«Ganz ehrlich, ich würde die Finger von E-Voting lassen»
Als Zeitvertreib deckt sie Sicherheitslücken in deutschen Behörden auf: Ein Gespräch mit der Aktivistin Lilith Wittmann über Verwaltungsmurks und warum der Staat viel mehr Entwicklerinnen anstellen sollte.
Von Adrienne Fichter, Patrick Seemann (Text) und Florian Kalotay (Bilder), 01.11.2022
Sicherheitsforscherin, Unternehmensberaterin, Krawall-Influencerin, Aktivistin: Lilith Wittmann hat viele Hüte auf. Aus dem Nichts tauchte die 27-Jährige mitten in der Pandemie auf und wurde innert kurzer Zeit eine wichtige Stimme zum Thema Digitalisierung in Deutschland: Sie deckte Sicherheitslücken im CDU-Wahlkampf auf (und erhielt dafür kein Dankeschön, sondern eine Anzeige). Sie erstellt derzeit aus Tausenden von PDFs ein klickbares Organigramm der deutschen Bundesverwaltung. Ein solcher Service wäre Aufgabe des Staates, fehlt aber bisher in Deutschland.
Lilith Wittmann kommentiert auf ihrem Blog zynisch und scharf die Fehler der deutschen Bundesbehörden bei Technologie-Prestigeprojekten. Sie legt den Finger in die Wunde, indem sie testet, hackt, sucht und sich durch Unmengen von trockenen Verwaltungsdokumenten ackert.
Ihre Artikel und Tweets legen Resignation nahe: Der Staat kann eigentlich gar keine Digitalisierung. Doch im Gespräch plädiert Wittmann für das Gegenteil. Ihre Antwort auf gescheiterte Digitalprojekte des Staates heisst: noch mehr Staat!
Lilith Wittmann, es ist wohl kein Zufall, dass Sie während der Pandemie bekannt geworden sind. Ein Digitalprojekt nach dem anderen wurde aus dem Boden gestampft: Corona-Warn-Apps, Videokonferenz-Software, digitale Schulplattformen …
Anfang 2021 sprach der Rapper Smudo, das Hip-Hop-Idol meiner Jugend, in einer Talkshow darüber, dass er mit einer App die Pandemie beenden möchte. Er meinte die von ihm lancierte Luca-App, die in Deutschland für das Contact-Tracing eingesetzt wurde. Ich hatte zu dem Zeitpunkt bereits diverse Probleme mit digitalen Produkten zu lösen versucht und dabei vor allem gelernt, dass Apps und Co. gesellschaftliche Probleme eben genau nicht lösen. Darüber habe ich als Antwort auf Smudos Vorhaben getwittert, das führte dort zu Debatten und mündete dann in einer Anfrage der «Zeit». Ich begann, mich mit ähnlichen digitalen Produkten wie der Luca-App zu beschäftigen, und ging mit den Problemen, die ich sah, an die Öffentlichkeit.
Sie bloggen vor allem über staatliche Digitalprojekte. Warum der Fokus auf Behörden?
Am Anfang der Pandemie wurde ich von Work4Germany eingeladen, während sechs Monaten in einer Behörde mitzuarbeiten. Work4Germany ist ein Fellowship-Programm, das die Privatwirtschaft und Bundesministerien in Deutschland zusammenbringen soll. Dort hab ich mich dann mit der Behördendigitalisierung beschäftigt und kam schnell zum Schluss, dass da vieles broken beyond repair ist. Dies hab ich nach einigen Monaten in einem Blogartikel beschrieben, der einige Reichweite erhielt. Und der dazu führte, dass die Behörde, bei der ich im Einsatz war, diesen vorzeitig beendete.
Mit welcher Begründung?
Sie fanden meine Kritik wohl nicht so gut.
Sie sagen, die Strukturen in Verwaltungen seien oft broken beyond repair. Inwiefern?
