meiner intellektuellen Generation. Shakespeare zu lesen oder ihn gar zu inszenieren, das hiess in meinen Lehrjahren, ihn zu dekonstruieren.

Übrigens ein Wort, das mich melancholisch stimmt, so altmodisch ist es: «Dekonstruktion».

In den 1970ern wagten nur ein paar Avantgardisten wie Peter Zadek oder Ariane Mnouchkine, Shakespeare zu dekonstruieren. In den 1990ern, als ich zur Schule ging, war die Arbeit getan. Man musste «Romeo und Julia» wirklich gelesen haben, um eine entfernte Ahnung davon zu haben, was die Schauspieler da trieben zwischen den Trümmern des Urtexts (den man unter den Technobeats, die damals angesagt waren, sowieso nicht verstehen konnte). Und das am Theater St. Gallen, wo ich meinen ersten Shakespeare sah. Auf der Bühne des Schauspiel­hauses, auf der ich gerade stehe, war alles natürlich noch viel, viel schlimmer. Da wüteten Schlingensief, Marthaler, die Jungs vom Golden Pudel Club und so.

Aber nicht so schnell.

1996 verliess ich St. Gallen an einem kalten Februartag und begann in Paris zu studieren. Dort lief alles noch ziemlich old style, ausser in den Seminaren von Pierre Bourdieu und Bruno Latour, aber dazu ein anderes Mal. Ab 1997 studierte ich dann fest in Zürich. Aus Gründen, die ich nie verstanden habe, wollte ich unbedingt Germanistik studieren – vielleicht weil es der Traum meines Grossvaters Dino Larese gewesen war, eines italienischen Einwanderers. Es war für mich ein Herbst der Wunder, ein Herbst der grossen Verwirrung. In jenem Herbst, fast auf den Tag genau vor einem Viertel­jahrhundert, hielt auch der Schriftsteller W. G. Sebald die Vorlesung, die ich heute halte: die Zürcher Poetik­vorlesung.

Sebalds Titel lautete «Luftkrieg und Literatur». Obwohl äusserst distanziert gehalten, war Sebalds Vorlesung ein Skandal. Es war wie in Adornos Zitat zur Unmöglichkeit der Dichtung nach Auschwitz: Über den Bomben­krieg, also das Leid der Deutschen, der Täterinnen zu sprechen, war an sich eine Art Tabubruch.

Noch einmal zehn Jahre später, ich hatte mein Studium, wie gesagt, kurz nach dem Fall der Türme abgeschlossen und arbeitete in Dresden an einem Stück namens «Pornographia», hielt Herta Müller die Zürcher Poetik­vorlesung. 2009 bekam sie den Nobelpreis für ihren Roman «Atemschaukel», in dem es um die Verfolgung der Rumänien­deutschen unter Stalin geht. Damals, zwanzig Jahre nach der Wende, arbeitete ich in Bukarest an «Die letzten Tage der Ceausescus».

Dass ein Buch den Nobelpreis bekam, das die Leiden eines Deutschen unter dem Kommunismus in einer Region Europas ins Zentrum stellt, in der die (rumänischen und deutschen) Faschisten wie kaum in einer anderen gewütet hatten: das überraschte niemanden. Ebenso wenig überraschte mich, dass ein Stück zum Tod des stalinistischen Ehepaars Ceausescu, das von einem linksradikalen Künstler wie mir erarbeitet wurde, von der Konrad-Adenauer-Stiftung, der Kultur­stiftung der CDU, unterstützt wurde.

Um die Jahrtausendwende fanden sich also ich und die Konrad-Adenauer-Stiftung, der Bombenkrieg und der Holocaust, Hitler und Stalin, die Rumänien­deutschen und die Juden, die Beastie Boys und Judith Butler, Karl Marx und – fast hätte ich ihn vergessen – Carl Schmitt alle irgendwie in der gleichen Geschichte wieder, eine Form der europäischen Einigung aus einer undefinierbaren, aber geschichts­philosophisch radikalen politischen Mitte heraus. Es war, wie der Philosoph Jean-Claude Michéa in seinem Essay «Das Reich des kleineren Übels» geschrieben hat, ein «Staat, der nicht denkt» entstanden: «Ein Staat ohne Ideen, oder wie die Liberalen sagen: ohne Ideologien.» Oder noch kürzer: «Ein Staat ohne Werte.»

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Auf dem Bild sehen Sie den Portikus des Parc Simone Veil, der vor einigen Wochen in Frankreich eröffnet wurde. Simone Veil überlebte den Holocaust und war Präsidentin des Europäischen Parlaments, zudem Mitglied der Académie française. Und wie Sie sehen können, ähnelt der Portikus des nach ihr benannten Parks auf faszinierende Weise dem berühmten Eingang zum Konzentrations­lager Auschwitz. Fotos des Parc Simone Veil führten deshalb sofort zu einem Shitstorm; als moralisch entrüstete Journalistinnen den Gemeinderat des kleinen französischen Ortes, dessen Name hier nichts zur Sache tut, fragten, was sie sich dabei gedacht hätten, antwortete dieser: «Nichts.»

Die Uhr tickt. Bitte nicht vergessen. Sieben Minuten dürften in etwa vergangen sein.

Vor einem Monat habe ich an meinem Theater in Belgien, dem NTGent, ein Stück produziert. Es heisst «A Play for the Living in a Time of Extinction». Das Stück wurde von der Amerikanerin Miranda Rose Hall geschrieben, von der flämischen Aktivistin Martha Balthazar inszeniert und der nigerianisch-belgischen Schauspielerin Lisah Adeaga performt. Es ist der innere Monolog einer Dramaturgin, der damit beginnt, dass sie sagt: «Während ich spreche, wird alle sieben Minuten eine Art von der Erde verschwinden.»

Seit Beginn dieser Vorlesung (beziehungsweise Ihrer Lektüre) ist also eine Art verschwunden. Ich weiss nicht, welche. Vielleicht eine Spinnenart, vielleicht eine Salamanderart, denn irgendwo habe ich gelesen, das seien die gefährdetsten Arten. Grosssäuger sind eher unwahrscheinlich, die verschwanden bereits kurz nach Auftauchen des Homo sapiens auf der Erde. Und «kurz» heisst in Erdzeit ja normaler­weise einige zehntausend Jahre, nachdem der Mensch aus Afrika nach Europa und Asien emigrierte. Wir befinden uns in einem viel schnelleren Prozess. Wozu wir früher zehntausend Jahre brauchten, brauchen wir heute sieben Minuten.

Aber versuchen wir zu verstehen: alle sieben Minuten eine Art. Das Erschreckende ist nicht die Tatsache an sich, denn die Tatsache ist nicht vorstellbar. Man kann über das Abstrakte des Arten­sterbens nicht erschrecken. Ich immerhin kann es nicht. Nein, was erschreckend ist, ist das, was man die Faltung der Zeit nennen könnte. Es vergehen Millionen von Jahren, und dann erscheint eine Gegenwart, die – wie soll ich sagen? – so kompakt, so kristallin, so absolut ist, dass in ihr in wenigen Minuten nicht nur ein Individuum, sondern eine Art verschwindet, die sich in Millionen, streng genommen in viereinhalb Milliarden Jahren, nämlich seit Beginn des Planeten, entwickelt hat.

Eine nach menschlichen Massstäben ewige, undenkbare Vergangenheit des Lebens und mit ihr eine genauso undenkbare, fantastische Fülle an Zukunft: vernichtet in ein paar Minuten. Wie ein Kometen­einschlag, aber ohne Komet. Ein kosmisches Drama, aber ohne Handlung und ohne Zuschauerinnen. Denn Sie werden mir zustimmen, dass der Gedanke an den individuellen Tod oder – kulturhistorisch gedacht – das Ende einer Zivilisation zwar auch nicht denkbar, aber akzeptabel ist. Es gibt sie ja: die Geschichte und mit ihr die Erinnerung, und «die Menschheit», die Art, die kollektive Kultur.

Sappho ist tot, das antike Griechenland ist vergangen – gleichzeitig kann ich sie hier zitieren: «Buntbethronte, himmlische Aphrodite, komm und lös aus schweren Sorgen mich.» Sappho lebt, auf der Scherbe, auf der dieses Gedicht entdeckt wurde, als Mythos, im Stil von Anne Carson oder Kae Tempest, meinen beiden Lieblings­dichterinnen. Ein Teil meiner Familie, eine meiner Grossmütter, kam in den 1930ern in die Schweiz, um den deutschen Nazis zu entkommen – andere starben. Aber ich erzähle hier von ihnen, ich kann hier vortreten und von meinen Grossmüttern, Urgross­müttern, Urgross­tanten sprechen. Also sind sie nicht tot. «Alles ändert sich», wie das Motto einer unserer Spielzeiten in Belgien hiess, «aber nichts vergeht.»

