Die Klimakrise der Literatur
Wie schreibt man über den drohenden Klimakollaps? Die Gegenwartsliteratur kennt darauf sehr verschiedene Antworten. Aber wie steht es eigentlich um die Klimabilanz der Buchbranche selbst?
Von Daniel Graf (Text) und María Jesús Contreras (Illustration), 26.10.2022
Als der Schweizer Autorinnen-Verband A*dS Anfang Oktober im Stadttheater Olten zu einem Symposium über Literatur in Zeiten der Klimakrise lud, wollte der deutsche Schriftsteller Juan S. Guse mit seinem Eröffnungs-Input nicht allzu lange bei literarischen Zukunftsentwürfen verweilen. Stattdessen formulierte er eine andere Vision.
Wie wäre es, fragte Guse in die Runde, wenn man, so als Beitrag zur Ressourcenschonung, einfach gar keine gedruckten Bücher mehr produzierte? Wenn man angesichts von all dem «Zeug, das da durch die Welt gefahren» werde, einfach sagen würde: «Brauchen wir nicht – weg.» Stromintensive E-Book-Tablets? «Natürlich auch – weg.» Nur noch digitales Lesen – auf energiesparenden Screens.
Guse sprach nicht wie einer, der genüsslich eine Stinkbombe in den Saal schmeisst und bei den Anwesenden auf die Entgleisung der Gesichtszüge wartet. Vielmehr stand da jemand auf der Bühne, der ernsthaft hadernd und suchend triftige Fragen aufwarf. Und dabei die landläufige Trennung nicht akzeptierte: hier die ästhetischen, da die materiellen Fragen.
Auf der einen Seite also: Wie muss man heute von der Klimakrise sprechen und erzählen? Welche Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen hat die Literatur?
Auf der anderen Seite: Wie sieht es eigentlich mit dem ökologischen Fussabdruck des Buchmarkts aus? Was wäre zu tun, damit der immense Ressourcenverbrauch von Papierindustrie und Verlagsbranche signifikant zurückginge – und ebenjene Literatur so klimafreundlich wie möglich in die Hände ihrer Leserinnen gelangte?
Die zweite Hälfte dieses Fragenkatalogs wird unter Autorinnen und Lesern bislang eher selten diskutiert. Besonders selten, so viel Selbstkritik muss sein, in den Feuilletons.
Dabei drängt sich, ganz im Sinne von Guses inspirierender Provokation, der Gedanke auf, dass es womöglich nicht mehr reicht, sich als Büchermensch nur für den textlichen Part zu interessieren. Dass sich mit zunehmender Dringlichkeit auch die Frage nach den Produktionsbedingungen stellt. Dass also die Frage nach der Klimakrise in der Literatur eine doppelte ist. Und wenn man sich ein paar der neuesten (sowie einige ältere) Entwicklungen im deutschsprachigen Literaturbetrieb ansieht, wird deutlich: Eine ganze Menge Leute nehmen längst eine solche Doppelperspektive ein.
Die Republik hat in den vergangenen Wochen mit zahlreichen Branchenvertreterinnen über die Themen Klimaschutz und Nachhaltigkeit im Buchmarkt gesprochen, sich auf Konferenzen und in Ausstellungen umgesehen und nicht zuletzt: neue Klimaromane gelesen.
Das Ergebnis ist dieser Streifzug durch das Themenfeld entlang zweier Perspektiven: Wie begegnet Literatur als Kunstform der Klimakrise? Und wie verhindert man, dass Literatur als Ware zur Klimakrise beiträgt?
1. Die Texte
Wenn in einem Roman ein Hotel samt dem zugehörigen Kurort den Namen «Bad Heim» trägt, kann man fast darauf wetten, dass da nur das Grauen zu Hause sein kann. Doch die Hölle, das sind hier nicht die anderen, wie denn auch? Es ist gar niemand da. Seit Monaten schon wird das Gebiet von einem verheerenden Hitzesommer heimgesucht, und weil gleich hinter dem Fluss die Waldbrände toben, stehen nicht nur die Hotelzimmer von Iris leer. Bis Dorota, eine junge Mutter, ohne Voranmeldung mit ihrer drei- oder vierjährigen Tochter auftaucht, bei Iris eincheckt und mit ihrem kleinen Rollkoffer auch ein grosses Geheimnis aufs Zimmer zu schleppen scheint.