Zum einen blockiert die Hierarchie. Die deutsche Verwaltung ist von der Idee her so aufgebaut, dass einzelne Personen jeweils im Rahmen der Vorgaben ihrem nächsten Vorgesetzten zuarbeiten. Wenn du als Expertin etwas schreibst, geht es anschliessend durch sechs Hände nach oben bis zur Ministerin. Auf jeder Ebene wird ein Teil Fachliches herausredigiert und Politisches eingebracht.
Es fehlt also an Kompetenz.
Die Verwaltung ist auf Generalisten ausgelegt, dort finden sich primär Juristen und Verwaltungswissenschaftlerinnen. In unserer komplexen Welt brauchen wir aber verstärkt Fachleute für unterschiedliche Themen. Juristinnen sind nicht zwingend gut darin, digitale Produkte zu managen. Und digitale Services zählen letztlich zu den hoheitlichen Aufgaben des Staates.
In der Schweiz werden IT-Projekte gerne extern beschafft. Mit der Begründung: Wir haben intern kein Know-how und keine Ressourcen. Sie sagen aber, die Antwort auf gescheiterte staatliche digitale Projekte laute: noch mehr Staat!
Ich glaube, dass die digitale Basisinfrastruktur des Staates immer in staatlicher Hand liegen muss. Auch, weil diese ja nie fertiggebaut ist. Eine externe Agentur zu beauftragen, um ein digitales Produkt zu realisieren, ist also wenig nachhaltig. Denn die Entwickler und Projektmanager lernen während der Realisation des Projektes hinzu, und dieser Erfahrungsgewinn sollte anschliessend für die Weiterentwicklung eingesetzt werden. Wenn stattdessen eine Verwaltungsjuristin ein digitales Projekt bei einer externen Firma in Auftrag gibt, dann findet dieser Lernprozess bei den Verwaltungsangestellten nicht statt. Stattdessen begibt man sich in Abhängigkeiten der externen Firma, die das ganze Wissen um Fehler hortet. Der Staat muss daher dringend den Aufbau von interner IT-Kompetenz forcieren.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Mir fällt gerade eines aus Deutschland ein: Dort wurde die digitale Lösung fürs Bafög – staatliche Finanzhilfen für Studierende – viermal implementiert. Die ersten Versionen waren schlicht unbrauchbar, es haperte an vielen Stellen, die Nutzerführung war miserabel. Man hat viele Millionen Euro verschwendet, indem man die eigentlich gleiche Lösung von unterschiedlichen externen Firmen jeweils neu bauen liess, bis die vierte dann endlich funktioniert hat.
Was wäre die Alternative?
Es wäre viel besser, in den einzelnen Verwaltungseinheiten – also in den einzelnen Bundesämtern – Entwicklungsteams aufzubauen, die sich von A bis Z um ein Projekt kümmern können. Diese Teams löst man dann nicht nach dem Launch des Produkts wieder auf, sondern sie können dieses konstant optimieren.
Der Druck auf der öffentlichen Hand ist aber oft gross. Die politische Konkurrenz, Medien und die Öffentlichkeit reagieren schnell kritisch, wenn ein IT-Projekt länger braucht oder, schlimmer, nicht funktioniert. Ist unter diesen Umständen ein Lernprozess und eine offene Fehlerkultur überhaupt möglich?
Hier ist es wichtig, zu unterscheiden, von welcher Art von Fehlern wir sprechen. Wenn ein digitales Produkt lanciert wird und es bricht dann aufgrund der grossen Nachfrage von Nutzerinnenseite zusammen, dann gibt es natürlich einen Aufschrei in der Öffentlichkeit und die Medien berichten darüber. Es ist halt auch einfach eine Story. Letztlich ist dieses Problem aber leicht gelöst: Man stellt ein paar zusätzliche Server hin, und die Sache läuft wieder. Es braucht ohnehin Transparenz vonseiten der Verwaltung, aber ein solcher Fehler zählt auch zu denen, die zu verschmerzen sind.
Welche Fehler wiegen schwerer?