Beim Aussterben aber vergeht, ja verschwindet mit dem individuellen Tod, da es der letzte ist, die Sprache, das Wesen, die Kultur, die Kollektiv­geschichte einer Art. Das sind, völlig unmetaphorisch, die von Marx besungenen «eiskalten Wasser» des Kapitalismus: die Übersäuerung der Meere, der Bauboom, die Mono­plantagen, die Insektizide, die Flächen­brände, in denen täglich Milliarden an Wesen sterben. Und sollte eine Scherbe gefunden werden, auf der eines dieser Tiere die Trauer um seine Artgenossen verewigte, einsam herumirrend: Sie würde nicht einmal als Sprache begriffen. Denn dieser Tod, diese Gegenwart, von der ich heute sprechen will – und wir stehen in ihrer Mitte –, vernichtet alles Vergangene genauso wie alles Kommende: jede Erinnerung, jeden Zusammen­hang und damit jedes Verstehen.

Angesichts dieser Tatsache, die wie gesagt emotional unfassbar ist, will ich fragen: Was ist die Zeitlichkeit einer solchen Gegenwart? Wie kann die Zeit gleichzeitig stillstehen und so ungemein beschleunigt sein, ja: rasen? Warum macht uns dieser Stillstand alle so verrückt? Was ist die Moral dieser totalen, in ihrer Totalität so durchaus nihilistischen Gegenwart? Und wie gehen Moral und Nihilismus, Untergang und Taten­losigkeit zusammen?

Moral und Paralyse. Zur totalen Gegenwart

Meine erste Poetikvorlesung trägt den hochtrabenden Titel «Moral und Paralyse. Zur totalen Gegenwart». Es ist, wie gesagt, eine Poetik­vorlesung, also werde ich über meine Arbeit sprechen. Wie einige von Ihnen wissen, bin ich Materialist: Ich denke, dass die Umstände, unter denen ich lebe, bedeutsamer sind, als ich es bin. Ich denke, dass es das «Ich» gar nicht gibt, sondern nur Beziehungen, in denen ich auftrete. Ich denke, dass jeder Gedanke, der mir wert scheint, festgehalten zu werden, auf Begegnungen beruht, auf dem, was wir in der Kunst «Projekte» nennen.

Ich kann nicht denken, wenn ich allein bin, ich glaube: Es gibt kein einsames Denken. Das klingt etwas postmodern, deshalb füge ich hinzu: Die Bedeutung der Dinge, des Daseins, vielleicht ja des Seins eröffnet sich mir auch und vielleicht noch unmittelbarer dadurch, dass ich selbst ein Ding bin, ein «Erdling», wie Bruno Latour gesagt hätte. Man hat nicht eine Heimat, eine Kultur, eine Biografie – die Heimat, die Kultur, die Biografie haben uns. Was ist also die Zeit, aus der heraus ich spreche? Was ist diese Zeit, dessen zufälliger Bewohner, deren Erzeugnis ich bin?

Totale Gegenwart ist, möchte ich anfangen, ein Zustand ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Dieser Zustand ist einerseits ganz allgemeiner Natur. Jeder Mensch durchlebt ihn bei jedem neuen Ereignis, das seine Aufmerksamkeit fesselt. Ekstatische Präsenz: Das will jede Performance, jedes Gedicht sein, nicht wahr? Waren wir nicht kurz unserer Zeit enthoben, als wir vorher Sappho sprechen hörten, über die Jahrtausende hinweg? Die Fülle des Moments macht das Verfliessen der Zeit überhaupt erst erfahrbar. Und bei melancholischen Charakteren wie beispiels­weise mir muss man hinzufügen: überhaupt erst erträglich. Andererseits, und darum geht es mir, ist dieser Zustand in kapitalistischen Spektakel­gesellschaften nicht nur eine individuelle, sondern eine gesellschaftliche Dauer­erfahrung.

Totale Gegenwart: die absolute Seins­vergessenheit, das absolute Wegsacken des Zusammen­hangs, der metaphysischen Leitlinie. Eine Musik ohne Thema, die absolute Performance, in der alles gleich ist. Die Kunst, und das ist meine persönliche Überzeugung, muss dagegen vor allem eines tun: Vergangenheit erforschen und Zukunft zurück­erobern. Sie muss der Gegenwart hinten und vorne die Ausgänge freihalten, um uns, in einem Satz, wieder in geschichtliche Bewegung zu bringen. Denn nur eine offene Gegenwart, in der man aus Distanz zum Geschehen Stellung nehmen kann, ist darstellbar. Und nur eine darstellbare Gegenwart kann als veränderbar begriffen werden.

Die fünf Reiter des Posthistoire

Sie kennen die Reiter der Apokalypse, die im 6. Kapitel der Offenbarung des Johannes erscheinen zur Ankündigung der letzten vier Dinge: Tod, Gericht, Himmel oder Hölle. Es ist eine meiner Lieblings­stellen aus der Bibel, auch eine der rätselhaftesten, wenn das Lamm (also Jesus) das Buch der sieben Siegel öffnet:

«Dann sah ich: Das Lamm öffnete das erste der sieben Siegel; und ich hörte das erste der vier Lebewesen wie mit Donner­stimme rufen: ‹Komm!› Da sah ich und siehe, ein weisses Pferd; und der auf ihm sass, hatte einen Bogen. Ein Kranz wurde ihm gegeben, und als Sieger zog er aus, um zu siegen. Als das Lamm das zweite Siegel öffnete, hörte ich das zweite Lebewesen rufen: ‹Komm!› Da erschien ein anderes Pferd; das war feuerrot. Und der auf ihm sass, wurde ermächtigt, der Erde den Frieden zu nehmen, damit die Menschen sich gegenseitig abschlachteten.» Und so weiter.

Der erste Reiter verkörpert die Gerechtigkeit, die Reinheit; der zweite den Krieg; der dritte den Hunger, und der vierte den Niedergang und schliesslich den Tod. Es gibt einen Film, der vom Finanz­kapitalismus und davon handelt, wie er mit der Zerstörung der Erde zusammenhängt, der «The Four Horsemen» heisst – die «vier apokalyptischen Reiter». Und in den Jahrtausenden davor wurde natürlich jedes Zeitalter, das sich in übertriebener Gerechtigkeit übte und zugleich in Kriegen, Inflation und Massentod versank, als Beginn des Endes interpretiert.

Die Reiter des Posthistoire, die ich Ihnen präsentiere, sind nicht vier, sondern sogar fünf. Sie sind die Kampf­truppe der totalen Gegenwart. Sie sorgen dafür, dass das Ende eintrifft: dass sowohl die historische Erinnerung wie die Neuschreibung von Geschichte verunmöglicht wird. Sie lähmen uns mit Alarmismus und Moralismus, mit Narzissmus und Recht­haberei, während die Welt vor unseren Augen vernichtet wird. Gericht, Himmel und Hölle, alles gleichzeitig.

Die fünf Reiter des Posthistoire: Ich wähle absichtlich diese biblische Bezeichnung, um anzuzeigen, dass es mir um etwas zugleich Universelles und völlig Privates geht, um eine universale Charakter­deformation. Darum, womit ich als Künstler der Gegenwart zu kämpfen habe, womit wir alle gemeinsam zu kämpfen haben. Was uns ausmacht.

Der erste Reiter: Der Reiter der Über­informiertheit

Wie soll man ins Arbeiten und ins Handeln kommen, wenn man immer schon alles weiss und nichts hinzufügen kann? Wenn man allein schon deshalb keinen Anfang finden kann, weil man nie alles wissen kann und ewig in der Informations­schlaufe stecken bleibt? Vor einiger Zeit wurde «Krieg und Frieden» online gestellt, der grossartige Propaganda­roman des Russen Tolstoi, und die wichtigsten Begriffe waren mit einem Hyperlink versehen. Eine Untersuchung zeigte: Schon beim ersten verlinkten Begriff – nämlich «Gräfin» – klickte sich über die Hälfte der Leserinnen weg, um niemals wieder­zukehren. Eine Geschichte mit Anfang und Ende, mit Charakteren und Verwicklungen, löste sich in der puren Information darüber auf, was der Titel einer «Gräfin» zu bedeuten hatte, damals, im Russland Tolstois.

Aber lassen Sie mich eine persönliche Anekdote erzählen. Wie erwähnt: Bevor ich nach Zürich kam, um hier zu studieren, ging ich nach Paris, um an der Sorbonne zu studieren. Das war 1996. Ich war gerade 19 Jahre alt geworden und sollte meine erste Seminar­arbeit schreiben über – und ich weiss nicht mehr, warum ich mich für dieses absurde Thema entschied – den Gebrauch von Zwischen­titeln in den Filmen von Jean-Luc Godard.

