Operation Hoffnung
Bei den US-Zwischenwahlen am 8. November steht für die Demokraten alles auf dem Spiel. Doch den Kongress zu halten, ist ein historisch schwieriges Unterfangen. Um es möglich zu machen, hat die Partei ihre Strategie geändert.
Von Annika Brockschmidt, 29.10.2022
Dass man sich nie als Polizist ausgegeben hat, wäre normalerweise kein Grund, sich zu brüsten. Aber in diesem Wahlkampf ist einiges nicht normal. Und so sagt der demokratische Kandidat Raphael Warnock im Rennen um den Senatssitz im US-Bundesstaat Georgia: «Ich habe nie so getan, als wäre ich ein Polizist – und habe nie damit gedroht, mit der Polizei eine Schiesserei anzuzetteln.»
Es ist ein Seitenhieb an seinen republikanischen Herausforderer Herschel Walker, auf den beides zutrifft. Warnock und Walker trafen am 14. Oktober in einer TV-Debatte aufeinander, die wegen der erratischen Performance Walkers ziemlich abstrus geriet. Doch der Demokrat Warnock griff den Republikaner nicht nur persönlich an. Er warf ihm auch Extremismus vor und machte Werbung für seine eigenen Pläne – eine Strategie, die viele seiner demokratischen Kollegen im Vorlauf der Midterm-Wahlen verfolgen. «Ich vertraue Frauen mehr als Politikern», sagte Warnock und sprach sich für legale Abtreibung aus. Walker hingegen hatte in der Vergangenheit ein totales Abtreibungsverbot gefordert.
Bei den Zwischenwahlen am 8. November steht für die Demokraten alles auf dem Spiel. Sollten sie ihre Mehrheiten im Repräsentantenhaus und im Senat verlieren, wären Präsident Joe Biden für die nächsten zwei Jahre die Hände gebunden. Denn mit einer Blockade im Kongress, die die Republikaner im Falle ihres Wahlsieges bereits angekündigt haben, könnte er nur noch per Exekutivverordnungen regieren – die vor dem rechtskonservativ besetzten Obersten Gerichtshof angefochten und kassiert werden könnten.
Wer den Präsidenten stellt, verliert in der Regel
Um das zu verhindern, müssen die Demokraten den Kongress halten. Das ist ein historisch schwieriges Unterfangen, denn fast immer verliert die Partei, die den Präsidenten stellt, die Zwischenwahlen. Das hat verschiedene Gründe: Bei den midterms gehen weniger Menschen wählen als bei der Präsidentschaftswahl. Oppositionswählerinnen sind motivierter. Und die eigenen Wähler sind zwei Jahre nach der Präsidentschaftswahl bereits etwas ernüchtert.
Im Repräsentantenhaus sind 218 Sitze für eine Mehrheit nötig – die Demokraten haben momentan 220. Um die Mehrheit zu halten, dürfen sie nicht mehr als zwei Sitze verlieren. Im Senat ist es noch knapper – dort haben beide Parteien 50 Sitze, den Republikanern fehlt nur ein Sitz zur Mehrheit.
Georgia ging 2021 in einer special election zum ersten Mal seit dem Jahr 2000 an die Demokraten – und sicherte ihnen damit die Kontrolle des Senats. Das machte es für die Partei erst möglich, Präsident Bidens Politik auch tatsächlich umzusetzen. Jetzt ist Georgia einer der Bundesstaaten, in denen sich die Kandidaten ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern. Warnock liegt derzeit gut 2 Prozentpunkte vor Walker. In seiner Kampagne wirbt er mit seinen Erfolgen in Washington: der Verabschiedung eines Bundesgesetzes, das die Inflation eindämmen soll, sowie eines weiteren, das Warnock als «die grösste Steuerentlastung für den Mittelstand und die Arbeiterklasse in der amerikanischen Geschichte» bezeichnet.
Tatsächlich konnte die Biden-Administration jüngst diverse Erfolge verbuchen, was den Demokraten während des Sommers Aufwind verschafft hat. So wurde ein grosses Klima- und Sozialpaket verabschiedet. Biden hat zudem mit einem teilweisen Erlass von Schulden für Studiengebühren ein extrem beliebtes Vorhaben umgesetzt, auf das die demokratische Basis seit langem gedrängt hatte (auch wenn es kürzlich von einem Berufungsgericht blockiert wurde).
