Epen in der Mutterzunge
Emine Sevgi Özdamar hat der deutschen Literatur ganz neue Töne gegeben. Nun erhält sie dafür die höchsten Weihen, den Georg-Büchner-Preis. Eine persönliche Würdigung.
Von Dinçer Güçyeter, 02.11.2022
Wenn ich zurückblicke, kommt mir meine erste Begegnung mit dem literarischen Universum von Emine Sevgi Özdamar fast selbst wie eine Romanstory vor.
Es war der Februar 1997 und mein erster Urlaub. Ich war 17, hatte ein halbes Jahr zuvor in Nettetal am Niederrhein meine Ausbildung zum Werkzeugmacher begonnen und war nun für fünf Tage mit dem Zug nach Berlin gefahren. Mitten im Berliner Februarregen bin ich angekommen.
Dinçer Güçyeter, geboren in Nettetal (Nordrhein-Westfalen), ist Lyriker, Verleger und Theatermacher. 2011 gründete er den Elif-Verlag, den er bis heute als Gabelstaplerfahrer in Teilzeit finanziert. Er hat zahlreiche Gedichtbände veröffentlicht, zuletzt «Mein Prinz, ich bin das Ghetto», für den er 2022 den Peter-Huchel-Preis erhielt, mit die wichtigste Auszeichnung für Lyrik im deutschsprachigen Raum. Am 8. November 2022 erscheint sein erster Roman, «Unser Deutschlandmärchen», im Mikrotext-Verlag.
Eine Buchhandlung in der Oranienstrasse ist der erste Ort, wo ich meinen durchnässten Körper trockne. Auf dem Büchertisch neben der Kasse liegt ein rotes Buch: «Mutterzunge» von Emine Sevgi Özdamar. Den Namen lese ich zum ersten Mal, aber ein unerklärlicher Instinkt sagt mir, dass ich dieses Buch als Begleiter für meine Berlin-Tage mit mir tragen möchte. Ich zahle, stecke das Buch in den Rucksack, das Berliner Ensemble ist mein nächstes Ziel. Ich kaufe ein Ticket für die Abendveranstaltung, «Die letzten Tage der Rosa Luxemburg».
Bis die Vorführung beginnt, setze ich mich vor dem Theater auf eine Bank und schlage das rote Buch auf, das im Jahr 1990 einen völlig neuen Ton in die deutsche Literatur gebracht hat. Was ich damals natürlich weder wusste noch so analytisch hätte formulieren können. Doch gespürt habe ich sehr direkt, dass hier ein deutsches Buch ganz anders zu mir sprach. Die Bilder aus meiner Kindheit, die Sprüche aus meiner Familie – sie waren jetzt plötzlich in einem Stück deutscher Literatur zu finden:
In meiner Sprache heisst Zunge: Sprache. Zunge hat keine Knochen, wohin man sie dreht, dreht sie sich dorthin.
Ich sass mit meiner gedrehten Zunge in dieser Stadt Berlin.
Und dann, nach zehn Seiten, trifft mich ein Satz wie eine Ohrfeige:
Ich setzte mich vor dem Berliner Ensemble in den Park, dort will ich lernen.
Ab diesem Moment ummantelt mich das Gefühl, Emine Sevgi Özdamar sitzt neben mir auf der gleichen Bank und wir erzählen uns die eigenen Geschichten. Wir sprechen über hasret, also ein Gefühl, das man auf Deutsch nur näherungsweise mit «Sehnsucht» wiedergeben kann; über «unerfahrene Nachtigallen», die auf den Bäumen im Park singen, über Vögel, die aus ihren Ländern hierhergeflogen sind. Bis der Einlass ins Theater mich unterbricht, sauge ich jedes Wort in meine Lunge auf.
Während dann auf der Bühne gespielt wird, bin ich noch auf Reisen mit dem Esel, der nicht mehr laufen will, weil er merkt, der Weg nach Alamania ist zu lang. Von der Vorstellung bleibt mir kein Wort, keine Szene hängen, ich habe zwar mitten im Publikum gesessen, aber unterwegs war ich in diesem roten Buch.
Emine Sevgi Özdamar im Theater, das passt, sie kam ja selbst von dieser Kunstform. In Ostanatolien geboren, wurde sie in Istanbul und Berlin zur Schauspielerin, zur Regisseurin und, noch bevor sie Prosa schrieb, zur Theaterautorin. Schon in den 1960ern war sie für kurze Zeit in Berlin. 1976 verliess sie Istanbul und die Türkei ein zweites Mal und bekam in Ostberlin ein Engagement an der Volksbühne. Ab 1979 spielte sie in Bochum unter Claus Peymann, bekam bald die ersten Filmrollen.
