Die Klimakrise der Literatur

Wie schreibt man über den drohenden Klima­kollaps? Die Gegenwarts­literatur kennt darauf sehr verschiedene Antworten. Aber wie steht es eigentlich um die Klima­bilanz der Buchbranche selbst?

Von Daniel Graf (Text) und María Jesús Contreras (Illustration), 26.10.2022

Vorgelesen von Miriam Japp
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Als der Schweizer Autorinnen-Verband A*dS Anfang Oktober im Stadt­theater Olten zu einem Symposium über Literatur in Zeiten der Klimakrise lud, wollte der deutsche Schrift­steller Juan S. Guse mit seinem Eröffnungs-Input nicht allzu lange bei literarischen Zukunfts­entwürfen verweilen. Stattdessen formulierte er eine andere Vision.

Wie wäre es, fragte Guse in die Runde, wenn man, so als Beitrag zur Ressourcen­schonung, einfach gar keine gedruckten Bücher mehr produzierte? Wenn man angesichts von all dem «Zeug, das da durch die Welt gefahren» werde, einfach sagen würde: «Brauchen wir nicht – weg.» Stromintensive E-Book-Tablets? «Natürlich auch – weg.» Nur noch digitales Lesen – auf energie­sparenden Screens.

Guse sprach nicht wie einer, der genüsslich eine Stink­bombe in den Saal schmeisst und bei den Anwesenden auf die Entgleisung der Gesichtszüge wartet. Vielmehr stand da jemand auf der Bühne, der ernsthaft hadernd und suchend triftige Fragen aufwarf. Und dabei die landläufige Trennung nicht akzeptierte: hier die ästhetischen, da die materiellen Fragen.

Auf der einen Seite also: Wie muss man heute von der Klimakrise sprechen und erzählen? Welche Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen hat die Literatur?

Auf der anderen Seite: Wie sieht es eigentlich mit dem ökologischen Fuss­abdruck des Buch­markts aus? Was wäre zu tun, damit der immense Ressourcen­verbrauch von Papier­industrie und Verlags­branche signifikant zurückginge – und ebenjene Literatur so klima­freundlich wie möglich in die Hände ihrer Leserinnen gelangte?

Die zweite Hälfte dieses Fragen­katalogs wird unter Autorinnen und Lesern bislang eher selten diskutiert. Besonders selten, so viel Selbst­kritik muss sein, in den Feuilletons.

Dabei drängt sich, ganz im Sinne von Guses inspirierender Provokation, der Gedanke auf, dass es womöglich nicht mehr reicht, sich als Bücher­mensch nur für den textlichen Part zu interessieren. Dass sich mit zunehmender Dringlichkeit auch die Frage nach den Produktions­bedingungen stellt. Dass also die Frage nach der Klimakrise in der Literatur eine doppelte ist. Und wenn man sich ein paar der neuesten (sowie einige ältere) Entwicklungen im deutsch­sprachigen Literatur­betrieb ansieht, wird deutlich: Eine ganze Menge Leute nehmen längst eine solche Doppel­perspektive ein.

Die Republik hat in den vergangenen Wochen mit zahlreichen Branchen­vertreterinnen über die Themen Klima­schutz und Nachhaltigkeit im Buchmarkt gesprochen, sich auf Konferenzen und in Ausstellungen umgesehen und nicht zuletzt: neue Klima­romane gelesen.

Das Ergebnis ist dieser Streifzug durch das Themen­feld entlang zweier Perspektiven: Wie begegnet Literatur als Kunst­form der Klimakrise? Und wie verhindert man, dass Literatur als Ware zur Klimakrise beiträgt?

1. Die Texte

Wenn in einem Roman ein Hotel samt dem zugehörigen Kurort den Namen «Bad Heim» trägt, kann man fast darauf wetten, dass da nur das Grauen zu Hause sein kann. Doch die Hölle, das sind hier nicht die anderen, wie denn auch? Es ist gar niemand da. Seit Monaten schon wird das Gebiet von einem verheerenden Hitze­sommer heimgesucht, und weil gleich hinter dem Fluss die Wald­brände toben, stehen nicht nur die Hotel­zimmer von Iris leer. Bis Dorota, eine junge Mutter, ohne Voranmeldung mit ihrer drei- oder vierjährigen Tochter auftaucht, bei Iris eincheckt und mit ihrem kleinen Roll­koffer auch ein grosses Geheimnis aufs Zimmer zu schleppen scheint.