Populär ist auch die Entkriminalisierung von Marihuana: Biden hat bereits Begnadigungen für Verurteilte auf Bundesebene in Aussicht gestellt. Mit beiden Themen könnte Biden bei jungen Wählerinnen punkten, die in der Vergangenheit eher nicht gewählt haben. Ihre Mobilisierung könnte mitentscheidend sein für den Wahlausgang der midterms.
«Sie haben Trump Amerikas Hitler genannt»
Doch einige Demokraten distanzieren sich im Wahlkampf auch von Biden und seiner Regierung – wie Tim Ryan in Ohio, einem harten Pflaster für Demokraten. Es ist eine strategische Kalkulation: Ryan hofft, im knappen Rennen bei unabhängigen Wählerinnen punkten zu können, die mit dem derzeitigen Kurs der Regierung unzufrieden sind. Ryan hat sich in Sachen Universitätsschuldenerlass von Biden distanziert und fordert einen stärkeren Schutz der Grenze. Ryan und der Republikaner J. D. Vance trafen jüngst in ihrer zweiten Fernsehdebatte aufeinander – in der Ryan den Republikaner damit konfrontierte, dass dieser Trump früher abgelehnt hatte: «Sie haben Trump Amerikas Hitler genannt, und dann haben sie ihm den Arsch geküsst, und dann hat er sie öffentlich unterstützt.»
Auch der demokratische Senator Mark Kelly geht im Wahlkampf auf Distanz zu Biden. Er tritt in Arizona gegen den rechtsextremen Blake Masters an, der wie Vance vom Tech-Milliardär Peter Thiel finanziert ist. «Wenn Demokraten falschliegen wie bei der Grenze, dann konfrontiere ich sie damit», sagte Kelly Anfang Oktober.
Noch ist unklar, ob die Rechnung der Demokraten in den beiden swing states aufgeht – in Ohio führt der Republikaner J. D. Vance derzeit knapp, in Arizona der Demokrat Kelly. Der Wahlkampf der beiden Republikaner war eher schleppend angelaufen, die demokratischen Kandidaten lagen lange mit Abstand vor ihnen. Doch in den Wochen vor den midterms haben sich die Umfragewerte zugunsten der Republikaner verschoben. Hatten die demokratischen Kandidaten anfangs weit mehr Geld für ihre Kampagne zur Verfügung, versuchen kurz vor der Wahl die Republikaner das Ruder herumzureissen. Noch liegen in einigen Senatsrennen überraschenderweise die Demokraten vorn, wenn auch knapp – das könnte auch an der exorbitanten Schwäche einiger republikanischer Kandidaten wie Herschel Walker liegen.
Der Tonfall hat sich verschärft
Doch dass die Demokraten immer noch besser dastehen als erwartet, hat noch andere Gründe: Wahlkampfteams wie jenes des Demokraten John Fetterman in Pennsylvania führten eine vergleichsweise unkonventionelle, verstärkt digital präsente und bissige Kampagne. Doch auch die Rhetorik und Wahlkampfstrategie der Demokraten auf nationaler Ebene hat sich über den Sommer hinweg stark verändert. Hatte der zentristische Flügel der Partei unter Bidens Führung zuvor immer wieder auf «überparteiliche Zusammenarbeit» gepocht, so hat sich der Tonfall gegenüber der politischen Gegnerin nun verschärft.
Als Biden am 1. September seine sogenannte Rede zur «Seele der Nation» hielt, bezeichnete er die Republikanische Partei als Gefahr für die Demokratie. Er hatte schon früher vom Maga-Flügel («Make America Great Again») der Partei gesprochen, anerkannte jetzt aber zum ersten Mal öffentlich, dass es sich dabei nicht um den rechten Rand der Partei, sondern um den tonangebenden Mainstream handelt, der die Geschicke der Partei lenkt.
Joe Biden, der einst Segregationisten unterstützte und mit ihnen befreundet war und dessen ganze politische Karriere auf Überparteilichkeit als Markenzeichen aufgebaut war, hat nun den Ernst der Lage erkannt. Schon Ende August hatte er die Maga-Republikaner «Semi-Faschisten» genannt. Er sagte, die Amerikaner hätten bei den midterms die Wahl zwischen den rückwärtsgewandten, Hass verbreitenden Republikanern aus dem Lager Donald Trumps und den zukunftsorientierten Demokraten – Erstere wollten die amerikanische Demokratie zerstören, Letztere sie bewahren.
Was hat dazu geführt, dass die Demokraten ihre Taktik änderten?