Für das Schauspielhaus Bochum schrieb sie 1982 auch ihr erstes Stück. Es hatte den programmatischen Namen «Karagöz in Alamania» – eine Anspielung auf die Tradition des Schattenspiels, das im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts zu den beliebtesten Kunstformen gehörte. Karagöz und Hacivat waren die beliebtesten Figuren dieser Tradition; Kritik an der Obrigkeit war nur durch die satirische Sprache dieser höchst amüsanten Protagonisten möglich.
Und Emine Sevgi Özdamar war wohl von Anfang an immer auch ein bisschen Karagöz: lebenslustig, spöttisch, unerschrocken.
Ab 1986 lebte sie als freie Autorin. 1990 dann also «Mutterzunge», ihr Erzähldebüt. Ein Jahr später erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis, ein weiteres Jahr später folgte ein Debütroman, der sich schon im Titel von allem bisher Gehörten abhob: «Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus».
Natürlich hat es schon davor und danach zahlreiche Bücher von Autoren gegeben, die aus der Türkei ausgewandert sind. Aber keines hat eine so unvergleichbare Dynamik entwickelt wie der Roman von Emine Sevgi Özdamar, eine Strömung von Bildern mit einer Kraft wie der Euphrat. Und mit dem unmissverständlichen Signal: Diese Zunge ist nicht zu bändigen.
Aber noch einmal zurück, in die 1960er, weil da vorhin etwas Wichtiges ungesagt blieb.
Das junge Mädchen aus Malatya im Osten Anatoliens kommt 1965 erstmals nach Berlin, im Gepäck ein paar Kleidungsstücke und den Drang, vom eigenen Lebensweg zu erzählen. Noch aber findet sie in Deutschland keinen Raum für ihre Träume. Sie nimmt eine Stelle in einer Elektrofabrik in Westberlin an. Es sind die Jahre nach dem Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland, die Jahre, in denen Menschen in überfüllten Zügen zur Arbeit nach Deutschland kamen. Emine Sevgi Özdamar aber will nicht an einer Maschine stehen und Geld für eine unklare Zukunft sparen.
Sie spürt, dass sie noch einmal einen Umweg nehmen muss, geht 1967 zurück in die Türkei, meldet sich an der Schauspielschule in Istanbul an und beginnt nach drei Jahren Studium ihre Karriere.
In den Siebzigern ist die junge Republik in der Türkei noch fragil. Auf der einen Seite erlangen die Konservativen einen verheerenden Einfluss, auf der anderen Seite strebt das Militär nach der Macht.
Der Putsch vom 12. März 1971 bringt grosse Verwerfungen mit sich. Viele Gewerkschaften und Parteien, wie zum Beispiel die Türkische Arbeiterpartei, in der Emine Sevgi Özdamar Mitglied war, werden verboten. Proteste der Studierenden verbreiten sich über das ganze Land. Viele werden verhaftet, Deniz Gezmiş und seine Mitstreiter Yusuf Aslan und Hüseyin İnan, die die Studentenbewegungen organisierten, werden hingerichtet. Die Zensur verbreitet Angst im gesamten Land und erstickt die Kritik auf Theaterbühnen, in Zeitschriften und Verlagen.
So erfährt die Autorin neue Verluste, einen neuen Schmerz. Die Weltbürgerin wird zum ersten Mal heimatlos.
1976 dann der Neuanfang in Berlin. Ihr zweiter und dritter Roman werden die ersten Berliner und letzten Istanbuler Jahre verhandeln. 2006 erscheinen ihre ersten Romane gebündelt als «Istanbul-Berlin-Trilogie» unter dem Titel «Sonne auf halbem Weg».
All diese Werke weisen den unvergleichlichen Özdamar-Ton und die charakteristischen Merkmale ihrer Prosa auf: die Verbindung aus Poesie und dem Deutsch der sogenannten Gastarbeiter; das wilde, sprunghafte, impressionistische und hochgradig subjektive Erzählen, das ihr von unverständigen Kritikern den Vorwurf fehlender Konsistenz eingebracht hat; das Slapstickartige und die Lust am Zitieren: aus Volksliedern, aus Anekdoten und Mythen, aus dem Koran und aus dem Alltagsleben.