Franziska Gänslers Debütroman handelt nicht nur von apokalyptischen Feuern. «Ewig Sommer» ist auch ein mit viel Spannung und dramaturgischer Finesse erzähltes Familiendrama, eine Aufbruchs- und aussergewöhnliche Dreiecksgeschichte.
Gänsler erzählt doppelspurig: die Geschichte der Hitzebrände und die Geschichte von Dorota. Schon mit diesem scheinbar einfachen Ausgangssetting führt die Autorin eine grundlegende Erkenntnis vor: Die Klimakrise ist, bis es zum Äussersten kommt, fast immer nur die «andere», die zweite Katastrophe. Sie ist der Hintergrund, vor dem sich die persönlichen Dramen unseres Alltags abspielen. Ja, Gänsler setzt noch eines drauf: Es sind die Brände, die den Ort für Dorota überhaupt erst zu einem Zufluchtsort machen, weil man sie dort, im ascheüberzogenen Katastrophengebiet, samt Kind am wenigsten vermutet. «Irgendetwas fürchtete sie», lässt Gänsler ihre Erzählerin Iris rätseln, «irgendetwas fürchtete sie mehr als den Brand, die schlechte Luft.»
So wie Iris ihren Gast beobachtet und zu entschlüsseln versucht, so macht der Roman auch uns als Lesende zu Beobachterinnen der Figuren und ihrer Bewältigungsstrategien. Und so wie die beiden Handlungsstränge, das grosse und das kleine Drama, sich wechselseitig bespiegeln, entwickelt der Roman seine Kraft aus den Spannungen zwischen grossem und kleinem Bildausschnitt. Wenn die Bewohner von Bad Heim an den Fluss als Schutz- und Trennlinie glauben («Die Feuer bleiben auf der anderen Seite»), wenn sie ihr Mantra sprechen, man müsse nur ausharren, bis endlich Regen komme, dann ahnen wir als Lesende bereits, dass es anders kommen dürfte. Wir erkennen die Irrtümer von Iris – und erkennen uns in ihr wieder. Wir lernen die Figuren zu lesen – und in Wirklichkeit die eigene Psychologie.
«Ewig Sommer» ist ein Roman über die Psychologie der Verdrängung, aber auch ein Text über Solidaritätserfahrung sowie die – genutzten und verpassten – Möglichkeiten individueller Handlungsmacht.
Das verbindet ihn mit einem Text, der 100 Jahre älter, derzeit aber ganz neu in der Zürcher Altstadt zu entdecken ist.
Unter dem Titel «Climate Fiction» hat das Literaturmuseum Strauhof eine klug komponierte Ausstellung zu Klimaliteratur zusammengestellt – und der Coup darin ist ein bisher viel zu wenig beachteter Roman von Charles Ferdinand Ramuz: «Présence de la mort» von 1922. In der Westschweiz 2009 nochmals in kleiner Neuauflage herausgekommen, wird der Roman kommendes Frühjahr in der Übersetzung von Steven Wyss erstmals auf Deutsch erscheinen. Im «Strauhof» kann man bereits jetzt Auszüge aus Original und Übersetzung lesen und vor allem hören, vor einem lodernden Sonnenball sitzend. Denn auch Ramuz’ Roman handelt von einer Hitzekatastrophe und ist ein Paradebeispiel für literarische Imaginationskraft, die Jahrzehnte später als prophetisch erscheint. (Weshalb wiederum das literaturwissenschaftliche Projekt Cassandra «Literatur als Frühwarnsystem» verstehen will.)
Von den Klimawissenschaften unserer Tage hat Ramuz natürlich noch nichts wissen können. Ihm genügte vielmehr der Hitzesommer 1921 am Genfersee, um sich gedanklich die Konsequenzen einer noch sehr viel radikaleren Temperatursteigerung auszumalen, bis zur Vision einer nicht mehr bewohnbaren Welt. Und was soll man sagen? Der Mann kannte sich aus mit der menschlichen Psychologie. Das hartnäckige Leugnen und Verdrängen, wie man es zuletzt etwa in der Corona-Krise erlebte – es sind dieselben Mechanismen, die schon Ramuz beschreibt.
Literarisch bemerkenswert ist der Roman aber auch, weil Ramuz in hemmungsloser Klangpoesie Schrecken und Schönheit aufeinanderzwingt. Sein Text ist ein Schwanengesang: eine Feier des Lebens und der Schönheit der Erde – bis diese in der Sonne untergeht.