Mein Lieblings­zwischentitel von Godard ist übrigens folgender aus seinem Film «La Chinoise», einer Art frühen Studie zu den Reitern des Posthistoire:

Filmstill

Der Witz an dem Titel ist, dass er nichts weiter tut, als das zu tun, was er tut: die letzte Szene des Films, in dem er auftaucht, anzukündigen. Aber natürlich war das nur eine Weise der Verwendung von Zwischen­titeln bei Jean-Luc Godard, der manchmal Hunderte von Titeln in einem Film verwendet. Und davon abgesehen: Es gibt über keinen anderen Regisseur vergleichbar viele Artikel und Bücher wie über Godard, über seinen Gebrauch der Musik, seine Zitat- und Montage­technik und so weiter. All das hängt natürlich, so wurde mir klar, mit seinem Gebrauch der Zwischen­titel zusammen.

Ich verbrachte einen Monat, dann zwei Monate in der Universitäts­bibliothek. Ich las am Ende an die sechzehn Stunden pro Tag, und natürlich hatte ich auch nach drei Monaten nicht einmal ein Prozent, vielleicht sogar nicht mal ein Promille aller Abhandlungen zu Godard gelesen. Paralysiert sass ich schliesslich an meinem Schreib­tisch, umgeben von Notiz­zetteln. Meine Gedanken rasten, aber mein Kopf war unfähig geworden, irgendetwas Sinnvolles mit dem angehäuften Wissen anzufangen. Ich schrieb eine Einleitung, die am Ende hundert Seiten lang war, in der ich – im Stile jener Zeit – alle anderen bisherigen Film­historikerinnen in Bezug auf den Gebrauch von Zwischen­titeln bei Godard als wirklichkeits­blind, konservativ, rassistisch, sexistisch oder antisemitisch beschimpfte.

Das wiederholte sich später, als ich Kritiker bei der NZZ, dann Autor und schliesslich Regisseur wurde, bei jedem Artikel, jedem Buch, jeder Inszenierung, jedem Film – und vielleicht gilt das für unsere Zeit, die sogenannte Wissens­gesellschaft insgesamt: dass wir zu viel wissen, um überhaupt noch ins Handeln zu kommen.

Für die Filmfassung des «Kongo Tribunals» häufte ich über die Jahre an die 500 Stunden Film­material an. Sie können sich vorstellen, wie grässlich, fast unmöglich die Montage war. Für diese Rede, für die ich nun vor Ihnen stehe, habe ich die Zürcher Poetik­vorlesungen von Sebald und Müller wiedergelesen – oder sie immerhin bei meiner Buch­handlung bestellt. Und natürlich wurde die Aufgabe, heute Abend etwas Sinnvolles von mir zu geben, desto schwerer und unmöglicher, je länger und intensiver ich mich mit ihr beschäftigte.

Es ist seltsam, nicht wahr: Wenn man nur genug über etwas weiss, dann geht es einen am Ende nichts mehr an, dann weiss man damit nichts mehr anzufangen. Je mehr Gedanken ich mir – über Godard, den Kongo, die Poetik­vorlesungen – machte, umso gedanken­loser wurde ich.

Wie auch immer: Ich schrieb die Arbeit am Ende in den drei Tagen vor dem Abgabe­termin, unterstützt von meiner damaligen Freundin, die ein besseres Französisch schrieb als ich. Obwohl meine Überlegungen dem Wissens­stand über Godard natürlich nichts Relevantes hinzufügten, so erinnere ich mich doch bis heute an das Gefühl der Befreiung, an dieses ozeanische Gefühl der, ja, der Mensch­werdung, das mich beim Schreiben, dann beim Drucken, schliesslich beim Heften und Abgeben im Universitäts­büro durchströmte.

Es war das gleiche Gefühl, das ich auf Demonstrationen, bei Proben und Drehs, während politischen Manifestationen oder Kunst­aktionen erleben sollte: diese plötzlich im Guten totalisierte Gegenwart, in der alles, was ich wissen musste, enthalten war. Diese an Rausch grenzende Freude, gemeinsam etwas zu machen aus all unserem Wissens­ballast, plötzlich einen tätigen Ort zu haben in dieser unüber­blickbaren Welt.

Denn es zählt nicht, was wir wissen, was wir gern tun würden oder wie wir uns selbst oder die anderen einschätzen. Im Grunde ist Wissen nur eine Voraus­setzung für das Handeln. Oder anders ausgedrückt: Wissen haben wir sowieso immer genug. Es zählt nur, was wir damit tun. Nehmen wir also die Gegenwart ernst in ihrer totalen und dadurch demokratischen und voluntaristischen Qualität. Oder simpler ausgedrückt: Jede Sekunde ist ein möglicher Neuanfang.

Der zweite Reiter: Der Reiter der Kritik

Diese Vorlesung hat eine Einleitung, die etwa sieben Minuten dauerte und ausschliesslich in einer Kritik dessen bestand, was ich Posthistoire nannte – übrigens ein von der Postmoderne selbst erfundener, letztlich selbst­kritischer Begriff. Womit wir zum zweiten Reiter kommen: dem Reiter der Kritik. Denn zwar führen die aktuellen Krisen an fast allen Punkten zur Zunahme von Kritik und Protest, von Appellen und Solidaritäts­gesten. Aber diese Kritik scheint meist nicht eine veränderte Praxis hervor­zubringen. Sie scheint, ganz im Gegenteil, an die Stelle einer möglichen Veränderung selbst getreten zu sein.

Mit anderen Worten: Das als alternativlos erlebte Reale wird nicht als veränderlich, sondern eben nur als kritisierbar dargestellt. Wir sehen uns, das ist der zweite Reiter, mit einer Kritik konfrontiert, die die Utopie überschreibt, sie vertagt. Die Haltung der Kritik ist damit eine Haltung, die nicht gegen das als falsch Verstandene revoltiert, sondern es entweder mitmacht, es gleichzeitig als falsch brandmarkt oder aber sich ganz abwendet und passiv bleibt. Die Aktivistinnen- und die Hippie-Variante. Symptomatisch ist hier das, was ich den Minimal­dissens nennen will: Die Kritik wirkt dort besonders spaltend, wo man eigentlich zusammen­spannen sollte. In den sogenannten aufgeklärten Kreisen.

Denn das vermutlich grösste Problem jeder Aufklärung besteht darin, dass sie von klugen Menschen angetrieben wird, normaler­weise von einer kleinen Avantgarde. Kluge Menschen lieben es, zu debattieren – oder mit anderen Worten: recht zu behalten. Was auch immer man sagt und vorschlägt, die Kolleginnen stehen bereit, um einen misszuverstehen. Wohl jede, die sich einmal engagiert hat, kennt diese Art des Streits: Er ist auf eine untergründige Weise boshafter, erbitterter, weniger auf Ausgleich aus, als man es bei Gleich­gesinnten eigentlich annehmen könnte.

Ich weiss nicht, ob Sie die Debatten um das Zürcher Schauspiel­haus mitbekommen haben: das «House of Wokeness», wie das Schauspiel­haus in Medien genannt wurde, sei von endlosen Debatten geprägt. Ich bin einer der related artists, also eine Art regelmässiger Gast am Schauspiel­haus. Ich gelte, wie ich der «Weltwoche» und der NZZ in den letzten Wochen entnahm, als «oberster Integrations- und Inklusions­beauftragter», als Wokeness-König und Moral­apostel, und ich muss zugeben: Das ist wahr. Seit den Tagen des National­konvents unter Robespierre gab es wohl wenige Orte, an denen derart extremistisch um minimalste Meinungs­verschiedenheiten gekämpft wird, wie das Theater unserer Tage. Und vielleicht ist das an den heutigen westlichen Kultur­institutionen und an den Universitäten insgesamt so.

Im Frühjahr habe ich auf dieser Bühne «Wilhelm Tell» inszeniert. Und ich hatte nie so viele und so harte Diskussionen wie hier, im Herzen der aufgeklärten Schweiz. Das Zürcher Schauspiel­haus ist vermutlich nicht nur einer der privilegiertesten Orte des Planeten, sondern der ganzen Welt­geschichte. Müsste an einem solchen Ort nicht fast zwangsläufig ideologische Entspanntheit, kosmopolitischer Pragmatismus und aktivistischer Drive herrschen? Doch dem ist nicht so.

Ich verfing mich in geradezu absurden, labyrinthischen Meinungs­verschiedenheiten. Und das ausschliesslich mit Menschen, mit denen ich in absolut allem übereinstimme. Denn diese Streitigkeiten fanden nie innerhalb der Produktion statt, nie innerhalb des ultradiversen Ensembles des «Tell». Ich stritt mich nie mit den Menschen, die tatsächlich unterschiedlich von mir sind, die andere biografische Hinter­gründe als ich haben, aus anderen Milieus kommen – etwa einer ehemaligen Zwangs­arbeiterin oder den Antirassismus- und Inklusions-Expertinnen im «Tell», die Diskriminierung und Gewalt täglich erfahren, weil sie People of Color ohne Festvertrag sind, weil sie vom Staat entmündigt und ausgebeutet wurden, weil sie im Rollstuhl sitzen, weil sie schlichtweg zu einer völlig anderen Generation gehören.