Wenn ein Risiko besteht, dass Millionen von Bürgerdaten offengelegt werden. Das darf schlicht nicht passieren. Ein solches Risiko lässt sich aber am besten mit dem Aufbau von interner Kompetenz und guten Strukturen für Compliance und IT-Sicherheit auffangen. Grosse Banken kommen zum Beispiel nicht auf die Idee, ein Produkt auf den Markt zu bringen, das eklatante Sicherheitslücken hat. Bei externen Auftragnehmern verliert man durch die Auslagerung auch die Kontrolle über Themen wie Datenschutz.
Die Schweiz startet einen zweiten Anlauf zur E-ID, also für den elektronischen Identitätsnachweis. Die Bevölkerung lehnte hier 2021 das Outsourcing des Projekts an Privatunternehmen ab. Nun wird es eine staatliche Lösung geben. Die Schweiz diskutiert für diese den Ansatz der sogenannten self-sovereign identity (SSI), der auch in Deutschland im Gespräch ist. Sie kritisieren den Ansatz, weshalb?
Da stimmt einfach vieles nicht. Nur schon der Begriff: SSI heisst «selbstbestimmte Identität». Das ist verwirrend, denn der Identitätsnachweis wird vom Staat definiert und vergeben. SSI meint Folgendes: Eine Bürgerin verfügt über eine staatlich verifizierte digitale Signatur, und diese wird dann in Form einer App auf dem Handy gespeichert. Wenn jetzt ein Onlineshop, ein soziales Netzwerk oder eine Behörde online auf diese Signatur zugreifen möchte, erhalten sie bei Bedarf eine digital signierte und notariell beglaubigte Kopie meines Ausweises. Wenn ich also meine Identität zum Anmelden auf einer Website brauche, gebe ich garantiert echte personenbezogene Daten von mir weiter.
Das würde dann eine eindeutige Klarnamen- und Ausweispflicht bedeuten für sämtliche Websites, Plattformen, Apps …
Genau, das wäre eine radikale Kehrtwende weg von dem Internet, wie wir es kennen. Bisher haben wir an den meisten Stellen keine garantiert echten personenbezogenen Daten gebraucht. Es reichen Selbstangaben, Fantasienamen oder Pseudonyme, alles andere ist unnötig. Mit SSI wäre das vorbei: Ob man was kaufen, chatten oder streamen möchte – alle diese Dinge könnten je nachdem an eine staatliche Identität geknüpft werden.
Genau vor diesen Szenarien warnen hierzulande gerade die Digitale Gesellschaft oder die Piratenpartei bei der E-ID 2.0, also beim neuen Gesetz zur staatlichen Identität. Soll aber diese Identifizierbarkeit nicht als Schutzmassnahme vor Missbrauch dienen?
Ich sehe keinen Sinn darin, digitale Transaktionen oder Kommunikation an einen staatlichen Identitätsnachweis zu binden. Das führt schliesslich dazu, dass an vielen Stellen echte staatliche Identitätsdaten gesammelt werden. Und bei der Anzahl an Cyberangriffen und Hacks, die konstant passieren, führt dies fast zwingend dazu, dass früher oder später echte Identitätsdaten an die Öffentlichkeit gelangen.
Ein Anwendungsfall für SSI, der oft genannt wird, ist der Onlinekauf von Alkohol. So sollen Käuferinnen belegen können, dass sie älter als 18 Jahre sind.
Das erscheint mir ein recht schwacher Anwendungsfall für die Notwendigkeit einer E-ID. In Deutschland gibt es ein Verfahren, bei dem der Postbote das Alter bei der Zustellung verifiziert. Er checkt dann vor der Tür meinen Ausweis. Das erscheint mir sinnvoll. Das andere grosse Themenfeld bei der E-ID ist Onlinepornografie. In Deutschland experimentiert man seit rund 20 Jahren mit Lösungsideen, wie die Altersgrenze bei Onlinepornos gewährt werden könnte. Bisher sind aber alle Ansätze daran gescheitert, dass man sich dabei früher oder später ausweisen muss und das kaum jemand machen möchte. Wenn man Internetpornografie mit der E-ID verknüpfen würde, dürften die Konsumenten wieder vermehrt auf unregulierte Plattformen ausweichen. Es ist darum absurd, dass ausgerechnet die Altersverifikation im Internet nun der use case für eine staatliche E-ID sein sollte.