Dieser dystopischen Vision ist in der Ausstellung ein zeitgenössischer utopischer Entwurf gegenübergestellt. «Das Ministerium für die Zukunft» des US-amerikanischen Science-Fiction-Autors Kim Stanley Robertson beginnt zwar ebenfalls mit dem Szenario einer Umweltkatastrophe («Die Stadt war eine Leichenhalle»). Der 700-Seiten-Roman um eine in der Schweiz angesiedelte Uno-Institution für die Rechte zukünftiger Generationen erzählt nach dem Anfangskapitel aber keine Geschichte von unaufhaltsamer Verheerung. Sondern davon, wie es der Menschheit bis 2070 gelingt, die globale Erwärmung zu stoppen.
So inszeniert die «Strauhof»-Ausstellung Utopie und Dystopie als die beiden Pole der Klimaliteratur – und zeigt in zahlreichen weiteren Beispielen auch das breite Spektrum dazwischen.
Was aber leisten die scheinbar grundverschiedenen Ansätze von Utopie und Dystopie? Was ist die Aufgabe, was sind die Möglichkeiten der Literatur? Was hat das mit Vorstellungen vom guten oder schlechten Ende zu tun?
Auch vor diesem Hintergrund ist der Blick auf zwei kürzlich in Schweizer Verlagen erschienene Romane erhellend.
Die Zürcher Autorin Fabienne Maris, die unter ihrem bürgerlichen Namen Larissa Tschudi als Journalistin tätig ist, hat mit «Hitzewelle» ihren ersten Roman vorgelegt. Er spielt ebenfalls in einem Hitzesommer, erzählt aber vor allem die Geschichte einer Lebenskrise.
Jonathan ist 35, arbeitet im Gemeindearchiv, und sein Alltag ist mindestens so gleichförmig wie die Aktenreihen, die er digitalisieren soll. Nachdem er bei einer Umfrage zu sozialen Aktivitäten mitgemacht hat, trifft ein Brief vom Gesundheitsministerium ein. «Sozial weitgehend isoliert», lautet der Befund, man bezahle ihm eine dringend nahegelegte Vorsorgeuntersuchung bei einer Therapeutin. So beginnt Jonathans Beschäftigung mit der eigenen Einsamkeit. Während die Temperaturen den Menschen die Schweissperlen treiben, zeigen sich jedoch all jene, die die soziale Kälte bekämpfen sollen, besonders unterkühlt. Und Jonathans Wegweiserin aus der Vereinsamung sitzt dann auch nicht im Therapeutensessel, sondern im Supermarkt an Kasse 18.
Maris’ in einfachen Sätzen und kurzen Kapiteln erzählte Liebesgeschichte ist am stärksten, wo ihr mit einem lakonischen Humor plastische Figurenzeichnungen und kleine Alltagsszenen gelingen. Jonathans innere Verwandlung als Hauptstrang der Erzählung hingegen bleibt zu oft mehr behauptet als ins Bild gesetzt. Und dann, als Jonathan im Schlusskapitel staunend auf das unverhoffte Liebesglück mit Laura blickt, sinniert er: Die Hitzewelle «kam wie aus dem Nichts, und jetzt ist sie wieder weg. Einfach so. Ob sie wirklich echt war, spielt keine Rolle. Sie hat ihre Funktion erfüllt.» Es folgt, immerhin, ein kurzer Einspruch von Laura, ehe Jonathan noch einmal resümiert, für ihn persönlich habe die Hitzewelle die Bedeutung eines Weckrufs aus der Einsamkeit gehabt. Er blickt in Lauras Gesicht und «in den Himmel über ihr». Dann endet es, «und das Blau fühlte sich gut an».
Da ist man doch ein wenig baff, dass der Roman seinem Protagonisten nicht ein bisschen mehr entgegensetzt. Die Klimakrise bleibt hier bis zur Schlussszene vor allem Kulisse: eine ziemlich lästige Beeinträchtigung des Alltags, aber ansonsten wenig verknüpft mit der eigentlichen Erzählung. Und dann, als beide Ebenen am Ende relativ brachial zusammengeführt werden, wird die Hitze zugunsten des Happy End wieder aus dem Bild geschoben.
Maris’ Roman ist weder Klimadystopie noch -utopie, sondern will im Grunde eine ganz andere Geschichte erzählen. Im Kontrast zeigt das Happy End von «Hitzewelle» aber doch auch, was literarische Utopien, entgegen einem verbreiteten Vorurteil, nicht definiert: ein unwahrscheinliches, aber «gutes» Ende.