Mit diesen Menschen diskutierte ich, machte ich Kunst. Streit, diesen seltsam unversöhnlichen Streit, von dem ich hier spreche, gab es ausschliesslich mit Menschen, die den gleichen sozialen und biografischen Hinter­grund wie ich haben: eben mit der kleinen, gebildeten, privilegierten Avantgarde, mal rechts und mal links, mal liberal und mal konservativ, mal lokal und mal global, zu der natürlich auch ich und wohl die meisten hier gehören.

Während sich die Welt draussen weiterdrehte und alle sieben Minuten eine Art für immer verschwand – seit Beginn dieser Vorlesung sind es vier –, während unsere ganzen Debatten mit Steuer­millionen finanziert wurden, die von Schweizer Gross­konzernen im Kongo per Kinder­arbeit erwirtschaftet werden, während dieser Zeit waren unsere Minimal­dissense so ohren­betäubend laut, dass dahinter das ewige Schweigen des globalen Todes nicht mehr zu hören war – oder einfach die tatsächlichen Probleme meiner Mitarbeitenden, etwa eines Rollstuhl­fahrers, der über Wochen wegen einer Treppen­stufe nicht in die Kantine konnte, da mir schlichtweg keine Zeit und Energie blieb, eine simple Holz­rampe für ihn einbauen zu lassen.

Insofern appelliere ich an Ihre, an unsere und vor allem natürlich an meine Gross­zügigkeit. Seltsamerweise wird unser Blick enger, unsere Binnen­moral strenger, je grösser und globaler die Bedrohung des Lebens ist, welches wir führen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir diese Lektion aus unserer Geschichte gelernt haben: Die Uneinigkeit der Wohl­meinenden stärkt die Herrschaft des Tatsächlichen. Und der Minimal­dissens hat einen grossen Bruder: den Skeptizismus. Die Postmoderne hat uns mit der Idee der Relativität aller Wahrheit, der Auflösung der «grossen Erzählungen» und der Demokratisierung dessen, was richtig und wichtig ist, nicht nur aus den Fesseln der modernen Ideologien befreit. Sie hat uns auch eine gefährliche Erbschaft hinterlassen: die des berühmten, pseudo-liberalen «Jede*r, wie sie oder er will».

Denn dass die Wahrheit relativ ist, dass jedes dominante, «objektive» Wissen als Herrschafts­wissen durchschaut wurde, dass dank der nunmehr über drei Generationen eingeübten Kritik die Pluralität der Standpunkte über die institutionell gesicherte Objektivität des Wissens gesiegt hat: fair enough! Dass die dümmliche Binarität der westlichen Zivilisation endlich und vielleicht endgültig dekonstruiert wurde: hervorragend! Aber spätestens mit dem Aufstieg des Rechts­populismus hat sich die Waffe des Skeptizismus gegen die Aufklärung selbst gewendet. Die Herrschafts­kritik ist unmerklich zur Waffe der Herrschenden geworden – und richtet sich damit gegen den Planeten, gegen das Lebende insgesamt. Oder wie der ehemalige und vielleicht ja zukünftige amerikanische Präsident Donald Trump es einmal ausdrückte, als ihm jemand die Fakten zum Klima­wandel vorlegte: «Das ist Ihre Meinung, lassen Sie mich meine haben.»

Man muss den Klimawandel, das Massen­sterben, die Ausbeutung des Globalen Südens nicht leugnen, um weiterhin ein «abstraktes» Leben zu führen, das der kommenden Apokalypse nicht entspricht. Es reicht, dass Zeit vergeht. Es reicht, dass wir, die sicher reichste, sicher sicherste und vielleicht sogar am besten gebildete Gruppe von Menschen der Welt­geschichte fortfahren, uns gegenseitig Vorwürfe zu machen. Uns gegenseitig als woke Wahnsinnige, konservative Arschlöcher oder neoliberale Zyniker zu bezeichnen. Es reicht, dass wir nur an uns selbst, an unsere eigenen Probleme denken. Um aus dem Essay «Verbundensein» von Kae Tempest zu zitieren: «Niemand interessiert sich wirklich dafür, was wir sagen und wie wir es sagen.» Und das ist gut so. Hören wir also auf, so zu tun. Seien wir grosszügig.

Der dritte Reiter: Der Reiter der Abgrenzung

Es gibt ein Paradox, das ich, als ich in Zürich bei Kurt Imhof zu studieren begann, gleich in der ersten Soziologie­vorlesung lernte: die Tatsache, dass sich das Ungerechtigkeits­empfinden einer Gruppe in einer Weise entwickelt, in der die reale Ungerechtigkeit, die sie erleidet, geringer wird oder ganz verschwindet. Ich bezeichnete das Zürcher Schauspielhaus, an dem ich selbst arbeite, als einen der privilegiertesten Orte überhaupt auf dem Planeten. Eine globale künstlerische Elite versammelt sich hier, auf dieser Bühne, um die Grenzen dessen auszutesten, was Theater heute sein kann. Ein zweifellos paradiesischer Zustand, der aber nicht zu allgemeiner Zufriedenheit führt, sondern im Gegenteil: zur solipsistischen Untersuchung dessen, was der Soziologe Pierre Bourdieu die «feinen Unterschiede» nannte. Denn noch einmal: je geringer die Unterschiede innerhalb einer Gruppe, desto tiefer werden sie empfunden.

Dabei sind die Zeiten auf die grossen, die weltgeschichtlichen Unter­schiede gestellt. Als ich im Sommer des Jahres 1990, kurz nach dem Fall der Berliner Mauer, ins Gymnasium kam, schrieb der Philosoph Jean Baudrillard: Eigentlich können wir die nächsten zehn Jahre überspringen und gleich mit dem 21. Jahrhundert beginnen. So erledigt schien damals das 20. Jahr­hundert mit all seinen politischen Obsessionen. Der Kommunismus, der Faschismus, der europäische Grössen­wahn, die Objektivität, alles war kaputt oder immerhin dekonstruiert. Heute ist es umgekehrt. Wir könnten die ersten 22 Jahre des 21. Jahr­hunderts auch streichen, derart vollständig kehren wir gerade zu den Albträumen des 20. Jahrhunderts zurück, nur verdrängungs- und biotechnisch natürlich upgedatet.

Wir lassen die Menschen sterben für unseren Reichtum, im Nahen Osten, in Afrika, im Mittelmeer. Der Osten steht wieder gegen den Westen, in der Ukraine tobt ein Krieg, während wir in den intellektuellen und wirtschaftlichen Chefetagen der Welt ausschliesslich um uns selbst kreisen. Warum verhalten wir uns wie Verfolgte, während wir doch, wenn auch nur durch einen historischen Zufall, eigentlich die Gewinnerinnen dieser Welt­ordnung sind? Warum grenzen wir uns ab von jenen, die unter unserer Lebens­weise leiden?

Dieser Reiter, der Reiter der Abgrenzung, ist – zumindest in der Kulturszene – das aktuell grösste Problem: Man arbeitet mit einer hermetischen, identitären Ästhetik an einer postidentitären, globalen, entgrenzten Wirklichkeit. Man spricht über feine, über gefühlte Unterschiede mehr als über die realen Verwerfungen. Man versucht an sich selbst zu heilen, was nur draussen in der Welt zu heilen wäre, wenn überhaupt. Man schliesst sich ab, da man mit dem Chaos und der unsagbaren Brutalität der Welt ohnehin nicht fertig wird, und übt sich in der Kunst – immerhin hier, denkt man sich – in extremer Sanftheit und Reinheit.

Das, was ich dagegen Globalen Realismus nennen will, ist ein Versuch, die Widersprüche universeller (oder globaler) Frage­stellungen in die homogenisierte westliche Welt, in die kulturellen und wirtschaftlichen Chefetagen zu re-importieren: sei es in der Zusammen­setzung der Teams, in der Wahl der Zeitebenen, der Spielorte und der Darstellungs­weisen. Dabei geht es mir nicht um die konservative und uninformierte Kritik von safe spaces: Wer von Nazis verprügelt wurde, will nicht unbedingt Theater mit ihnen machen, das ist nur zu verständlich. Rassismus ist keine Meinung, wie es so schön heisst. Aber der Globale Realismus – und daran experimentiert auch das Zürcher Schauspielhaus – versucht die Differenzen, die real existieren, nicht linguistisch auszublenden, sondern fühl- und darstellbar zu machen.