Franziska Gänslers Debütroman handelt nicht nur von apokalyptischen Feuern. «Ewig Sommer» ist auch ein mit viel Spannung und dramaturgischer Finesse erzähltes Familien­drama, eine Aufbruchs- und ausser­gewöhnliche Dreiecks­geschichte.

Gänsler erzählt doppelspurig: die Geschichte der Hitze­brände und die Geschichte von Dorota. Schon mit diesem scheinbar einfachen Ausgangs­setting führt die Autorin eine grund­legende Erkenntnis vor: Die Klimakrise ist, bis es zum Äussersten kommt, fast immer nur die «andere», die zweite Katastrophe. Sie ist der Hinter­grund, vor dem sich die persönlichen Dramen unseres Alltags abspielen. Ja, Gänsler setzt noch eines drauf: Es sind die Brände, die den Ort für Dorota überhaupt erst zu einem Zufluchts­ort machen, weil man sie dort, im asche­überzogenen Katastrophen­gebiet, samt Kind am wenigsten vermutet. «Irgendetwas fürchtete sie», lässt Gänsler ihre Erzählerin Iris rätseln, «irgendetwas fürchtete sie mehr als den Brand, die schlechte Luft.»

So wie Iris ihren Gast beobachtet und zu entschlüsseln versucht, so macht der Roman auch uns als Lesende zu Beobachterinnen der Figuren und ihrer Bewältigungs­strategien. Und so wie die beiden Handlungs­stränge, das grosse und das kleine Drama, sich wechsel­seitig bespiegeln, entwickelt der Roman seine Kraft aus den Spannungen zwischen grossem und kleinem Bildausschnitt. Wenn die Bewohner von Bad Heim an den Fluss als Schutz- und Trennlinie glauben («Die Feuer bleiben auf der anderen Seite»), wenn sie ihr Mantra sprechen, man müsse nur ausharren, bis endlich Regen komme, dann ahnen wir als Lesende bereits, dass es anders kommen dürfte. Wir erkennen die Irrtümer von Iris – und erkennen uns in ihr wieder. Wir lernen die Figuren zu lesen – und in Wirklichkeit die eigene Psychologie.

«Ewig Sommer» ist ein Roman über die Psychologie der Verdrängung, aber auch ein Text über Solidaritäts­erfahrung sowie die – genutzten und verpassten – Möglichkeiten individueller Handlungs­macht.

Das verbindet ihn mit einem Text, der 100 Jahre älter, derzeit aber ganz neu in der Zürcher Altstadt zu entdecken ist.

Unter dem Titel «Climate Fiction» hat das Literatur­museum Strauhof eine klug komponierte Ausstellung zu Klima­literatur zusammen­gestellt – und der Coup darin ist ein bisher viel zu wenig beachteter Roman von Charles Ferdinand Ramuz: «Présence de la mort» von 1922. In der Westschweiz 2009 nochmals in kleiner Neuauflage heraus­gekommen, wird der Roman kommendes Frühjahr in der Über­setzung von Steven Wyss erstmals auf Deutsch erscheinen. Im «Strauhof» kann man bereits jetzt Auszüge aus Original und Übersetzung lesen und vor allem hören, vor einem lodernden Sonnenball sitzend. Denn auch Ramuz’ Roman handelt von einer Hitze­katastrophe und ist ein Parade­beispiel für literarische Imaginations­kraft, die Jahrzehnte später als prophetisch erscheint. (Weshalb wiederum das literatur­wissenschaftliche Projekt Cassandra «Literatur als Frühwarn­system» verstehen will.)

Von den Klimawissenschaften unserer Tage hat Ramuz natürlich noch nichts wissen können. Ihm genügte vielmehr der Hitzesommer 1921 am Genfersee, um sich gedanklich die Konsequenzen einer noch sehr viel radikaleren Temperatur­steigerung auszumalen, bis zur Vision einer nicht mehr bewohnbaren Welt. Und was soll man sagen? Der Mann kannte sich aus mit der menschlichen Psychologie. Das hartnäckige Leugnen und Verdrängen, wie man es zuletzt etwa in der Corona-Krise erlebte – es sind dieselben Mechanismen, die schon Ramuz beschreibt.

Literarisch bemerkenswert ist der Roman aber auch, weil Ramuz in hemmungs­loser Klang­poesie Schrecken und Schönheit aufeinander­zwingt. Sein Text ist ein Schwanen­gesang: eine Feier des Lebens und der Schönheit der Erde – bis diese in der Sonne untergeht.