Utopien sind nicht die literarische Antwort auf das (nachvollziehbare) Bedürfnis, man möge doch beim Thema Klimakrise auch endlich mal was Positives sagen. Wenn es etwa bei Kim Stanley Robinson um den erfolgreichen Kampf gegen die Klimaerwärmung geht, dann werden dabei konkrete, aus dem Stand der gegenwärtigen Diskussion gegriffene politische Konzepte aufgegriffen und in eine alternative Zukunft überführt. Im Modus der Fiktion malt Robinson nicht fantasievoll erfundene, sondern durchaus «realistische» Handlungsoptionen unserer Wirklichkeit aus.
Aber Literatur, die keine rein instrumentelle Kunst sein will, ist auch nicht bloss die erzählerisch attraktive Umsetzung von ausserliterarisch angefertigten politischen Programmen. Wenn die Literatur ihre ureigenen Möglichkeiten ausschöpft, bedeuten künstlerische Bearbeitungen der Klimakrise eben immer auch: Auseinandersetzung mit Sprache. Mit einer formalen, kompositorischen Dimension, die sich nicht in Plotlines erschöpft und die die Klimakrise nicht einfach als Kulisse und «Thema» herbeizieht. Sondern die damit verbundenen Fragen mit ästhetischen Mitteln durchdringt.
Wenn Passivität (und das Gefühl von Lähmung) eines der Hauptprobleme im Umgang mit der Klimakrise ist, dann geht es in der Literatur vielleicht weniger um Belehrung als vielmehr um die Aktivierung der Leserin. Dazu braucht es nicht zwangsläufig die grossen Formexperimente, sondern Erzählweisen, die, wie bei Franziska Gänsler, den Leser in einen aktiven Deutungs- und Sinngebungsprozess hineinholen. Mit Unterforderung und falschem Trost geht das jedenfalls nicht. Eher mit einem Vertrauen darauf, dass gerade im aktiven Begreifen, in einem ebenso sinnlichen wie kognitiven Verstehen so etwas wie Empowerment liegt, das dem omnipräsenten Ohnmachtsgefühl entgegenwirkt.
Literarische Arbeit an der Sprache heisst aber auch: Arbeit an und mit den Worten. Das zeigt besonders anschaulich ein letztes Beispiel aktueller Klimaromane.
«Der Stoff, aus dem die Tränen sind» heisst der neue Roman der US-Autorin Alexandra Kleeman, und er spielt genau dort, wo Amerikas Traumfabrik und die Realität grossflächiger Waldbrände aufs Engste beieinanderliegen: in Kalifornien. Kleeman spielt auch genau mit diesem assoziativen Zusammenprall. Ihr Text um einen East-Coast-Schriftsteller, der mit naiven Hoffnungen zur Verfilmung seines Romans nach Hollywood reist, ist einerseits eine Satire auf die Filmindustrie. Andererseits gehört der Roman in das Genre, das man in Hollywood selbst mit Vorliebe inszeniert: die Apokalypse. Umso ironischer, dass die Figuren trotzdem zwischen sich und dem sie längst umgebenden Flammeninferno keine Verbindungslinie ziehen.
Die Spannung zwischen den beiden Ebenen des Textes verliert leider dadurch an Kraft, dass Kleeman die Satire um die Oberflächlichkeit der Traumfabrikanten insgesamt zu klischeehaft und erwartbar gerät. Stark ist allerdings, wie sie die Absurditäten menschlicher Verdrängungsakrobatik und die frappante Anpassungsfähigkeit des Spätkapitalismus in Szene setzt – und ihr eindrücklichster Kniff ist dabei ein dezidiert sprachlicher. Was nämlich in Kleemans Kalifornien die Menschen trinken, was aus den Löschfahrzeugen kommt, was den einen fehlt und den anderen dazu dient, ihre Pools zu füllen, ist seit der Hitze und der Privatisierung der Grundversorgung nicht mehr Wasser, sondern «WAT-R»: eine künstlich hergestellte, virtuos vermarktete Flüssigkeit, aus der sich eine ellenlange Produktpalette speist. «WAT-R»: eine winzige sprachliche Verfremdung, mit der Kleeman in leitmotivischer Regelmässigkeit die frappierendsten Effekte generiert.