Ein Effekt der Globalisierung ist, dass Ursache und Folge von kriegerischer ökonomischer, ökologischer oder auch einfach psychologischer Macht­anwendung voneinander getrennt sind. Wir konsumieren Bilder und Rohstoffe, die in Welt­gegenden produziert werden, die wir nicht kennen. Wir exportieren die Kosten unserer Lebens­weise in die Zukunft, die wir selbst nicht mehr erleben werden – oder die ohnehin nur andere Welt­gegenden betreffen. Der Soziologe Stephan Lessenich hat in Bezug auf die europäischen Industrie­nationen von «Externalisierungs-Gesellschaften» gesprochen: Die sozialen und ökologischen Folgen unserer Lebensform werden in den Globalen Süden oder in die Camps an der Peripherie Europas ausgelagert, so wie in früheren Jahrhunderten in die düsteren Vorstädte. Der Globale Realismus versucht nun, diese Externalisierungs­leistung im Rahmen von Projekten umzudrehen: Schub­umkehr, auf der Suche nach alternativen, humaneren und nachhaltigeren Produktions­weisen und Distributions­systemen.

Jesus kehrt zurück nach Europa wie in meinem Projekt «Das Neue Evangelium», aber er kommt aus Kamerun, und seine Apostelinnen sind Geflüchtete, anarchistische Klein­bäuerinnen, Philosophinnen, die nichts verbindet als ihr Widerstand gegen die herrschende Weltordnung. Das absolute Nein der Jesus-Bewegung gegen den römischen Imperialismus und gegen den von Pontius Pilatus verkörperten zynischen Humanismus jener Zeit wird fürs 21. Jahrhundert aktualisiert, als solidarische Praxis. Jede identitäre Abgrenzung fällt im paulinischen Akt der Kunst.

Das Problem einer solcherart inklusiv gedachten politischen Ästhetik ist natürlich, dass die in ein imperiales Aussen ausgelagerten Probleme plötzlich zu internen und künstlerischen werden. Ein paar Beispiele: Wo der Staat abwesend ist, ist man zur Zusammen­arbeit mit mafiösen Macht­strukturen (wie in «Das Neue Evangelium») oder mit korrupten Eliten (wie beim «Kongo Tribunal») gezwungen. Man mischt sich in interkulturelle Debatten ein, deren reales Gewalt­potenzial sich erst im Projekt selbst enthüllt – wie etwa bei «Orestes in Mossul», in dessen Folge wir in Mossul, der ehemaligen Hauptstadt des Islamischen Staats, gemeinsam mit der Unesco eine Filmschule mit einer Frauenquote von 25 Prozent gründeten.

In den «Moskauer Prozessen», in denen wir 2013 drei Schauprozesse der jüngeren russischen Geschichte gegen Künstlerinnen noch mal aufrollten, kooperierte ich neben orthodoxen Geistlichen auch beispielsweise mit Alexander Dugin – Putins Hausphilosophen, vielleicht dem politisch wichtigsten postmodernen Philosophen der Gegenwart, dessen Tochter Darja (die ich damals ebenfalls kennenlernte) kürzlich ermordet wurde.

Für das «Kongo Tribunal» im Jahr 2015 arbeiteten wir unter anderem mit Vital Kamerhe, dem wichtigsten damaligen Oppositions­führer, der parallel zum Tribunal, man muss eigentlich sagen: anhand des Tribunals Wahlkampf betrieb. Ein paar Jahre später wurde er Minister­präsident der Demokratischen Republik Kongo, wieder etwas später wurde er zu zwanzig Jahren Zwangs­arbeit verurteilt. Als wir vergangenen Dezember in Kolwezi im Südkongo gegen die Schweizer Rohstoff­firma Glencore prozessierten, war seine Strafe bereits auf zehn Jahre verkürzt worden – und schon wieder gilt er als aussichts­reicher Kandidat für die Präsidentschaft.

Sie verstehen, worauf ich hinauswill: Eine Kunst gegen Unter­drückung kann man oft nur gemeinsam mit den Unter­drückerinnen machen, und sehr oft sind die Freiheits­kämpferinnen von heute die Kollaborateurinnen von gestern. Als ich 2013 die «Moskauer Prozesse» inszenierte, galt Kirill Serebrennikow, dem die Regierung in Moskau gerade ein Kunst­zentrum zur Verfügung gestellt hatte, in dissidenten Künstlerinnen­kreisen als regierungsnah. Ich hätte mir nie erlauben können, ihn in den Zeugenstand zu rufen, das hätten mir meine russischen Freunde nicht verziehen. Heute, neun Jahre später, ist Kirill das Gesicht des künstlerischen Widerstands.

Moskau, Mossul oder Kolwezi: Arbeitet man ausserhalb der sicheren Grenzen des westlichen Diskurses, ausserhalb der safe spaces der Kultur­institutionen, setzt man sich der Wahrheit der Verhältnisse aus. Es kehrt projekt­intern jene von Marx «in den Kolonien» lokalisierte «Nacktheit» des Kapitalismus wieder, auf der der westliche Wohlfahrts­staat und damit unsere Demokratie gründet. Abgrenzung auflösen ist eine schmerzhafte Erfahrung: Externalisierte Wider­sprüche werden zu geteilten Wider­sprüchen, theoretische Debatten über Rassismus zu realen Erfahrungen, biografische Verletzungen treffen aufeinander. Dabei kommt es zu Streit, aber eben auch – wenn man Streit dialektisch versteht – zu gegenseitigen Lern- und vor allem langfristigen Austausch­prozessen.

Global arbeiten heisst, im aktuellen System nicht vorgesehene Netze der theoretischen Debatte und der praktischen Solidarität zu schaffen. Indem man in Kriegs­gebieten «ohne kulturelle Infrastruktur» arbeitet – wie es im 9. Satz des Genter Manifests heisst, das ich zu Beginn meiner NTGent-Intendanz veröffentlichte –, entstehen zwangsläufig neue kulturelle Infrastrukturen. Wo es (wie im Kongo) keine Kamera­männer und Kamera­frauen oder keinen Theater­raum, wo es (wie im Irak) keine Auftritts­möglichkeiten für weibliche oder gar queere Schauspieler gibt, müssen eben gemeinsam welche geschaffen werden.

Und genau das ist die Poetik, die ich suchen will: Sie überwindet die Abgrenzungen, sie schafft unerwartete, unwahrscheinliche, schmerzhafte, aber eben auch wundervolle Solidaritäten. Und dafür muss man nicht in den Kongo oder den Nordirak fahren: Als ich für «Wilhelm Tell» hier in Zürich einen Polizisten auf die Bühne einlud, war es tatsächlich das erste Mal, dass ich länger als fünf Minuten mit einem Polizisten sprach. Ich hatte mich fünfundzwanzig Jahre lang gegen Polizei­gewalt engagiert, ich hatte in den USA, gemeinsam mit Black Lives Matter und Abolitionisten (die die Polizei, überhaupt alle staatlichen Zwangs­apparate, abschaffen wollen), eine Tour meines Jesusfilms organisiert. Aber ich hatte nie die Meinung, die Perspektive eines Polizisten eingeholt. Seine Ängste, Zwänge, Verwirrungen, Seelen­qualen, aber auch seine Hybris, seine Aggressionen und seine Selbst­gerechtigkeit waren mir völlig unbekannt. Ich war, wie ich heute sagen muss, blind vor Vorurteil und Abgrenzung.

Der vierte Reiter: Der Reiter des Moralismus

Der Reiter des Moralismus hängt sehr eng mit dem zweiten und dem dritten Reiter zusammen, man könnte sogar sagen: Der Reiter des Moralismus ist der Überbau (oder die Konsequenz) der Reiter der Abgrenzung und der Kritik. Wir befinden uns hier im Kern der Psycho­pathologie des «richtigen Lebens im falschen», um noch einmal Adorno zu zitieren: Nicht die Zustände als solche werden kritisiert – sondern die richtige oder falsche Analyse dieser Zustände wird moralisiert und das falsche Verwenden von Kodizes oder Sprach­regelungen mit Shitstorms bestraft.

Und was bestehende Herrschafts­formen am stärksten stabilisiert: Es breitet sich Paranoia aus, da sich Macht­kritik, ist sie einmal moralisiert und dadurch praktisch unangreifbar geworden, ätherisch in alles und zugleich nichts ausbreitet. Die Paralyse erreicht eine metaphysische Konzentration, es wird überhaupt nichts mehr getan, weil unter dem Gesichts­punkt der totalen Reinheit alles falsch ist. Wie einst die Salon-Adligen in Molières Komödie «Les femmes savantes» – die eine Sprache kreierten, in der alle Widersprüche, alle Gemeinheiten, alle Brutalitäten des Feudalismus auf magische Weise verschwunden wären – haben auch wir postmodernen Feudalistinnen das Unmögliche geschafft: Wir pflücken die Früchte unserer globalen Herrschaft umso entspannter, je kleinlicher wir ihre brutale Realität aus unserer Sprache verbannt haben. Und während wir in Wahrheit stillstehen, geben wir uns dem Rausch des moralischen Fortschritts hin.

Wir alle kennen diese Erzählung: Gestern im 20. Jahrhundert waren wir Rassisten, Patriarchen, Ausbeuter, Fleischesser – sowieso Arschlöcher. Heute jedoch leben wir bewusst, wir gehen freundlich miteinander um, wir achten nicht nur die Würde der Menschen, sondern auch der Natur. Da wir aber gerade bei Minute 42, also bei sechs vernichteten Arten seit Beginn dieser Vorlesung sind, erlauben Sie mir bitte eine Frage: Warum hat sich die Geschwindigkeit, mit der der Planet zerstört wird, exponentiell zu unserer Sanftmut erhöht?