Eine grosse Rolle dürften die Ereignisse dieses Sommers gespielt haben – die zahlreichen extremen und demokratiegefährdenden Urteile des Obersten Gerichtshofs und vor allem die Reaktion der Republikaner auf die Hausdurchsuchung in Trumps Anwesen Mar-a-Lago in Florida Anfang August durch das FBI. Die Republikaner waren nicht nur empört, sondern drohten auch ganz offen – und zwar nicht nur extremere Politikerinnen. Auch einer wie Lindsey Graham, fest im Mainstream der Partei verankert, verkündete: Wenn Trump verhaftet werde, gebe es Aufstände auf der Strasse.
Mittlerweile ist es nicht mehr aussergewöhnlich, dass Republikaner im Wahlkampf politische Gewalt androhen oder unterstützen. Und so dürfte es nun auch Joe Biden und seinem Umfeld klar geworden sein, dass man mit einer Partei nicht zusammenarbeiten kann, die sich vollends von der Demokratie verabschiedet hat, die politische Gewalt als legitimes Mittel ansieht und fordert, dass ihre Mitglieder nicht denselben Gesetzen unterliegen wie alle anderen. Bei der Bevölkerung scheint das angekommen zu sein: Zu den Topthemen bei den midterms zählen bei demokratischen Wählerinnen die Sorge um die Zukunft der Demokratie sowie der Zugang zu Abtreibung. Entsprechend hat die Partei in Werbespots vor allem zum Thema Abtreibung investiert.
Seit der Oberste Gerichtshof am 24. Juni das landesweite Recht auf Abtreibung gekippt und an die Bundesstaaten delegiert hat, hat der Unmut darüber zu einem starken Anstieg an neu registrierten Wählern geführt. Die Folgen des Urteils sind beträchtlich. In dreizehn republikanisch dominierten Bundesstaaten traten Gesetze in Kraft, die Abtreibungen verbieten, teils nicht einmal Ausnahmen bei Vergewaltigung oder Inzest vorsehen oder die Ärztinnen für Abtreibungen mit drakonischen Strafen drohen. Die extremen Gesetze sind bei der Mehrheit der Bevölkerung höchst unbeliebt – sogar im konservativen Kansas scheiterte ein Referendum, um den Schutz des Rechts auf Abtreibung aus der Verfassung des Bundesstaats zu streichen. Die Demokraten setzen darauf, dass sich über dieses Thema ihre Basis mobilisieren lässt.
Nicht ganz ungefährlich ist eine andere Strategie der Demokraten: Sie setzen im Wahlkampf auf Risiko. Gemäss Recherchen der «New York Times» haben Demokraten in den fünf Bundesstaaten Kalifornien, Michigan, Colorado, Pennsylvania und Illinois fast 44 Millionen Dollar in Negativ-Video-Kampagnen gegen sieben moderate republikanische Kandidaten investiert. Dabei gehen sie die Wette ein, dass es einfacher sei, gegen rechtsextreme republikanische Kandidaten zu gewinnen als gegen moderatere. Es ist eine riskante Strategie, wenn man bedenkt, dass 60 Prozent aller Amerikanerinnen eine Person auf dem Wahlzettel stehen haben werden, die Trumps Lüge vom Wahlbetrug propagiert.
Die Versäumnisse der Demokraten
Die Demokraten haben in den letzten Jahren, ja Jahrzehnten, viele Fehler gemacht. Sie haben sich zu sehr auf die nationale Ebene konzentriert und haben lokale Wahlkämpfe vernachlässigt, sie verfügen meist kaum über örtliche Parteistrukturen, während die Gegenseite eine politische Infrastruktur aufgebaut hat, die ihr jetzt nützt. Während die amerikanische Rechte in Jahrzehnten denkt, planen die Demokraten höchstens bis zur nächsten Präsidentschaftswahl. Das rächt sich jetzt, unter anderem mit der Besetzung des Supreme Court. Aber auch mit dem aggressiven Gerrymandering, mit dem die Republikaner in ihren Bundesstaaten die Wahlbezirke so zuschneiden, dass teilweise kein Demokrat mehr eine Wahl gewinnen kann. Zudem werden in republikanischen Bundesstaaten Wählerinnen systematisch eingeschüchtert und vom Wählen abgehalten.
Derzeit wird den Demokraten in Umfragen immerhin eine Chance eingeräumt, den Senat zu halten, während die Republikaner wahrscheinlich mindestens die Mehrheit im Repräsentantenhaus erringen werden. Laut einer aktuellen Umfrage der «New York Times» wollen 49 Prozent der Wähler für einen Republikaner stimmen und nur 45 Prozent für eine Demokratin. Nachdem die Demokraten im September noch einen Prozentpunkt Vorsprung hatten, zeigen nun auch andere Umfragen, dass die Republikaner aufholen.