Beispiele für solche Wortkreationen, in denen sich ein ganzer Gedankenprozess verdichtet, sammelt auch die Ausstellung im «Strauhof». Etwa diese grossartige Meditation über das Wort climate change aus einem Interview mit Margaret Atwood:
I think calling it climate change is rather limiting. I would rather call it the everything change (…).
(By the way: Wie würden Sie das übersetzen?)
Wert gelegt hat man im «Strauhof» auch darauf, dass die eigene Schau möglichst ressourcenschonend ausfällt: durch kreative Wiederverwendung früherer Ausstellungsmaterialien, kurze Transportwege, recyclingfähige Stoffe und einen gestalterischen Minimalismus, der auf das Wesentliche fokussiert.
Womit wir mittendrin in der Branchendiskussion wären. Denn auch im Buchmarkt lassen sich neue Entwicklungen in Sachen Klimaschutz beobachten – und vollziehen sich doch in sehr verschiedenen Geschwindigkeiten.
2. Die Bücher
Kurze Umfrage: Kennen Sie das FSC-Zeichen? Das Cradle-to-Cradle-Symbol? Das Ökosiegel «Blauer Engel»?
Und falls Sie gerade ein paar Ihrer Bücher zur Hand haben: Finden Sie eines dieser Zeichen darin?
Dazu gleich mehr. Vorher aber soll vom Kjona-Verlag die Rede sein, dessen Gründung vor kurzem für einiges Aufsehen im Literaturbetrieb gesorgt hat und der im Januar 2023 mit dem ersten Programm für Literatur und Sachbuch an den Start geht.
Die Kernidee der Verlagsgründung lautet: Nachhaltigkeit auf allen Ebenen. Womit dann auch ein Begriff im Zentrum des Unternehmenskonzeptes steht, der üblicherweise mit geradezu schillernder Unbestimmtheit durch den Diskurs wabert. Nachhaltigkeit finden ja irgendwie alle gut, nicht nur die ökologisch Progressiven: In konservativen Ohren hört man da deutlich das Versprechen auf Bewahrung, unter sozialer Nachhaltigkeit werden faire Arbeitsbedingungen gefasst und beim Stichwort finanzielle Nachhaltigkeit können neuerdings sogar Wirtschaftsliberale eifrig nicken. «Nachhaltigkeit» ist so etwas wie die Jamaika-Ampelkoalition der Klimadebatte. In dieser Unschärfe des Begriffs liegt entweder die grosse Unverbindlichkeit – oder das Verbindende.
Lars Classen und Flo Keck, die beiden Gründer von Kjona, sagen jedenfalls sehr genau, was sie unter Nachhaltigkeit im Buchmarkt verstehen. Sämtliche Kjona-Bücher sollen im Cradle-to-Cradle-Druckverfahren hergestellt werden, also ausschliesslich mit Materialien, die vollständig recycelbar sind: keine Lacke oder schadstoffhaltige Druckfarben. Keine Plastikfolie, keine Schutzumschläge. Rückstandsfrei recycelbares Papier, schonender Umgang mit Wasser. Der Grundgedanke: sämtliche Schadstoffe aus dem Prozess nehmen; Buchproduktion als Kreislaufwirtschaft. Gemeinwohlorientierung und faire Honoraranteile für Autorinnen.
Dazu gehört auch, die Infrastruktur des eigenen Unternehmens möglichst vollständig auf Ressourcenschonung aufzubauen, vom Ökostrom bis zur klimaneutralen Telefonie. Was nicht zuletzt bedeutet, Kooperationspartner zu suchen, die ähnliche Ideen vorantreiben. Kjona arbeitet zum Beispiel mit der Druckerei Gugler zusammen, die seit Jahren zu den Pionierinnen im Bereich Cradle-to-Cradle gehört (und darin mit der Langnauer Druckerei Vögeli auch eine Schweizer Verbündete hat).
Warum das alles dringlich ist, lässt sich in Zahlen vor Augen führen:
In einem vom deutschen Umweltbundesamt herausgegebenen Leitfaden für Druckerzeugnisse heisst es: «Um eine Tonne Frischfaserpapier herzustellen, benötigt man 5,5 Kubikmeter Holz und etwa genauso viel Energie wie für die Herstellung einer Tonne Primärstahl. Weltweit werden rund 40 Prozent des industriell genutzten Holzes zur Herstellung von Papier verwendet.»