Vielleicht lautet die Antwort – und sie wird Sie nicht überraschen: Die Ausbeutung wurde verschärft, aber wir haben eine Moral entwickelt, um sie unsichtbar zu machen.

Unsere Kinder müssen nicht mehr in Textil­fabriken und Kohle­bergwerken schuften wie noch zu Zeiten des Industrie­kapitalismus – das erledigen heute die Kinder der Kongolesinnen und Pakistanerinnen. Die Sex- und Pflegearbeit, für die wir Einheimischen uns zu gut sind, wird von entrechteten Geflüchteten geleistet. Und die europäische Billigfleisch­industrie bietet ihre Produkte natürlich nicht in den Hipster-Vierteln Zürichs an, sondern exportiert sie direkt nach Afrika und bringt dort die Märkte zum Einsturz.

Die Devise des Reiters des Moralismus lautet, wenig einfallsreich: Damit es uns gut geht, muss es anderen schlecht gehen. Oder psychologisch ausgedrückt: Je sensibler wir sind, desto irrelevanter muss für uns das Leiden jener sein, die uns unser sensibles Leben finanzieren. Egal, dass unsere Handys, unsere T-Shirts oder Sojadrinks im Globalen Süden unter Missachtung aller Menschen­rechte produziert werden – solange auf den Etiketten dieser Billig­produkte keine rassistischen Abbildungen zu sehen sind. Egal, wie das Geld zusammenkommt, das mir diese Vorlesung auf dieser Bühne ermöglicht – solange ich nicht die Gefühle der Anwesenden beleidige, nicht wahr?

Der Philosoph Theodor Adorno nannte diese Verfeinerung der Sitten bei gleichzeitiger Brutalisierung der ökonomischen Umgangs­formen einst die «Dialektik der Aufklärung». Das klingt kompliziert, die Sache ist aber einfach: Man ändere nichts, sondern verdränge. Aufklärerische Moral bedeutet, Etikett und Inhalt «dialektisch» zu betrachten, also als zwei unterschiedliche Wirklichkeiten. Der unaufgeklärte Rassist macht Witze über die Menschen, die er ausbeutet. Der aufgeklärte Rassist dagegen besucht einen Diversity-Workshop und vermeidet das N-Wort, ohne das Geringste an seiner Geschäfts­praxis zu ändern.

Noch unsere Grosseltern hofften, dass Automatisierung und Bildung einen neuen, sympathischeren Menschen­typus und eine dazu passende Gesellschaft schaffen würden. Die Geschichte bewies leider das Gegenteil: Je höher der Bildungsgrad und je fortgeschrittener die globale Arbeits­teilung, desto brutaler ist der Umgang der Menschen untereinander. Westeuropa wurde zum safe space, in dem Krieg, Sklaverei, Umwelt­verschmutzung und eklige Altherrenwitze tabuisiert wurden; umso unerbittlicher muss dafür ausserhalb unserer Businessclass die Barbarei wüten.

Der Reiter des Moralismus, dessen Schwert unerbittlicher trifft als die Schwerter seiner Kollegen, muss selbstverständlich eine Figur besonders hart bestrafen: jene, die sich praktisch, nicht nur narzisstisch solidarisiert mit den Räumen der Externalisierung. Jene, die tatsächlich hingeht, wo es wehtut, wie man so sagt.

Ich erinnere mich, wie etwa Christoph Schlingensiefs Operndorf zuerst als selbstgerechte Selbst­verwirklichungs­sause eines westlichen Künstlers abgetan wurde. Etwas Ähnliches widerfuhr Ariane Mnouchkine oder noch viel härter Simone de Beauvoir, als sie sich mit ausser­europäischen Freiheits­bewegungen solidarisierte. Sogar die Begeisterung über die Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete, die im Juni 2019 50 Geflüchtete bei Lampedusa das Leben rettete, dauerte nur ein paar Tage.

Damals drehte ich gerade in Italien das «Neue Evangelium», und der Reiter des Moralismus schlug mit üblicher Effektivität zu. Schon nach wenigen Tagen der Euphorie erschienen in allen grossen westlichen Feuilletons Essays, die Carola Maternalismus, den «White saviour»-Komplex, die Gefährdung der italienischen Küsten­wache, die Kapitalisierung des Leids anderer zum Vorwurf machten. Wenn nicht einfach die Tatsache angeprangert wurde, dass Carola Rackete Dreadlocks trug.

Man kann das alles kleinlich, kontraproduktiv, zynisch nennen, zugleich ist es aber verständlich: Aufgewachsen in Zuständen globaler Ausbeutung, können wir uns den Versuch von Solidarität oder gar inter­kultureller Zusammen­arbeit nur als Fortsetzung dieser Ausbeutung vorstellen. Solidarität gilt dem westlichen Mainstream als übergriffig, das Aushalten von Wider­sprüchen als unverantwortlich – und wir Künstlerinnen nehmen an diesem Spiel der Externalisierung teil, indem wir aus Angst, ins Sperrfeuer eines überhitzten Identitäts­diskurses zu geraten, moralisch gereinigte Fassaden präsentieren oder uns erst gar nicht mehr mit globalen Wider­sprüchen befassen. Denn tatsächlich ist das, was ich etwas gross­sprecherisch den Globalen Realismus genannt habe (als wäre nicht jeder Realismus zwangsläufig global), zutiefst fragwürdig.

Es bereitet unzählige schlaflose Nächte, im Ostkongo, in den italienischen Lagern oder im Irak zu arbeiten, für alle Beteiligten. Die auch bei jahrelanger Zusammen­arbeit immer ungenügende soziale Nachhaltigkeit ist schwer zu ertragen und lässt viele von uns mutlos werden. Doch erst die Reibungs­punkte: die Debatten über Frauen oder Queerness auf der Bühne in «Orestes in Mossul»; die Streitereien über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, Polizei­gewalt darzustellen auf der Bühne im «Wilhelm Tell»; die nie endenden Debatten über Aneignung und Retraumatisierung in all meinen Projekten, sie machen realistische Kunst im dialektischen Sinne wahr: zu einem komplexen, schmerzhaften Abbild einer globalisierten Welt.

Rufen wir also dem Reiter des Moralismus entgegen: raus aus den safe spaces! Keine Angst vor Wider­sprüchen, keine Angst vor Fragwürdigkeiten! Oder um es mit einem Zitat von Pier Paolo Pasolini zu sagen, dessen Jesus in meinem Film als Johannes der Täufer wiederkehrte und mit dessen Fascho-Präsident aus den «120 Tagen von Sodom» ich bald einen Partisanenfilm drehen werde, denn man sollte immer das Gegenteil von dem tun, was eigentlich sinnvoller­weise zu erwarten wäre: «Ich weiss, wie widersprüchlich ich sein muss, um wirklich konsequent zu sein.» Das sollte sich, finde ich, jede Künstlerin und jeder Künstler übers Bett hängen.

Der fünfte Reiter: Der Reiter des Realismus

Dies ist der fünfte Reiter: der, den es in der Bibel nicht gibt. Er bezeichnet eigentlich keine spezifische Qualität, sondern das, was der postmoderne Philosoph Michel Foucault ein Dispositiv nannte: etwas, das alles Gesagte und Ungesagte, die Handlungen und Handlungs­möglichkeiten, das Wirkliche und Denkbare einer Zeit vereint. Das, was gleichsam unüberschreitbar ist, was die Grenzen nicht nur des moralisch Akzeptablen, sondern des Realen selbst betrifft. Man könnte diesen Reiter deshalb auch den Reiter der Alternativ­losigkeit nennen.

Er tritt einmal melancholisch, also traurig, und einmal rechthaberisch, also aggressiv auf. Sein Pferd hat nicht, wie die der anderen Reiter, die Farbe Feuerrot oder reinstes Weiss, sondern eine Art verwaschenes Braun. Man hört den trägen, aber effektiven Galopp dieses fünften Reiters etwa in den Reaktionen auf Greta Thunberg oder auf Carola Rackete, aber auch Hunderte von anderen Aktivistinnen: Ihr «Nein» zu einer grundsätzlich als falsch erfahrenen, grundsätzlich als tödlich analysierten Gegenwart wird nicht als einzig rationale, einzig realistische Reaktion wahrgenommen – sondern als Anmassung, als Unmündigkeit, als kindische Frechheit.