Seit über dreissig Jahren singt sie ihr eigenes Lied, mit neuen Stimmen, neuen Aktualitäten, über die Generationen und Zeitenwenden hinweg. Nie lassen ihre scharfsinnigen Beobachtungen Raum für Floskeln. Stattdessen: ein unauflösliches Ineinander von Sprachhoffnung und Sprachskepsis. In ihrem neuesten, umfangreichsten Roman, «Ein von Schatten begrenzter Raum», klingt das so:
Ich lief in Richtung Kreuzberg. Die Krähen hatten gesagt: «Ach, mein Kind. Du mit deiner unschuldigen Jugend, unüberlegt, Körper ohne Wunde, denkst: Wenn du in Europa Sehnsucht nach deinem Land hast, können die Wörter deiner Landsleute, die da leben, dir eine Salbe werden. Die Liebesquellen ihrer Sprache sind aber schon längst ausgetrocknet in der Fremde.»
Bei all dem transportiert ihre Prosa immer auch den Schmerz und die Trauer. Bevor sie den Faustschlag aus dem Jahr 1971 heilen kann, erlebt die Türkei 1980 den dritten grossen Putsch. Wieder werden Freunde von ihr verhaftet und hingerichtet. Auch diese Trauer trägt sie bis zum heutigen Tag wie ein Halstuch mit sich. Diese Tücher sind aber nie schwarz, sie geben allen Farben genug Fläche.
Seit meinem Bücherkauf im Februar 1997 stand die Literatur von Emine Sevgi Özdamar in allen Jahren wie Brot und Wasser auf meiner Kommode. Bis heute holt ihre Prosa auch für mich immer wieder zuverlässig die Erinnerungen aus der Truhe.
Mit ihrer Literatur verstand ich, der schwarze Zug in Anatolien bedeutete viel mehr als ein Verkehrsmittel, er war auch ein Bildnis für hasret, also Sehnsucht und Fernweh; für hüzün, Schwermut und Heimweh; für vuslat, das Wiedersehen; und für all die Abschiede.
«Ihr habt das Haus gefickt!», schimpft die Mutter bei Özdamar mit ihren Kindern, wenn sie nach Hause kommt. Der Ausdruck meiner Mutter war einen Hauch dezenter: Ihr habt in das Haus geschissen. Und die Papas und Onkel furzten auch bei Özdamar dauernd, das gehörte also zur Normalität.
Oder eine weitere Stelle aus ihrem neuesten Roman:
Meine Mutter konnte die arabische Sprache weder sprechen noch schreiben, mich aber schickte sie in die Koranschule.
In diesen Worten steckt auch meine Kindheit. Die Kinder aus meiner Schule besuchten den Tennisverein, fuhren in die Eifel, feierten Karneval oder Schützenfest. Ich habe einen Koran und eine passende Stofftasche von meiner Oma bekommen und verbrachte die Wochenenden in der Moschee, mehr Möglichkeiten für Aktivitäten gab es nicht.
Bei diesem ersten Berlin-Besuch 1997 verbrachte ich die Nächte in einem Hostelzimmer mit zwölf Betten am Mehringdamm. Bis dahin hatte ich mit meinem Bruder und meiner Oma in einem Zimmer geschlafen, mit elf fremden Menschen in einem Zimmer zu liegen, sorgte für Unruhe in mir. Mit der Morgendämmerung brach ich auf, der Februarwind in Berlin wehte scharf; als ich wieder in Kreuzberg ankam, hatte ich das Gefühl, dass Hunderte Schnittwunden in meinem Gesicht blühten.
Neben Blumen Dilek fand ich einen offenen Späti, fragte die müde Frau, ob ich meine Mutter anrufen dürfe. Gleich nach dem ersten Klingeln hörte ich ihre gebrochene Stimme: Dinçer, in der Nacht ist dein Onkel Memed Ali gestorben, vor einer Stunde kam der Anruf, ich muss in die Türkei auf seine Beerdigung, ich weiss aber nicht, wie. Ich komme, sage ich ihr. Lege auf, gebe der müden Frau zwei Mark und lass mich von einem Taxi zum Hauptbahnhof fahren.
Das sind die Erinnerungen, die jetzt wieder hochkommen, wenn ich Sätze wie diese bei Özdamar lese:
Wenn man von seinem eigenen Land einmal weggegangen ist, dann kommt man in keinem neuen Land mehr an. Dann werden nur manche besonderen Menschen dein Land.