Die Papierindustrie ist einer der grössten industriellen Energieverbraucher weltweit und der drittgrösste in der EU.
Laut Angaben des Schweizer Vereins Ecopaper beträgt der Papierverbrauch hierzulande im Schnitt 185 Kilo pro Kopf – und zwar jährlich. (Ein Glück für uns Literaturkritiker, werden wir nicht gesondert ausgewiesen.)
Ressourcenschonung war deshalb schon lange ein Thema in der Buchbranche, ist allerdings erst in den letzten Jahren verstärkt in den grossen Publikumsverlagen angekommen.
Einer der Vorreiter und Haupttreiber dieser Entwicklung war und ist der kleine Oekom-Verlag in München, dessen gesamtes Programm sich um Ökologie und Nachhaltigkeit dreht. Im vergangenen Jahrzehnt ist Oekom auch zu einem Netzwerk und Zentrum für Fragen der umweltschonenden Buchherstellung geworden, wo vieles von dem, was branchenweit an Wissen zusammengetragen wurde, in Broschüren und Strategiepapieren zum sogenannten Green Publishing gebündelt ist.
Tatsächlich hat die Diskussion der letzten Jahre zu einigen markanten Veränderungen geführt:
Weniger Plastik: Die Einschweissfolie zum Schutz von Hardcover-Büchern ist weitgehend passé. Nachdem Bonnier als erste grosse Verlagsgruppe öffentlichkeitswirksam den Verzicht auf die Plastikfolie angekündigt hatte, sprach sich Ende 2018 auch der Verleger-Ausschuss für diesen Schritt aus; die anderen grossen Verlagsgruppen und viele andere zogen nach.
Klimaneutralität: Das Prinzip ist vom Fliegen bekannt. Wo Flüge unvermeidlich sind, können Reisende zumindest durch Investitionen in Klimaschutzprojekte ihre Emissionen kompensieren. Auf dieselbe Weise verfolgen die Verlage zunehmend das Ziel, ihre Bücher klimaneutral zu produzieren – und weisen das auch in ihren Büchern und auf ihren Websites aus. Will heissen: Man versucht, den ökologischen Fussabdruck zu reduzieren, und leistet in dem Mass, in dem das noch nicht gelingt, Kompensationszahlungen, etwa an Aufforstungsprojekte. In den letzten gut zwei Jahren ist Klimaneutralität zum erklärten Ziel in allen grossen Konzernverlagen geworden und wird bereits mehr oder weniger konsequent umgesetzt. Das gilt auch für eigenständige Häuser wie etwa Suhrkamp oder den Zürcher Kampa-Verlag mit seinem Taschenbuchprogramm.
Öko-Siegel: Analog zum Bio- oder Fairtrade-Siegel im Supermarkt sind in den letzten Jahren neue Öko-Siegel für nachhaltige Buchproduktion entstanden, zum Beispiel das Cradle-to-Cradle-Logo oder der «Blaue Engel für Druckerzeugnisse», dessen Vergabe von einer unabhängigen Jury geprüft wird.
Hinzu kommt etwas Grundsätzlicheres: ganzheitliches Denken. Egal, mit wem man aus der Buchbranche spricht, die Frage, wie sich auch der Büro- und Literaturbetriebsalltag ressourcenschonend gestalten lässt, scheint überall ein Thema.
Es ist also einerseits ganz richtig, wenn Lars Classen mit Blick auf das Nachhaltigkeitskonzept seines neuen Verlages sagt: «Wir sind weder die Ersten noch die Einzigen.» Neu sind an Kjona nicht die einzelnen Ideen, sondern dass hier zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum Nachhaltigkeit zur zentralen Markenbotschaft eines Literaturverlags wird.
Andererseits: In vielerlei Hinsicht steht die Branche noch immer am Anfang.
Als Anke Oxenfarth, seit 2011 Inhaberin der Stabsstelle Nachhaltigkeit im besagten Oekom-Verlag und eine der meistgefragten Expertinnen zum Thema, im September bei den Digitalen Buchtagen des Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verbands (SBVV) ein Impulsreferat gab, war nicht zu überhören, dass sie sich in den letzten zehn Jahren ein deutlich höheres Tempo bei den Veränderungen gewünscht hätte. Gegenüber der Republik sagt Oxenfarth: «Die Verlagsbranche fängt an aufzuwachen» – aber das «Gros der Branche» mache «gerade mal so viel wie unbedingt nötig».