Dieser dystopischen Vision ist in der Ausstellung ein zeitgenössischer utopischer Entwurf gegenüber­gestellt. «Das Ministerium für die Zukunft» des US-amerikanischen Science-Fiction-Autors Kim Stanley Robertson beginnt zwar ebenfalls mit dem Szenario einer Umwelt­katastrophe («Die Stadt war eine Leichen­halle»). Der 700-Seiten-Roman um eine in der Schweiz angesiedelte Uno-Institution für die Rechte zukünftiger Generationen erzählt nach dem Anfangs­kapitel aber keine Geschichte von unaufhaltsamer Verheerung. Sondern davon, wie es der Menschheit bis 2070 gelingt, die globale Erwärmung zu stoppen.

So inszeniert die «Strauhof»-Ausstellung Utopie und Dystopie als die beiden Pole der Klimaliteratur – und zeigt in zahlreichen weiteren Beispielen auch das breite Spektrum dazwischen.

Was aber leisten die scheinbar grund­verschiedenen Ansätze von Utopie und Dystopie? Was ist die Aufgabe, was sind die Möglichkeiten der Literatur? Was hat das mit Vorstellungen vom guten oder schlechten Ende zu tun?

Auch vor diesem Hinter­grund ist der Blick auf zwei kürzlich in Schweizer Verlagen erschienene Romane erhellend.

Die Zürcher Autorin Fabienne Maris, die unter ihrem bürgerlichen Namen Larissa Tschudi als Journalistin tätig ist, hat mit «Hitzewelle» ihren ersten Roman vorgelegt. Er spielt ebenfalls in einem Hitze­sommer, erzählt aber vor allem die Geschichte einer Lebenskrise.

Jonathan ist 35, arbeitet im Gemeinde­archiv, und sein Alltag ist mindestens so gleich­förmig wie die Akten­reihen, die er digitalisieren soll. Nachdem er bei einer Umfrage zu sozialen Aktivitäten mitgemacht hat, trifft ein Brief vom Gesundheits­ministerium ein. «Sozial weitgehend isoliert», lautet der Befund, man bezahle ihm eine dringend nahegelegte Vorsorge­untersuchung bei einer Therapeutin. So beginnt Jonathans Beschäftigung mit der eigenen Einsamkeit. Während die Temperaturen den Menschen die Schweiss­perlen treiben, zeigen sich jedoch all jene, die die soziale Kälte bekämpfen sollen, besonders unterkühlt. Und Jonathans Wegweiserin aus der Vereinsamung sitzt dann auch nicht im Therapeuten­sessel, sondern im Supermarkt an Kasse 18.

Maris’ in einfachen Sätzen und kurzen Kapiteln erzählte Liebes­geschichte ist am stärksten, wo ihr mit einem lakonischen Humor plastische Figuren­zeichnungen und kleine Alltags­szenen gelingen. Jonathans innere Verwandlung als Haupt­strang der Erzählung hingegen bleibt zu oft mehr behauptet als ins Bild gesetzt. Und dann, als Jonathan im Schluss­kapitel staunend auf das unverhoffte Liebes­glück mit Laura blickt, sinniert er: Die Hitzewelle «kam wie aus dem Nichts, und jetzt ist sie wieder weg. Einfach so. Ob sie wirklich echt war, spielt keine Rolle. Sie hat ihre Funktion erfüllt.» Es folgt, immerhin, ein kurzer Einspruch von Laura, ehe Jonathan noch einmal resümiert, für ihn persönlich habe die Hitzewelle die Bedeutung eines Weckrufs aus der Einsamkeit gehabt. Er blickt in Lauras Gesicht und «in den Himmel über ihr». Dann endet es, «und das Blau fühlte sich gut an».

Da ist man doch ein wenig baff, dass der Roman seinem Protagonisten nicht ein bisschen mehr entgegen­setzt. Die Klimakrise bleibt hier bis zur Schluss­szene vor allem Kulisse: eine ziemlich lästige Beeinträchtigung des Alltags, aber ansonsten wenig verknüpft mit der eigentlichen Erzählung. Und dann, als beide Ebenen am Ende relativ brachial zusammen­geführt werden, wird die Hitze zugunsten des Happy End wieder aus dem Bild geschoben.