Neben der E-ID ist E-Voting einer der digitalen Dauerbrenner, zumindest in der Schweiz. Hierzulande wird es wahrscheinlich ab 2023 möglich sein, digital zu wählen und abzustimmen. Was denken Sie darüber, ein Fortschritt?
Ganz ehrlich, ich würde die Finger davon lassen. Wir sind gerade in vielen Bereichen an einem Kipppunkt der Demokratie angelangt, faschistische Kräfte gibt es überall. Es braucht wenig, um das Vertrauen in den Staat und die Demokratie zu verlieren. Wir sollten das nicht mit digitalen Spielereien gefährden. Denn: Wir wissen seit Jahren, dass man beispielsweise Wahlcomputern alleine nicht vertrauen kann und dass Transparenz und Integrität von Wahlen so nicht sichergestellt werden können. In Deutschland und in der Schweiz haben wir mit der Briefwahl eine wunderbare «Technologie», die ziemlich sicher ist und ziemlich schwer grossflächig anzugreifen ist, ohne dass es auffällt.
In der EU ist gerade der Begriff «digitale Souveränität» der grosse Renner. Die Staaten möchten komplett digital unabhängig werden.
Ich bin in einem globalen Internet aufgewachsen und mache mir grosse Sorgen, wenn Staaten damit beginnen, das Internet national zu regeln. Das sind dann Ideen wie: «Wir machen zwar Open Source, aber eigentlich nur für uns.» Da klingen dann schnell mal nationalistische Vibes durch. Es ist natürlich von öffentlichem Interesse, den Datenschutz zu erhöhen. Dieser Schutz darf aber nicht darin münden, digitale Mauern zu bauen und Nationalismen zu bedienen.
Apropos Open Source, gerade die staatliche Förderung von freier, quelloffener Software könnte doch Vorteile haben?
Sicher hat es Vorteile, wenn der Staat in Software für die Zivilgesellschaft investiert. In Deutschland haben wir beispielsweise den Sovereign Tech Fund, aus dem viele Millionen Euro in deutsche Open-Source-Projekte fliessen. Der Staat sollte sich dabei einfach nicht von Stereotypen leiten lassen, sondern sich dafür einsetzen, global bessere und gut regulierte Technologien zu haben und im digitalen Raum arbeitsteilig zu arbeiten und gut kooperieren zu können.
Sie untersuchen ja mit dem Hackerinnen-Kollektiv Zerforschung immer wieder staatliche Apps, wenn ihr gerade Zeit und Musse dafür findet. Manchmal sind die gefundenen Lücken derart krass, dass man sich fragt: Wieso hat da vor euch niemand mit professioneller Brille draufgeschaut?
Vermutlich haben wir es hier mit einem strukturellen Versagen zu tun. Die Unternehmen brauchen einen sogenannten Pentest, um live gehen zu können. Das heisst, es werden IT-Systeme der Firma legal und gewollt gehackt. Ein bezahlter Pentester möchte aber unter Umständen gar nicht zu viele Schwachstellen finden, weil man ja wieder mal einen Auftrag haben möchte und seinen Auftraggeber nicht verärgern will. Ausserdem ist ein guter Pentest recht aufwendig. Und eigentlich ist das, was wir als Kollektiv in unserer Freizeit tun, eher unkompliziert. Wir schalten einen man-in-the-middle proxy und schauen mal, welche Daten da so fliessen.
So einfach klingt das jetzt aber nicht.
Natürlich hilft es, dass wir seit Jahren auf diese Art Systeme testen und entsprechend Erfahrung haben. Die grundsätzlichere Frage ist aber gerade bei unseren «Fundstücken», ob wir das als Zivilgesellschaft überhaupt machen sollten oder ob die vielen Tests und Sicherheitsprüfungen nicht eher eine staatliche Aufgabe wären. Momentan reparieren wir halt etwas, was der Staat einfach nicht professionell hinbekommt.