In der Tat bleibt die Realität bisher weit hinter dem zurück, was sich in den Leitfäden zum nachhaltigen Publizieren findet.
Zum Beispiel die Umweltzertifikate. Stark verbreitet (und bei vielen Verlagen im Impressum abgedruckt) ist lediglich das FSC-Mix-Label für Papier «aus kontrollierten Quellen». Bücher, die nach den höchsten Standards zertifiziert sind – etwa mit «FSC-Recycling» oder dem «Blauen Engel» –, sind zumindest im Erwachsenensegment der Publikumsverlage absolute Raritäten.
Unter Schweizer Verlagen hat beispielsweise der Arche Literatur Verlag einen «Blauen Engel» bekommen – für seine Kalender. Der Limmat-Verlag bekam das Siegel kürzlich für den dritten Band seiner Reihe «Liechtenstein erzählen»; der Berner Haupt-Verlag für seine beiden «Slowflower»-Bücher über nachhaltigen Blumenanbau. Kurz: Im Buchbereich, wo die umfassenden Kriterien für den «Blauen Engel» schwieriger zu erfüllen sind als etwa bei Zeitschriften, handelt es sich bisher um ein absolutes Nischenphänomen. Und kommt meist überhaupt nur dann zum Tragen, wenn das Buchthema selbst ein solches Engagement nahelegt.
Hinzu tritt das grundsätzliche Problem, dass die allermeisten Leserinnen ohnehin noch nie von solchen Ökosiegeln gehört haben dürften – und dass die Lage durch immer neue, auch von Verlagen selbst kreierte Logos nicht übersichtlicher wird. Für die Berner Verlegerin Patrizia Haupt ist deshalb auch entscheidend, dass kein «Label-Wildwuchs» entsteht – sondern ein übersichtlicher, von unabhängiger Seite geprüfter Standard, an dem Buchkäuferinnen sich verlässlich orientieren können. Das sieht Anke Oxenfarth ähnlich: «Staatlich geprüfte Umweltzeichen mit transparenten Kriterien» wie der «Blaue Engel» trennten «die Spreu vom Weizen».
Zweiter Punkt: das Selbstverständnis. Aus manchen Verlagshäusern hört man auf Nachfrage ein selbstbewusstes «Wir sind doch längst nachhaltig» – mit Verweis auf FSC-Standard und Folienverzicht. Das sind fraglos wichtige Schritte. Aber auch schon das Ziel?
Der deutsche Börsenverein und der Schweizer SBVV haben inzwischen Arbeitsgruppen zur Nachhaltigkeit eingerichtet, um das Thema branchenweit stärker zu verankern. Das sei, so Anke Oxenfarth, «ein dringend nötiger Schritt», reiche aber nicht aus. Es brauche eine «flankierende Gesetzgebung, die echtes nachhaltiges Engagement von Unternehmen fördert».
Dass jedenfalls das Engagement in Sachen Klimaschutz auch fürs Image als immer wichtiger erachtet wird, lässt sich an der Aussendarstellung der Verlage erkennen, die oft umfangreich Auskunft auf ihren Websites geben.
Allerdings lohnt auch da ein genauer Blick.
Die Verlagsgruppe Holtzbrinck zum Beispiel verweist auf den Umzug des renommierten, zur Gruppe gehörigen Rowohlt-Verlags, der vom Traditionsstandort Reinbek 2019 in ein kernsaniertes Gebäude in der Hamburger City zog. «Da das alte Gebäude in Reinbek wenig klimaeffizient war, werden nun 90’000 Liter Heizöl pro Jahr eingespart», schreibt Holtzbrinck. Das ist natürlich sehr erfreulich, zeigt aber zugleich: Grosser relativer Fortschritt kann auch dadurch zustande kommen, dass die Bilanz zuvor besonders mies war.
Über die Anstrengungen bei Kiepenheuer & Witsch erfährt man unter anderem: «Der Verbrauch von Zuckertütchen wurde durch Einführung von Zuckerstreuern reduziert.» Das haben nicht die hauseigenen Satiriker Jan Böhmermann oder Joachim Meyerhoff geschrieben, sondern steht ebenfalls auf der Holtzbrinck-Website.
Nun sollte man, gerade mit Blick auf ganzheitliche Lösungen, nicht über die kleinen Schritte spotten, die es ebenso braucht. Aber angesichts des Gewichts von Holtzbrinck im deutschsprachigen Literaturbetrieb darf man schon fragen, ob es vielleicht an der Zeit ist, dass die grossen Häuser für ihre Erfolgsmeldungen noch ein Schippchen Ehrgeiz drauflegen.