Maris’ Roman ist weder Klimadystopie noch -utopie, sondern will im Grunde eine ganz andere Geschichte erzählen. Im Kontrast zeigt das Happy End von «Hitzewelle» aber doch auch, was literarische Utopien, entgegen einem verbreiteten Vorurteil, nicht definiert: ein unwahrscheinliches, aber «gutes» Ende.

Utopien sind nicht die literarische Antwort auf das (nachvollziehbare) Bedürfnis, man möge doch beim Thema Klimakrise auch endlich mal was Positives sagen. Wenn es etwa bei Kim Stanley Robinson um den erfolgreichen Kampf gegen die Klima­erwärmung geht, dann werden dabei konkrete, aus dem Stand der gegenwärtigen Diskussion gegriffene politische Konzepte aufgegriffen und in eine alternative Zukunft überführt. Im Modus der Fiktion malt Robinson nicht fantasievoll erfundene, sondern durchaus «realistische» Handlungs­optionen unserer Wirklichkeit aus.

Aber Literatur, die keine rein instrumentelle Kunst sein will, ist auch nicht bloss die erzählerisch attraktive Umsetzung von ausser­literarisch angefertigten politischen Programmen. Wenn die Literatur ihre ureigenen Möglichkeiten ausschöpft, bedeuten künstlerische Bearbeitungen der Klimakrise eben immer auch: Auseinander­setzung mit Sprache. Mit einer formalen, kompositorischen Dimension, die sich nicht in Plotlines erschöpft und die die Klimakrise nicht einfach als Kulisse und «Thema» herbeizieht. Sondern die damit verbundenen Fragen mit ästhetischen Mitteln durchdringt.

Wenn Passivität (und das Gefühl von Lähmung) eines der Haupt­probleme im Umgang mit der Klimakrise ist, dann geht es in der Literatur vielleicht weniger um Belehrung als vielmehr um die Aktivierung der Leserin. Dazu braucht es nicht zwangsläufig die grossen Form­experimente, sondern Erzähl­weisen, die, wie bei Franziska Gänsler, den Leser in einen aktiven Deutungs- und Sinngebungs­prozess hineinholen. Mit Unter­forderung und falschem Trost geht das jedenfalls nicht. Eher mit einem Vertrauen darauf, dass gerade im aktiven Begreifen, in einem ebenso sinnlichen wie kognitiven Verstehen so etwas wie Empowerment liegt, das dem omnipräsenten Ohnmachts­gefühl entgegenwirkt.

Literarische Arbeit an der Sprache heisst aber auch: Arbeit an und mit den Worten. Das zeigt besonders anschaulich ein letztes Beispiel aktueller Klima­romane.

«Der Stoff, aus dem die Tränen sind» heisst der neue Roman der US-Autorin Alexandra Kleeman, und er spielt genau dort, wo Amerikas Traum­fabrik und die Realität grossflächiger Wald­brände aufs Engste beieinander­liegen: in Kalifornien. Kleeman spielt auch genau mit diesem assoziativen Zusammen­prall. Ihr Text um einen East-Coast-Schriftsteller, der mit naiven Hoffnungen zur Verfilmung seines Romans nach Hollywood reist, ist einerseits eine Satire auf die Film­industrie. Andererseits gehört der Roman in das Genre, das man in Hollywood selbst mit Vorliebe inszeniert: die Apokalypse. Umso ironischer, dass die Figuren trotzdem zwischen sich und dem sie längst umgebenden Flammeninferno keine Verbindungs­linie ziehen.

Die Spannung zwischen den beiden Ebenen des Textes verliert leider dadurch an Kraft, dass Kleeman die Satire um die Ober­flächlichkeit der Traum­fabrikanten insgesamt zu klischeehaft und erwartbar gerät. Stark ist allerdings, wie sie die Absurditäten menschlicher Verdrängungs­akrobatik und die frappante Anpassungs­fähigkeit des Spät­kapitalismus in Szene setzt – und ihr eindrücklichster Kniff ist dabei ein dezidiert sprachlicher. Was nämlich in Kleemans Kalifornien die Menschen trinken, was aus den Lösch­fahrzeugen kommt, was den einen fehlt und den anderen dazu dient, ihre Pools zu füllen, ist seit der Hitze und der Privatisierung der Grund­versorgung nicht mehr Wasser, sondern «WAT-R»: eine künstlich hergestellte, virtuos vermarktete Flüssigkeit, aus der sich eine ellenlange Produkt­palette speist. «WAT-R»: eine winzige sprachliche Verfremdung, mit der Kleeman in leitmotivischer Regel­mässigkeit die frappierendsten Effekte generiert.

Beispiele für solche Wort­kreationen, in denen sich ein ganzer Gedanken­prozess verdichtet, sammelt auch die Ausstellung im «Strauhof». Etwa diese grossartige Meditation über das Wort climate change aus einem Interview mit Margaret Atwood:

I think calling it climate change is rather limiting. I would rather call it the everything change (…).

(By the way: Wie würden Sie das übersetzen?)

Wert gelegt hat man im «Strauhof» auch darauf, dass die eigene Schau möglichst ressourcen­schonend ausfällt: durch kreative Wieder­verwendung früherer Ausstellungs­materialien, kurze Transport­wege, recyclingfähige Stoffe und einen gestalterischen Minimalismus, der auf das Wesentliche fokussiert.

Womit wir mittendrin in der Branchen­diskussion wären. Denn auch im Buchmarkt lassen sich neue Entwicklungen in Sachen Klimaschutz beobachten – und vollziehen sich doch in sehr verschiedenen Geschwindigkeiten.

2. Die Bücher

Kurze Umfrage: Kennen Sie das FSC-Zeichen? Das Cradle-to-Cradle-Symbol? Das Ökosiegel «Blauer Engel»?

Und falls Sie gerade ein paar Ihrer Bücher zur Hand haben: Finden Sie eines dieser Zeichen darin?

Dazu gleich mehr. Vorher aber soll vom Kjona-Verlag die Rede sein, dessen Gründung vor kurzem für einiges Aufsehen im Literatur­betrieb gesorgt hat und der im Januar 2023 mit dem ersten Programm für Literatur und Sachbuch an den Start geht.

Die Kernidee der Verlags­gründung lautet: Nach­haltigkeit auf allen Ebenen. Womit dann auch ein Begriff im Zentrum des Unter­nehmens­konzeptes steht, der üblicher­weise mit geradezu schillernder Unbestimmtheit durch den Diskurs wabert. Nach­haltigkeit finden ja irgendwie alle gut, nicht nur die ökologisch Progressiven: In konservativen Ohren hört man da deutlich das Versprechen auf Bewahrung, unter sozialer Nach­haltigkeit werden faire Arbeits­bedingungen gefasst und beim Stichwort finanzielle Nachhaltigkeit können neuerdings sogar Wirtschafts­liberale eifrig nicken. «Nachhaltigkeit» ist so etwas wie die Jamaika-Ampel­koalition der Klimadebatte. In dieser Unschärfe des Begriffs liegt entweder die grosse Unverbindlichkeit – oder das Verbindende.

Lars Classen und Flo Keck, die beiden Gründer von Kjona, sagen jedenfalls sehr genau, was sie unter Nachhaltigkeit im Buchmarkt verstehen. Sämtliche Kjona-Bücher sollen im Cradle-to-Cradle-Druck­verfahren hergestellt werden, also ausschliesslich mit Materialien, die vollständig recycelbar sind: keine Lacke oder schadstoff­haltige Druck­farben. Keine Plastik­folie, keine Schutz­umschläge. Rückstands­frei recycelbares Papier, schonender Umgang mit Wasser. Der Grund­gedanke: sämtliche Schad­stoffe aus dem Prozess nehmen; Buch­produktion als Kreislauf­wirtschaft. Gemeinwohl­orientierung und faire Honorar­anteile für Autorinnen.

Dazu gehört auch, die Infra­struktur des eigenen Unter­nehmens möglichst vollständig auf Ressourcen­schonung aufzubauen, vom Ökostrom bis zur klima­neutralen Telefonie. Was nicht zuletzt bedeutet, Kooperations­partner zu suchen, die ähnliche Ideen vorantreiben. Kjona arbeitet zum Beispiel mit der Druckerei Gugler zusammen, die seit Jahren zu den Pionierinnen im Bereich Cradle-to-Cradle gehört (und darin mit der Langnauer Druckerei Vögeli auch eine Schweizer Verbündete hat).

Warum das alles dringlich ist, lässt sich in Zahlen vor Augen führen:

  • In einem vom deutschen Umwelt­bundesamt heraus­gegebenen Leitfaden für Druck­erzeugnisse heisst es: «Um eine Tonne Frischfaser­papier herzustellen, benötigt man 5,5 Kubikmeter Holz und etwa genauso viel Energie wie für die Herstellung einer Tonne Primär­stahl. Weltweit werden rund 40 Prozent des industriell genutzten Holzes zur Herstellung von Papier verwendet.»

  • Laut Angaben des Schweizer Vereins Ecopaper beträgt der Papier­verbrauch hierzulande im Schnitt 185 Kilo pro Kopf – und zwar jährlich. (Ein Glück für uns Literatur­kritiker, werden wir nicht gesondert ausgewiesen.)

Ressourcenschonung war deshalb schon lange ein Thema in der Buch­branche, ist allerdings erst in den letzten Jahren verstärkt in den grossen Publikums­verlagen angekommen.

Einer der Vorreiter und Haupt­treiber dieser Entwicklung war und ist der kleine Oekom-Verlag in München, dessen gesamtes Programm sich um Ökologie und Nach­haltigkeit dreht. Im vergangenen Jahrzehnt ist Oekom auch zu einem Netzwerk und Zentrum für Fragen der umwelt­schonenden Buch­herstellung geworden, wo vieles von dem, was branchenweit an Wissen zusammen­getragen wurde, in Broschüren und Strategie­papieren zum sogenannten Green Publishing gebündelt ist.

Tatsächlich hat die Diskussion der letzten Jahre zu einigen markanten Veränderungen geführt:

  • Weniger Plastik: Die Einschweiss­folie zum Schutz von Hardcover-Büchern ist weitgehend passé. Nachdem Bonnier als erste grosse Verlags­gruppe öffentlichkeits­wirksam den Verzicht auf die Plastikfolie angekündigt hatte, sprach sich Ende 2018 auch der Verleger-Ausschuss für diesen Schritt aus; die anderen grossen Verlags­gruppen und viele andere zogen nach.

  • Klimaneutralität: Das Prinzip ist vom Fliegen bekannt. Wo Flüge unvermeidlich sind, können Reisende zumindest durch Investitionen in Klimaschutz­projekte ihre Emissionen kompensieren. Auf dieselbe Weise verfolgen die Verlage zunehmend das Ziel, ihre Bücher klimaneutral zu produzieren – und weisen das auch in ihren Büchern und auf ihren Websites aus. Will heissen: Man versucht, den ökologischen Fussabdruck zu reduzieren, und leistet in dem Mass, in dem das noch nicht gelingt, Kompensations­zahlungen, etwa an Aufforstungs­projekte. In den letzten gut zwei Jahren ist Klima­neutralität zum erklärten Ziel in allen grossen Konzern­verlagen geworden und wird bereits mehr oder weniger konsequent umgesetzt. Das gilt auch für eigenständige Häuser wie etwa Suhrkamp oder den Zürcher Kampa-Verlag mit seinem Taschenbuch­programm.

Hinzu kommt etwas Grund­sätzlicheres: ganzheitliches Denken. Egal, mit wem man aus der Buch­branche spricht, die Frage, wie sich auch der Büro- und Literaturbetriebs­alltag ressourcen­schonend gestalten lässt, scheint überall ein Thema.

Es ist also einerseits ganz richtig, wenn Lars Classen mit Blick auf das Nachhaltigkeits­konzept seines neuen Verlages sagt: «Wir sind weder die Ersten noch die Einzigen.» Neu sind an Kjona nicht die einzelnen Ideen, sondern dass hier zum ersten Mal im deutsch­sprachigen Raum Nachhaltigkeit zur zentralen Marken­botschaft eines Literatur­verlags wird.

Andererseits: In vielerlei Hinsicht steht die Branche noch immer am Anfang.

Als Anke Oxenfarth, seit 2011 Inhaberin der Stabs­stelle Nachhaltigkeit im besagten Oekom-Verlag und eine der meist­gefragten Expertinnen zum Thema, im September bei den Digitalen Buchtagen des Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verbands (SBVV) ein Impuls­referat gab, war nicht zu überhören, dass sie sich in den letzten zehn Jahren ein deutlich höheres Tempo bei den Veränderungen gewünscht hätte. Gegenüber der Republik sagt Oxenfarth: «Die Verlags­branche fängt an aufzuwachen» – aber das «Gros der Branche» mache «gerade mal so viel wie unbedingt nötig».

In der Tat bleibt die Realität bisher weit hinter dem zurück, was sich in den Leitfäden zum nachhaltigen Publizieren findet.

Zum Beispiel die Umwelt­zertifikate. Stark verbreitet (und bei vielen Verlagen im Impressum abgedruckt) ist lediglich das FSC-Mix-Label für Papier «aus kontrollierten Quellen». Bücher, die nach den höchsten Standards zertifiziert sind – etwa mit «FSC-Recycling» oder dem «Blauen Engel» –, sind zumindest im Erwachsenen­segment der Publikums­verlage absolute Raritäten.

Unter Schweizer Verlagen hat beispielsweise der Arche Literatur Verlag einen «Blauen Engel» bekommen – für seine Kalender. Der Limmat-Verlag bekam das Siegel kürzlich für den dritten Band seiner Reihe «Liechtenstein erzählen»; der Berner Haupt-Verlag für seine beiden «Slowflower»-Bücher über nachhaltigen Blumen­anbau. Kurz: Im Buchbereich, wo die umfassenden Kriterien für den «Blauen Engel» schwieriger zu erfüllen sind als etwa bei Zeitschriften, handelt es sich bisher um ein absolutes Nischen­phänomen. Und kommt meist überhaupt nur dann zum Tragen, wenn das Buchthema selbst ein solches Engagement nahelegt.

Hinzu tritt das grundsätzliche Problem, dass die allermeisten Leserinnen ohnehin noch nie von solchen Ökosiegeln gehört haben dürften – und dass die Lage durch immer neue, auch von Verlagen selbst kreierte Logos nicht übersichtlicher wird. Für die Berner Verlegerin Patrizia Haupt ist deshalb auch entscheidend, dass kein «Label-Wildwuchs» entsteht – sondern ein übersichtlicher, von unabhängiger Seite geprüfter Standard, an dem Buch­käuferinnen sich verlässlich orientieren können. Das sieht Anke Oxenfarth ähnlich: «Staatlich geprüfte Umwelt­zeichen mit transparenten Kriterien» wie der «Blaue Engel» trennten «die Spreu vom Weizen».

Zweiter Punkt: das Selbst­verständnis. Aus manchen Verlags­häusern hört man auf Nachfrage ein selbst­bewusstes «Wir sind doch längst nachhaltig» – mit Verweis auf FSC-Standard und Folien­verzicht. Das sind fraglos wichtige Schritte. Aber auch schon das Ziel?

Der deutsche Börsenverein und der Schweizer SBVV haben inzwischen Arbeits­gruppen zur Nachhaltigkeit eingerichtet, um das Thema branchenweit stärker zu verankern. Das sei, so Anke Oxenfarth, «ein dringend nötiger Schritt», reiche aber nicht aus. Es brauche eine «flankierende Gesetz­gebung, die echtes nachhaltiges Engagement von Unter­nehmen fördert».

Dass jedenfalls das Engagement in Sachen Klima­schutz auch fürs Image als immer wichtiger erachtet wird, lässt sich an der Aussen­darstellung der Verlage erkennen, die oft umfangreich Auskunft auf ihren Websites geben.

Allerdings lohnt auch da ein genauer Blick.

Die Verlagsgruppe Holtzbrinck zum Beispiel verweist auf den Umzug des renommierten, zur Gruppe gehörigen Rowohlt-Verlags, der vom Traditions­standort Reinbek 2019 in ein kernsaniertes Gebäude in der Hamburger City zog. «Da das alte Gebäude in Reinbek wenig klimaeffizient war, werden nun 90’000 Liter Heizöl pro Jahr eingespart», schreibt Holtzbrinck. Das ist natürlich sehr erfreulich, zeigt aber zugleich: Grosser relativer Fortschritt kann auch dadurch zustande kommen, dass die Bilanz zuvor besonders mies war.

Über die Anstrengungen bei Kiepenheuer & Witsch erfährt man unter anderem: «Der Verbrauch von Zucker­tütchen wurde durch Einführung von Zucker­streuern reduziert.» Das haben nicht die hauseigenen Satiriker Jan Böhmer­mann oder Joachim Meyerhoff geschrieben, sondern steht ebenfalls auf der Holtzbrinck-Website.

Nun sollte man, gerade mit Blick auf ganzheitliche Lösungen, nicht über die kleinen Schritte spotten, die es ebenso braucht. Aber angesichts des Gewichts von Holtzbrinck im deutsch­sprachigen Literatur­betrieb darf man schon fragen, ob es vielleicht an der Zeit ist, dass die grossen Häuser für ihre Erfolgs­meldungen noch ein Schippchen Ehrgeiz drauflegen.

Die Zuckertütchen sind jedenfalls ein eher süsser Makel im Vergleich zu dem, was Peter Haag, Verleger von Kein & Aber in Zürich, auf Anfrage der Republik zum Thema Nachhaltigkeit zu sagen hat. Eines der zentralen Probleme sei die «Über­produktion» im Buchmarkt, «wo ein Verschleiss sonder­gleichen herrscht». «Mindestens ein Viertel der deutsch­sprachigen Neu­erscheinungen könnte man getrost weglassen», so Haag weiter. «Sich fürs Wesentliche zu entscheiden», habe «nämlich auch viel mit Nachhaltigkeit zu tun.»

Das mag zugespitzt sein. Aber Haag benennt hier den Elefanten im Raum. Dass mit 70’000 Neuerscheinungen jedes Jahr allein im deutsch­sprachigen Raum ein riesiges Zuviel herrsche, mit dieser Einschätzung ist Haag sicher nicht allein; das Problem wird vielmehr schon seit Jahren diskutiert. Nur: eine Lösung dafür hat bislang noch niemand gefunden. Sie kann natürlich auch nicht darin bestehen, dass irgendeine zentrale Instanz entscheidet, was wegkann und was nicht. Die einzige Option bleibt eine sinnvolle Selbst­regulierung der Player.

Vielleicht könnte dafür eine nützliche Faustregel lauten: Schluss mit der Lieblosigkeit! So manches, was an Büchern gemacht wird, folgt nur einer Binnenlogik einer angeblich festen Zahl an Programm­plätzen, die es zu füllen gilt. Viele Autorinnen können ein Klagelied davon singen, dass ihr Buch ohne spürbares Engagement von Vertrieb und Presse­abteilung auf den Markt kommt – nicht aus bösem Willen, sondern weil schlicht die Kapazitäten gar nicht da sind. Büchern, für die sich aber schon im eigenen Verlag kaum jemand ins Zeug legt, bleibt in einem unübersichtlichen Markt oft nur das Schicksal als Teil einer Spekulations­masse – es könnte ja für irgendeines dieser Bücher der grosse Überraschungs­erfolg kommen.

Nur so als Experiment: Lesen Sie mal fünf oder sechs Verlags­vorschauen der grossen Publikums­häuser hintereinander weg – und Ihnen kommt Haags These von der Über­produktion womöglich nicht unplausibel vor. Der immer gleiche einfallslose Superlativ­sound, die Baukasten­prosa des Marketing­sprechs, die Austauschbarkeit so mancher Bücher, die da angepriesen werden. Und an anderer Stelle dann wieder Vorschau­texte und Präsentationen, denen man sofort anmerkt, dass da Menschen Herzblut investiert haben. Warum das nicht schon bei der Akquisition zum Massstab machen?

Die Dekarbonisierung der Produktions­kette: Vielleicht hat sie tatsächlich in erster Linie mit einem Fokus aufs Wesentliche zu tun. Die durch den Krieg ausgelöste Energiekrise und der derzeitige Papiermangel machen die Ausgangs­lage ganz sicher nicht einfacher – und doch zeigt sich darin nur umso drastischer, dass Ressourcen­schonung das Gebot der Stunde ist.

Auch wir Leserinnen und Leser haben es ein Stück weit in der Hand.

«Ich bin überzeugt», schreibt Verlegerin Patrizia Haupt in einer Mail, «dass die Leserschaft auch immer stärker auf eine nachhaltige Produktion Wert legt und sich entsprechend daran orientiert.» Mag sein, dass das bisher noch ein wenig wishful thinking ist. Aber die Leserinnen könnten daran arbeiten, dass Haupt recht behält: indem sie nachhaltige Produktion einfordern und wertschätzen – und im Zweifel auch bereit sind, dafür höhere Buch­preise zu akzeptieren.

Die Klimaerhitzung nur als Thema von Büchern zu verstehen, ohne die materielle Dimension des Buchmarkts mitzudenken, würde jedenfalls einen neuen, gegenwarts­vergessenen Ästhetizismus bedeuten – und ein ziemliches Glaubwürdigkeits­problem. Die Klimakrise der Literatur dürfte Leser, Autorinnen und Bücher­menschen noch nachhaltig beschäftigen.