Denn genauso wie der Kapitalismus den Minimal­dissens, den als Gerechtigkeits­willen getarnten narzisstischen Willen, den identitären Streit in den westlichen Chefetagen und den damit zusammen­hängenden Moralismus braucht, um am Grossen und Ganzen nichts zu ändern, genauso muss er sich vor dem grundsätzlichen, kollektiven Nein hüten. Die rhetorische Taktik des Reiters des Realismus besteht gerade darin, den Realitäts­sinn zu lähmen, den Überlebens­instinkt auszuschalten, Solidarität mit den Ausgeschlossenen, aber auch mit der Zukunft zu verunmöglichen. Und die stärkste Waffe dabei ist, wenig überraschend, die reine Tautologie: Weil geschieht, was geschieht, ist das, was geschieht, also das Reale, zugleich realistisch, sprich: notwendig.

Hegel, der Philosoph des aufstrebenden Bürgertums, hatte bekanntlich gesagt, wenn seine philosophischen Analysen von dem, was tatsächlich geschah, zu stark abwichen: umso schlimmer für die Wirklichkeit. Vielleicht als erstes zivilisatorisches System setzt der postmoderne Kapitalismus nicht mehr auf Ideen, sondern auf die Kraft des Tatsächlichen selbst: Was geschieht, ist einfach deshalb richtig, weil es geschieht. Und der Punkt dabei ist kein philosophischer, sondern ein ökonomischer: Was geschieht, muss geschehen, da sonst das System insgesamt zum Einsturz kommt.

Im Modebegriff «Kapitalismus» steckt ein Wort, nämlich Kapital, und Kapital ist immer etwas Investiertes oder zu Investierendes, es hat wesenhaft eine zukünftige Dimension, nein: Das Kapital ist Zukunft oder es verliert seinen Drive und hört auf, zu sein. Anders ausgedrückt: Im investierten Kapital hat sich die Zukunft bereits realisiert, bevor sie da ist.

Der Kapitalismus ist damit, noch einmal, nicht aus philosophischen Gründen ein System der Härte und des Zwangs – wie etwa der Kommunismus –, sondern schlicht deshalb, weil das Morgen immer schon verkauft und verplant ist. Wie der Hase aus dem Märchen ist das Kapital schon angekommen, wenn die andere, humanere Möglichkeit erst losläuft – angekommen in der Zukunft, die damit auch nicht mehr für eine alternative Möglichkeit zugänglich ist.

Wer diese Form des Realismus nicht anerkennt, wer sich nicht auf moralistische Kritisiererei zurückzieht, erscheint innerhalb des Kapitalismus deshalb logischerweise als unmündig, als verrückt und grössen­wahnsinnig. Der gilt als verblendet (weil er das System nicht verstehen will) oder einfach dumm (weil er es nicht verstehen kann). Der Reiter des Realismus bezeichnet eine totale Kapitulation vor dem Realen, vor einer entleerten Gegenwart und einer verkauften Zukunft.

Nehmen wir ein konkretes Beispiel aus meiner Beschäftigung mit dem Minen­business im Ostkongo: Um in Bukavu oder Goma eine Goldmine zu «öffnen», wie man sagt – also von der Entdeckung bis zu jenem Tag, an dem der Abbau mit allen Maschinen, Belüftungs­anlagen, Unterkünften, Versorgungs­ketten und so weiter losgehen kann –, vergehen im Schnitt zwölf Jahre. Der finanzielle Aufwand dafür beträgt mehrere Milliarden Dollar, Kosten, die sich durch einen Bürgerkrieg manchmal noch multiplizieren, sagen wir also: zehn Milliarden Dollar.

Zum einen schränken diese Summen die Mitbewerberinnen auf wenige kanadische und Schweizer Firmen ein, im ostkongolesischen Goldbusiness etwa gibt es nur zwei Firmen, die finanzkräftig genug sind. Neoliberalismus, der einst ja gegen staatliche Monopole angetreten war, ermöglicht heute also keinen freien Wettbewerb, sondern ein fast absurd monopolistisches System.

Der für die Erfahrungs­weise der totalen Gegenwart aber entscheidende Punkt ist, dass das Kapital aus komplexen Aktienfonds und Anleger­strukturen stammt, dass also hinter dem Goldabbau eine globale Struktur aus Investition und Profit steht. Die Konsequenz daraus ist: Wenn die investierten Milliarden nicht – das hat mir einmal einer der Manager von Banro, einer kanadischen Goldfirma, vorgerechnet – innerhalb von maximal drei Jahren wieder amortisiert werden, bricht zuerst die Firma, dann der Fonds, dann die jeweilige Rohstoff­börse zusammen.

Die Gefahr eines Börsencrashs lauert also ständig im Hintergrund. Da bleibt keine Zeit, um vor Ort in Infra­struktur oder Bildung zu investieren, denn an der Stabilität der Börsen hängt ja hinwiederum unser eigener Reichtum. Entweder wir oder sie: Die Gegenwart ist zum einen universalisiert, das heisst, wir befinden uns in einem einzigen Welt­innenraum, es gibt kein Aussen mehr. Kongolesinnen, Schweizerinnen, Kanadierinnen, Chinesinnen, alle stecken sie im gleichen Kapital­kreislauf.

Zum anderen ist unser Handeln komplett auf die Zukunft hin getaktet, die Gegenwart ist nur noch ein Übergangs­raum, in dem die Zukunft sich zu realisieren hat. Und genau das versucht die Kunst, das versuchten wir mit dem «Kongo Tribunal», mit dem Tomaten-Distributions­system, das wir parallel zum «Neuen Evangelium» aufbauten: dem kapitalistischen Realismus einen alternativen, einen utopischen Realismus entgegen­zusetzen. Jenen, den ich Globalen Realismus nennen will.

Was aber wäre eine Poetik des Globalen Realismus? Welche künstlerische Praxis kann nach der totalen Gegenwart kommen? Nach der Apokalypse, die wir im Minutentakt erleben, nach der Offenbarung?

Zum Abschluss möchte ich mich fragen, was eine widerständige, eine utopische, eine tatsächlich realistische Kunst ausmachen könnte. Warum und wofür gibt es diesen anderen Raum, den Raum der Poesie, der Poetik, diese andere Gegenwärtigkeit, in der reale Erfahrung (und nicht bloss Information) in der Praxis (und nicht bloss Kritik), in der Solidarität (anstelle von Abgrenzung und Exklusion), Widersprüchlichkeit (anstelle von Moralismus) und Utopie (anstelle des kapitalistischen Realismus) uns befreien können aus der totalen Gegenwart? Denn um nicht weniger geht es, muss es gehen in der Kunst, nicht wahr?

«Realismus heisst nicht, dass etwas Wirkliches repräsentiert wird. Realismus heisst, dass der Vorgang der Repräsentation selbst real wird.» Dieses Zitat begleitet mich schon eine ganze Weile, es steht auch im Genter Manifest. Ich weiss nicht, woher es kommt, aber ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Ich dachte und behauptete immer, es stamme von Jean-Luc Godard. Aber wie ich, nicht lange vor seinem Tod, von ihm selber erfahren habe, als ich ihn zum einzigen Mal persönlich traf: Dem ist nicht so. Was also meine ich mit diesem Zitat?

Der Realismus, der mich interessiert, interessiert sich nur am Rand für die Wirklichkeit, wie sie ist, oder für die Kritik der Wider­spiegelung. Mich interessieren die Produktiv­kräfte, die Beziehungen und Wider­ständigkeiten der Darstellung, im Grunde interessiert mich das Chorische am realistischen Vorgang, also letztlich die an der Darstellung beteiligten Menschen, Dinge, Relationen. Mich interessiert das Making-of mehr als das Produkt. Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht: Aber ich blättere, wenn ich lese, immer zu den Fussnoten, den Produktions­notizen, den Erfahrungs­berichten – zu dem, was eigentlich geschieht und bedeutsam wird, gleichsam hinter dem Rücken der Beteiligten.

Mich interessiert an der Kunst ihre Kraft, etwas völlig Unerwartetes, etwas absolut nicht Vorgesehenes zur Erscheinung zu bringen – und zwar genau so, in genau dieser Weise, in der absoluten Lebendigkeit und Materialität des Ereignisses selbst. In meinem ersten Manifest – eine Art Lehrer-Schüler-Gespräch nach brechtschem Vorbild, das ich 2009 in der NZZ veröffentlichte unter dem Titel «Was ist Unst?» – gibt es die Frage: «Was also liefert der Ünstler der Gesellschaft?» (Natürlich handelt es sich dabei um ein Fake: Nicht nur ist es ein nicht existentes Datum, auf der Zeitungs­seite unten rechts befindet sich auch eine Fotografie von Filippo Tommaso Marinetti, der genau hundert Jahre zuvor im Jahr 1909 das «futuristische Manifest» veröffentlichte – die NZZ schien uns der absurdeste Ort für unser Manifest.)

Montage von Milo Rau und Nina Wolters, 2009, International Institute of Political Murder.

Der Ünstler ist der Künstler ohne K, der sich der reinen Wiederholung, der Nachahmung, dem Moment hingibt – und der Meister antwortet: «Der Ünstler liefert: eine völlig wörtliche Wiederholung der Gegenwart durch die Vergangenheit für die Zukunft.» Die Kunst aktiviert die utopische Kraft des Vergangenen, die noch nicht in der Gegenwart eingelöst ist, sie lässt sie hervor­schiessen, sie entbirgt sie.