Die Zuckertütchen sind jedenfalls ein eher süsser Makel im Vergleich zu dem, was Peter Haag, Verleger von Kein & Aber in Zürich, auf Anfrage der Republik zum Thema Nachhaltigkeit zu sagen hat. Eines der zentralen Probleme sei die «Überproduktion» im Buchmarkt, «wo ein Verschleiss sondergleichen herrscht». «Mindestens ein Viertel der deutschsprachigen Neuerscheinungen könnte man getrost weglassen», so Haag weiter. «Sich fürs Wesentliche zu entscheiden», habe «nämlich auch viel mit Nachhaltigkeit zu tun.»
Das mag zugespitzt sein. Aber Haag benennt hier den Elefanten im Raum. Dass mit 70’000 Neuerscheinungen jedes Jahr allein im deutschsprachigen Raum ein riesiges Zuviel herrsche, mit dieser Einschätzung ist Haag sicher nicht allein; das Problem wird vielmehr schon seit Jahren diskutiert. Nur: eine Lösung dafür hat bislang noch niemand gefunden. Sie kann natürlich auch nicht darin bestehen, dass irgendeine zentrale Instanz entscheidet, was wegkann und was nicht. Die einzige Option bleibt eine sinnvolle Selbstregulierung der Player.
Vielleicht könnte dafür eine nützliche Faustregel lauten: Schluss mit der Lieblosigkeit! So manches, was an Büchern gemacht wird, folgt nur einer Binnenlogik einer angeblich festen Zahl an Programmplätzen, die es zu füllen gilt. Viele Autorinnen können ein Klagelied davon singen, dass ihr Buch ohne spürbares Engagement von Vertrieb und Presseabteilung auf den Markt kommt – nicht aus bösem Willen, sondern weil schlicht die Kapazitäten gar nicht da sind. Büchern, für die sich aber schon im eigenen Verlag kaum jemand ins Zeug legt, bleibt in einem unübersichtlichen Markt oft nur das Schicksal als Teil einer Spekulationsmasse – es könnte ja für irgendeines dieser Bücher der grosse Überraschungserfolg kommen.
Nur so als Experiment: Lesen Sie mal fünf oder sechs Verlagsvorschauen der grossen Publikumshäuser hintereinander weg – und Ihnen kommt Haags These von der Überproduktion womöglich nicht unplausibel vor. Der immer gleiche einfallslose Superlativsound, die Baukastenprosa des Marketingsprechs, die Austauschbarkeit so mancher Bücher, die da angepriesen werden. Und an anderer Stelle dann wieder Vorschautexte und Präsentationen, denen man sofort anmerkt, dass da Menschen Herzblut investiert haben. Warum das nicht schon bei der Akquisition zum Massstab machen?
Die Dekarbonisierung der Produktionskette: Vielleicht hat sie tatsächlich in erster Linie mit einem Fokus aufs Wesentliche zu tun. Die durch den Krieg ausgelöste Energiekrise und der derzeitige Papiermangel machen die Ausgangslage ganz sicher nicht einfacher – und doch zeigt sich darin nur umso drastischer, dass Ressourcenschonung das Gebot der Stunde ist.
Auch wir Leserinnen und Leser haben es ein Stück weit in der Hand.
«Ich bin überzeugt», schreibt Verlegerin Patrizia Haupt in einer Mail, «dass die Leserschaft auch immer stärker auf eine nachhaltige Produktion Wert legt und sich entsprechend daran orientiert.» Mag sein, dass das bisher noch ein wenig wishful thinking ist. Aber die Leserinnen könnten daran arbeiten, dass Haupt recht behält: indem sie nachhaltige Produktion einfordern und wertschätzen – und im Zweifel auch bereit sind, dafür höhere Buchpreise zu akzeptieren.
Die Klimaerhitzung nur als Thema von Büchern zu verstehen, ohne die materielle Dimension des Buchmarkts mitzudenken, würde jedenfalls einen neuen, gegenwartsvergessenen Ästhetizismus bedeuten – und ein ziemliches Glaubwürdigkeitsproblem. Die Klimakrise der Literatur dürfte Leser, Autorinnen und Büchermenschen noch nachhaltig beschäftigen.