Emine Sevgi Özdamar ist für mich seit Jahrzehnten mehr als eine Autorin, ja, sie war seit diesem Februar 97 eine Komplizin, eine Freundin, der ich meine Geheimnisse, meine Schuld und Sünden anvertrauen konnte.
Seit ich ihre Bücher kannte, wusste ich: Da draussen gibt es Menschen, die mit meiner Zunge sprechen, mit der Zunge, die in meinem Umfeld als ungeschliffen galt. Emine Sevgi Özdamar flüsterte ins Ohr des unerfahrenen jungen Mannes: Es ist in Ordnung, wie es ist, habe nur ein wenig Mut, trau dich aus diesem Kokon. Nimm deinen Akzent, deine gebrochene Zunge, die Fracht und verwandle alles in einen eigenen Dialekt. Mit jedem neuen Buch von ihr fand mein Anderssein eine Berechtigung.
Wie der Volksdichter Yunus Emre in seinen Versen schreibt Emine Sevgi Özdamar mit Fleisch und Knochen. Mit einem unverkennbaren Humor. Und immer schon furchtlos. Nicht nur in der Türkei, auch in Deutschland wagte sie es, das landläufige Bild vom Einwanderer zu ändern. In einer Zeit, in der jeder Türke, Grieche, Jugoslawe an den Maschinen platziert wurde, drang sie wie ein trojanisches Pferd in den Kulturbetrieb, öffnete mit ihrer Zunge neue Tore, eroberte die sterile Literaturszene.
Auch ich musste später im deutschsprachigen Literaturbetrieb meine eigene Zunge finden. Heute, beim Lesen ihres neuesten Romans, bin ich mir sicher, etwas Besseres als ihre Texte hätte mir nicht passieren können. Heute nennt man mich Autor, für einige ein Loser, für die anderen ein Idealist. Die Entscheidung für die Literatur habe ich auch Emine Sevgi Özdamar zu verdanken.
Im Januar 2015 begegneten wir uns zum ersten Mal im Lesesaal der Essener Universität. Ich habe mich bei ihr bedankt, habe ihre Bücher für meine Kinder signieren lassen. Und am Abend habe ich in mein Tagebuch geschrieben: Während sie die Bücher signierte, glühten ihre Wangen wie frischgebackene Pide.
Malatya, Istanbul, Bursa, West- und Ostberlin, Paris, Bochum … eine Lebensroute, die Asien mit Europa, den Osten mit dem Westen, die Folklore mit Avantgarde, das Märchen mit der Realität verbindet. Das Mädchen aus dem Dorf, Schauspielerin, Fabrikarbeiterin, Putzfrau, Anarchistin, Tochter, Schauspielerin, Regisseurin, Dichterin … ein Repertoire an Rollen, die sie mit einzigartigem Einfühlungsvermögen in den 76 Jahren in ihrem Körper, in ihren Schriften getragen hat.
In den Neunzigern wurde das Werk von Özdamar gemäss dem damaligen Trend in das verlogene Genre «Migrationsliteratur» gepackt; eine Bezeichnung, über die bis heute diskutiert und gestritten wird. Wenn man das Label für akzeptabel hält, ist Emine Sevgi Özdamar eine Pionierin, die diesen Weg auch für viele andere freigeschaufelt hat. Doch ihre Literatur braucht keine dieser Schubladen, weil Emine Sevgi Özdamar keine Moden bedient.
Jetzt, im November 2022, erhält sie den Georg-Büchner-Preis, die höchste Auszeichnung der deutschsprachigen Literatur. In der Jurybegründung heisst es:
Mit Emine Sevgi Özdamar zeichnet die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung eine herausragende Autorin aus, der die deutsche Sprache und Literatur neue Horizonte, Themen und einen hochpoetischen Sound verdankt.
In diesem Sound ist alles enthalten: der Staub der anatolischen Dörfer, das Brennen des Lehmofens, die vergilbten Fotos unserer Eltern, der Schimmel der Hotelzimmer, die Enge der Arbeiter-WGs, der Metallstaub auf den Kitteln der Fabrikarbeiterinnen, die Anrufe in trostlosen Nächten, die zitternde Stimme der Mütter am anderen Ende der Leitung, die Tiraden der Weltliteratur …
Mal ist dieser Sound ein anatolisches Volkslied, mal eine Brecht-Moritat, mal ein Oratorium. Mal erklingt er in einer Seitengasse, mal in einer Allee, mal auf Zuggleisen. Und jetzt auch im Olymp der deutschen Literatur.