Um einen schönen Gedanken von Jean Ziegler zu zitieren (neben Latour und Bourdieu der dritte Soziologe, der für mich wichtig geworden ist, dessen Schüler und Freund ich sein durfte, und der einzige, der noch lebt), betrachte ich unsere Gegenwart nicht als Posthistoire, nicht als Nach­geschichte, sondern ganz im Gegenteil als «Vorgeschichte des Menschlichen». Wir sind noch halbe Tiere, gierig und völlig unfähig, über das Tages­geschäft hinauszudenken.

Oder vielleicht sind wir, was das Gleiche ist, noch nicht Tiere genug: Vielleicht versuchen wir unserer Körperlichkeit, unserer Endlichkeit, unserer Wider­sprüchlichkeit und Abhängigkeit noch zu sehr zu entfliehen. Wir sind, wie Latour einmal geschrieben hat, «nie modern gewesen», die ganzen Binaritäten, die ganzen «grossen Erzählungen», von denen ich sprach, waren nützliche Irrtümer, die wir nun endlich ablegen können.

Der Kunst kommt dabei eine utopische Rolle zu, glaube ich: Sie setzt gegen den halb blinden, halb zynischen Realismus der Postmoderne einen Möglichkeits­realismus, der Situationen schafft, in denen das Unmögliche nicht nur denkbar wird, sondern sich tatsächlich realisiert. Wenn auch nur, wie etwa im «Kongo Tribunal», für drei Tage. Wenn auch nur, wie bei der Filmschule für Mossul, für gerade mal zwanzig Studentinnen.

Aber genau das ist es, was den Globalen Realismus von allen bisherigen Realismen unterscheidet: Abbildung und Reales, Kritik und Praxis werden eines. Das Allgemeine wird nicht durch das Besondere indirekt dargestellt, es wird erlebt und gleichsam hypnotisch geschaut. Oder wie Goethe sich ausdrückt: «Wer nun das Besondere lebendig fasst, erhält zugleich das Allgemeine mit.»

Im «Kongo Tribunal» leuchtet, behaupte ich, die zukünftige Praxis einer internationalen Rechtsprechung – also eine Mischung aus verschiedenen Rechts­formen, aus traditionellem und internationalem Recht, aus lokalen und europäischen Richtern – auf. Aber nicht als künstlerische Allegorie, nicht mit erfundenen Figuren, sondern als reale Situation, in Anwesenheit der realen Akteure, nach real gültigem Recht: als reale Institution.

Meine Zeit ist abgelaufen. Und damit kommen wir zur abschliessenden Frage: Was tun? Was tun, um die totale Gegenwart zu überwinden? Was tun nach der Apokalypse?

Direkt nach den «Moskauer Prozessen» sowie den «Zürcher Prozessen», die im Frühjahr und Sommer 2013 stattfanden, schrieb ich ein Buch mit diesem Titel: «Was tun?» In meinem Buch beantworte ich diese Frage nicht, und zwar ganz einfach deshalb, weil jede Antwort nur praktisch, nicht theoretisch sein kann. In den zwei weiteren Poetik­vorlesungen werde ich versuchen, solche praktische Antworten zu geben.

Heute würde ich gern an den Grundsatz der phänomenologischen Soziologie erinnern, wie mein Lehrer Pierre Bourdieu sie vertrat: Es gibt keine natürlichen kulturellen Handlungen, es gibt nur Handlungen, die so weit normalisiert sind, dass sie uns natürlich erscheinen. Es gibt keine böse Realpolitik und daneben eine gute, die den Aktivistinnen, den Fantastinnen vorbehalten wäre.

Es gibt nur die Resultate aus kollektiven Handlungen. Der Kapitalismus ist, und das ist seine utopische Qualität, die schon sein grösster Sänger – Karl Marx – bewunderte: Der Kapitalismus ist völlig amoralisch. Der Kapitalismus sagt: Wenn es Zuschauerinnen für 100 oder 1000 oder 10’000 Filme aus Mossul gibt, dann liefert mir diese Filme. Wenn eine Million Menschen nachhaltig produzierte Tomaten essen wollen, dann liefert mir diese Tomaten.

Milo Rau

Die Lehren aus der Postmoderne, die mir in meiner Jugend verabreicht wurden, und ihre vielleicht höchste architektonische Leistung, der Portikus zum Parc Simone Veil, diese vollendete Gedanken- und Ideenlosigkeit des Kapitalismus, sein anything goes: Hinter sie können wir nicht zurück. Alles, was wir tun und was wir denken, muss innerhalb dieses Parks geschehen, in dem der Holocaust und Godard, die Herrschaft und ihre Kritik, die gute und die böse Moral, Judith Butler und die Beastie Boys, Harvey Weinstein und Annie Ernaux, Nihilismus und Geschichts­philosophie, sinnhafte und sinnlose Handlungen nebeneinander existieren.

Der Sinn unserer Kunst, ihr «Warum?» können nur eines sein, das aus der Postmoderne kommt. Lassen Sie mich deshalb zum Ende den vielleicht postmodernsten Film überhaupt vorführen – der aber die Postmoderne, ich weiss nicht wie, auf völlig entspannte und doch magische Weise überwindet.

Es ist ein Film, den ich völlig zufällig auf Youtube entdeckt habe, als ich gerade, von dem vortrefflichen «Blutbuch» ermüdet, ein wenig Entspannung suchte. Der Film wurde im Westschweizer Rolle aufgenommen, einem deprimierenden Strassendorf am Genfersee, zwischen Lausanne und Nyon gelegen. In Rolle hat Godard die letzten Jahrzehnte seines Lebens verbracht.

Wie Sie gleich sehen werden, ist Rolle eine Art Parc Simone Veil auf schweizerisch: zersiedelt, Kleinbürgerliches wird hier auf völlig zufällige Weise mit Vermutungen von Grösse, mit Natur, mit Idylle vermischt, Land mit Stadt, überall gibt es Kleingewerbe, irgendwelche Elektronik­geschäfte und Eiscreme-Läden, schlechten Geschmack, Blumenkübel, die Welt wurde gleichsam in eine ewige, verflüssigte Vor-Stadt verwandelt – die Schweiz eben.

Der Film ist unendlich genau, unendlich realistisch, unendlich kapitalistisch, er zeigt wirklich nur, was ist – vermutlich deshalb, weil er von Google Street View aufgezeichnet wurde. Diese absolute Gleich­gültigkeit und dieser vollendete Zynismus der Google-Kamera werden überhöht durch die schönste Filmmusik überhaupt: «Camille’s Thema», aus «Le Mépris» von Godard, das erklingt, wenn die Kamera am Ende des Films, in welchem Fritz Lang die Odyssee verfilmt, aufs Mittelmeer schwenkt. Godard hat sich vor einigen Wochen entschieden, zu sterben, sein Körper liegt nun unter der Erde.

Der Film, den wir uns ansehen werden, zeigt also Rolle, aber er endet, völlig unerwartet, mit einer Erscheinung: Godard und seine langjährige Cutterin, Co-Regisseurin, Co-Autorin und Freundin Anne-Marie Miéville gehen durch Rolle, vermutlich zum Mittagessen. Aber nein, der Film endet nicht mit Godard und Miéville, sondern mit einem Schwenk in den Himmel, genau wie «Le Mépris»!

Ich weiss nicht, warum dieser Youtube-Film mich so sehr berührt. Vielleicht, weil mit Godard und Miéville mitten im kapitalistischen Realismus eines Schweizer Strassen­dorfs plötzlich die Freundschaft selbst erscheint – und dann auch wieder verschwindet, wenn die Kamera rucklig wegschwenkt.

Vielleicht ist es auch die absolute Alltäglichkeit dieses Films, in der sich Einsamkeit und Solidarität, Vergänglichkeit und Ewigkeit, Zufall und Hoffnung, Schönheit und Hässlichkeit die Waage halten. Wir befinden uns mitten in der totalen Gegenwart – und trotzdem entkommen wir ihr, nicht wahr? So wie in der Kunst, auf der ich nach der Suche bin.

Ich danke für die Grosszügigkeit der Universität Zürich und des Deutschen Seminars, die mich eingeladen haben, des Schauspiel­hauses und des Literatur­hauses, die mich hier sprechen lassen. Vor allem aber danke ich für Ihre Geduld.

Dies ist ein Youtube-Video. Wenn Sie das Video abspielen, kann Youtube Sie tracken.
Jean-Luc Godard and Anne-Marie Miéville on Google StreetView

Hinweis: Wir haben im Text mit einer Ergänzung in Klammern gegenüber der ursprünglichen Version deutlicher gemacht, dass der mit Bild erwähnte NZZ-Artikel «Was ist Unst?» eine Montage, ein Fake, ist.