Eine weitere mögliche Erklärung dafür liefert eine aktuelle Umfrage der «New York Times» und des Siena College. Demnach glauben zwar 71 Prozent der Wahlberechtigten, dass die Demokratie gefährdet ist – doch das ist nur für 7 Prozent das dringendste Problem des Landes. 39 Prozent aller Wählerinnen wären bereit, einen Kandidaten zu unterstützen, der die Wahlergebnisse 2020 ablehnt – das beinhaltet ganze 37 Prozent der Unabhängigen und sogar 12 Prozent der demokratischen Wählerinnen.
Während des Sommers schien der Fokus der Demokraten auf die Gefährdung der Demokratie noch zu zünden – vor allem beim Thema Abtreibungsrecht. Doch die Inflation macht dem Land nach wie vor zu schaffen, und das spüren die Wähler in der Geldbörse. Biden und seine Beraterinnen hatten fälschlicherweise darauf gesetzt, dass die Inflation nur «vorübergehend» so hoch sein würde.
Auch die Benzinpreise fielen in den Sommermonaten und steigen derzeit wieder. Beides ist auf globale Ursachen zurückzuführen. Republikaner haben keine Lösung für beides, doch das ist, bis zu einem gewissen Grad, egal – denn die Wählerinnen führen die Situation auf die amtierende Regierung zurück.
Ein weiterer strategischer Fehler könnte gewesen sein, dass die Biden-Regierung ihr grosses Klima- und Sozialpaket «Inflation Reduction Act» genannt hat – auch wenn klar war, dass die Auswirkung des Gesetzespakets auf die Inflation minimal sein würde. Durch die aktuellen Zahlen wirkt es nun so, als funktioniere die legislative Agenda des Präsidenten nicht. Gleichzeitig nutzen Republikaner das zunächst beliebte Stimulus-Paket der Demokraten von 1,9 Billionen Dollar, das den Bürgern aus dem Corona-Tief helfen sollte, um ihnen jetzt vorzuwerfen, sie hätten dadurch die Inflation angeheizt. Das hat zur Folge, dass wenige Demokraten über die Schecks sprechen, die 2021 direkt an die Bürgerinnen gingen. So überlässt man in Sachen Wirtschaft das Feld den Republikanern.
Für die Befragten der «New York Times»-Umfrage sind die beiden wichtigsten Themen die Wirtschaft und die Inflation beziehungsweise die Lebenshaltungskosten. Die Demokraten müssen die Wählerinnen nun auf den letzten Metern zu den midterms davon überzeugen, dass sie bessere Lösungen für diese Bereiche haben als die Republikaner, denen Wähler in wirtschaftlichen Angelegenheiten mehr zutrauen.
Gelingt ihnen das nicht, sieht es für sie düster aus.
Es geht um weit mehr als Sitze
Das muss nicht heissen, dass die Demokraten die Gefährdung der Demokratie nicht mehr erwähnen sollen. Aber sie müssen sie mit den sogenannten kitchen table issues verbinden – den Themen, die den Alltag der Menschen prägen. Denn dort haben Demokraten tatsächlich mehr zu bieten als Republikaner. Doch es hakt, wie immer, bei den Demokratinnen an der Bereitschaft, aggressiv Wahlkampf zu machen und ihre Botschaften überzeugend zu kommunizieren.
Gleichzeitig lassen sie sich in Sachen Wirtschaft unnötig in die Defensive drängen. Statt die Inflation herunterzuspielen, wäre es effektiver, die Republikaner auf diesem Gebiet anzugreifen. Steuersenkungen für Reiche und Einsparungen bei social security würden die gegenwärtige Lage verschlimmern – allerhöchste Zeit, diese Botschaft an die Wählerinnen zu bringen.
Für die Demokraten geht es bei den Zwischenwahlen um weit mehr als Sitze – es steht die Zukunft der amerikanischen Demokratie auf dem Spiel. Es wird sich zeigen, ob diese Einsicht bei den Demokratinnen noch rechtzeitig angekommen ist und es ihnen gelingt, die Basis zu mobilisieren. Für Amerikas Demokratie steht die Uhr auf kurz vor zwölf.
Annika Brockschmidt ist studierte Historikerin und Konfliktforscherin und arbeitet als Journalistin, Autorin und Podcasterin. Sie befasst sich vor allem mit der religiösen und politischen Rechten in den USA. 2021 erschien ihr Buch «Amerikas Gotteskrieger. Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet».