«Vorwürfe bewiesen»: Was im geheimen Frontex-Bericht steht
Mehr als ein Jahr ermittelte die Antibetrugsbehörde der EU gegen Frontex. Ihr Bericht belegt, dass die Kader der europäischen Grenzschutzagentur grobe Menschenrechtsverletzungen zu verantworten haben. Und diese verheimlichen wollten.
Von Carlos Hanimann und Lukas Häuptli, 13.10.2022
An der Rue Joseph II in Brüssel dreht sich alles um Missstände und Fehlverhalten. Hier befindet sich der Sitz der europäischen Antibetrugsbehörde Olaf, hier arbeiten die Korruptionsjäger der EU. Sie kommen immer dann zum Einsatz, wenn EU-Beamte betrügen, Gelder falsch einsetzen oder sich auf eine andere Weise rechtswidrig verhalten, die die EU und ihre finanziellen Mittel schädigt.
Die Olaf-Ermittler sind also einiges gewohnt. Aber sie dürften dennoch gestaunt haben, als sie vor zwei Jahren, am 8. Oktober 2020, die Post öffneten und darin gleich auf eine ganze Reihe von Unregelmässigkeiten aufmerksam gemacht wurden.
Die Vorwürfe betrafen das oberste Management der europäischen Grenzbehörde Frontex. Und sie wogen schwer. Konkret ging es unter anderem um Folgendes:
Frontex habe möglicherweise aus Überwachungsflugzeugen beobachtet, wie EU-finanzierte Schiffe illegale Pushbacks im Mittelmeer durchgeführt hätten, Asylsuchenden also das Recht auf einen Asylantrag verwehrt und sie in nicht-europäische Gewässer zurückgedrängt hätten. Die Migrationsroute über das zentrale Mittelmeer ist die gefährlichste der Welt: Allein 2020 und 2021 wurden rund 5000 Personen gezählt, die auf diesem Weg umkamen oder vermisst werden.
In einem konkreten Fall sichtete eine Frontex-Maschine 250 Flüchtende in vier komplett überfüllten Gummibooten im Mittelmeer. Doch statt dass sie gerettet wurden, wie es das internationale Seerecht vorschreibt, nahm ihre Geschichte ein verheerendes Ende.
Dabei sei das frontexinterne Büro für Grundrechtsfragen, das für die Untersuchung solcher Menschenrechtsverletzungen zuständig ist, umgangen worden.
Kurz: Frontex wurde beschuldigt, an schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen an den Aussengrenzen Europas beteiligt zu sein. Und eine hoch dysfunktionale Organisation zu sein, die sich um Standardabläufe foutiere.
Dafür verantwortlich sei das Frontex-Kader: der damalige Direktor Fabrice Leggeri, seine rechte Hand Thibault de la Haye Jousselin und Dirk Vande Ryse, der ehemalige Leiter des Frontex-Lagezentrums.
Die EU-Korruptionsjäger durchsuchten die Büros von Leggeri und seinem Team. Sie lasen private Chatnachrichten, E-Mails und interne Berichte. Sie befragten zwanzig Zeuginnen persönlich und vernahmen die Topmanager von Frontex. Nach einem Jahr intensiver Ermittlungen verfassten sie einen 129 Seiten langen, vernichtenden Bericht, der bis heute streng geheim ist. Selbst Parlamentarierinnen der EU, die selber mögliches Fehlverhalten von Frontex untersuchten, wurden im letzten Frühling nur mündlich gebrieft.
Kein Wunder: Der Olaf-Untersuchungsbericht stellt Frontex ein katastrophales Zeugnis aus, das die schlimmsten Vermutungen übertrifft. An einer Stelle heisst es: «OLAF concludes, based on the evidence collected during the investigation, that the allegations are proven.»
Auf gut Deutsch: Die Vorwürfe sind bewiesen.
Das ist erstaunlich, hatten die Frontex-Spitzen trotz zahlreicher Recherchen von Medien und Nichtregierungsorganisationen lange Zeit jedes Fehlverhalten in Abrede gestellt. Heute, zwei Jahre später, ist klar: Das waren Schutzbehauptungen.
Der geheime Olaf-Bericht wurde an den «Spiegel», «Lighthouse Reports» und das Portal «Frag den Staat» geleakt, nun konnte ihn die Republik auswerten.
Im Bericht ist die Rede von «schwerwiegendem Fehlverhalten», «fehlender Treuepflicht», «Versagen bei Führungsaufgaben»: Die Frontex-Spitze ignorierte demnach nicht nur Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen, sie war auch Komplizin. Leggeri und sein Team gaben Anweisungen wegzuschauen, um nicht Zeuge von Pushbacks zu werden, und sie vertuschten die illegalen Praktiken griechischer Grenzbeamter.
Die Republik ordnet im Folgenden die vier zentralen Sätze des Untersuchungsberichts ein.
1. «Das ist eine menschlich unverantwortliche Situation.»
Es ist Freitag, der 10. April 2020. Im Mittelmeer, irgendwo zwischen Libyen und Malta, treiben vier hoffnungslos überfüllte Gummiboote. Die rund 250 geflüchteten Menschen darauf haben Durst und Hunger. Niemand hat eine Schwimmweste.
Da sichtet ein Überwachungsflugzeug von Frontex die Boote. Die Verantwortlichen nehmen Kontakt mit den Behörden von Malta auf, schliesslich schreibt das internationale Seerecht vor, dass Menschen in Not gerettet werden müssen. Doch die maltesischen Behörden helfen tagelang nicht.
Stattdessen leiteten sie einen Teil der Geflüchteten nach Sizilien weiter. Später schreibt ein ranghoher Frontex-Manager in einer Whatsapp-Nachricht, er vermute, dass die maltesische Küstenwache sie in italienisches Gewässer geschleppt habe – um die Verantwortung an Italien abzuschieben. Er frage sich, ob man Druck auf Malta machen könnte, denn «das ist eine menschlich unverantwortliche Situation».
Die restlichen Schutzsuchenden werden von den maltesischen Behörden mit Fischkuttern eines zwielichtigen Unternehmers nach Libyen zurückgedrängt, wo es 51 völlig erschöpfte Menschen an Land schaffen. Für andere kommt jede Hilfe zu spät. Im Boot bleiben fünf Leichen liegen. Sieben weitere Menschen sind zuvor ertrunken.
Obwohl Frontex-Beamte darauf drängten, den illegalen Pushback untersuchen zu lassen, weigerten sich ihre Vorgesetzten, dies zuzulassen.
Das ist einer der Vorfälle, die im Untersuchungsbericht aufgearbeitet sind. Ein anderer trug sich am Mittwoch, 5. August 2020, zu. Ein überfülltes Gummiboot mit rund 30 geflüchteten Personen treibt in der Ägäis. Die griechische Küstenwache stoppt es, schleppt es mit ihrem Schiff in türkisches Gewässer zurück und überlässt die Menschen ihrem Schicksal.
Ein Überwachungsflugzeug von Frontex beobachtet das Ganze und hält den illegalen Pushback auf einem Video fest – doch die Verantwortlichen intervenieren nicht. Die Maschine dreht stattdessen ab. Einen Monat später zieht Frontex das Flugzeug gleich ganz aus dem Luftraum über der Ägäis ab.
2. «So vermied man, dass man sich intern mit heiklen Fällen auseinandersetzen musste.»
Das sind zwei Beispiele von vielen, die zeigen, wie die Grenzschutzagentur der EU und die Behörden ihrer Mitgliedsstaaten in den letzten Jahren an Europas Aussengrenze vorgingen. In Dutzenden, wahrscheinlich sogar Hunderten Fällen drängten sie Flüchtlinge zurück – vor allem in türkische Gewässer. Sie überliessen die Flüchtenden ihrem Schicksal und nahmen ihren Tod in Kauf.
Im Untersuchungsbericht der Antibetrugsbehörde Olaf wird dazu ein ranghoher Frontex-Manager zitiert. Er hatte in einer Aktennotiz geschrieben: «Wir haben unsere Überwachungsflugzeuge vor einiger Zeit abgezogen. Um nicht Zeuge zu werden.»
Noch expliziter wurde der gleiche Manager im Interview mit den Korruptionsjägern: «Der Abzug der Überwachungsflugzeuge diente der Absicht von Frontex, nicht Zeuge von Vorfällen und mutmasslichen Pushbacks durch Griechenland zu werden. So vermied man, dass man sich intern mit heiklen Fällen auseinandersetzen musste.»
Pushback – das steht für das Ab- und Zurückdrängen von Flüchtlingen an der EU-Aussengrenze. Die Verfasser schreiben dazu: «Eine derartige Praxis ist nach internationalem Recht illegal.»
Die Europäische Menschenrechtskonvention und das internationale Seerecht verbieten ein solches Vorgehen. Die Menschenrechtskonvention ist eine der rechtlichen Grundlagen dafür, dass jede Migrantin Zugang zu einem Asylverfahren haben muss. Das internationale Seerecht wiederum schreibt vor, dass Menschen in Not gerettet werden müssen.
3. «Die drei Frontex-Manager stellten nicht sicher, dass die Vorschriften im Umgang mit schwerwiegenden Vorfällen eingehalten werden.»
Der Untersuchungsbericht bestätigt, was NGOs und Medien in den letzten Jahren immer wieder recherchiert und dokumentiert haben: An den Aussengrenzen der Europäischen Union führten Frontex und ihre Mitgliedsstaaten systematisch illegale Pushbacks durch.
Was zum System gehörte – und was der Bericht jetzt ebenfalls bestätigt: Frontex schaute bei den Pushbacks nicht nur weg, sondern vertuschte sie aktiv.
So klassifizierte Frontex den beschriebenen Fall vom 10. April 2020, bei dem mehrere Menschen starben, intern als «SIR-2», also als serious incident oder schwerwiegenden Vorfall der Kategorie 2. Und nicht, wie es Vorschrift gewesen wäre, als schwerwiegenden Vorfall der Kategorie 4.
Was sehr technisch klingt, war ein einfaches Täuschungsmanöver: Bei Vorfällen der Kategorie «SIR-2» geht es um Fälle «von hohem öffentlichem und politischem Interesse», bei jenen der Kategorie 4 jedoch um Fälle «mit möglichen Grundrechtsverletzungen und möglichen Verletzungen von internationalen Schutzbestimmungen».
Mit anderen Worten: Frontex klassifizierte den Vorfall nicht als Pushback. Und das laut Untersuchungsbericht in zahlreichen Fällen. Andere klassifizierten die Verantwortlichen gar nicht und verhinderten so weitere Abklärungen.
Der Grund dafür: Pushbacks – oder: schwerwiegende Vorfälle der Kategorie 4 – wären im Büro der Grundrechtsbeauftragten von Frontex gelandet und dort genauer untersucht worden. Die Grenzbehörde der EU hätte unter Umständen öffentlich Rechenschaft ablegen müssen.
Doch vom Grundrechtsbüro, das wird im Untersuchungsbericht deutlich, hielten die Frontex-Manager sehr wenig.
Für die Antibetrugsbehörde Olaf ist deshalb klar: «Die drei Frontex-Manager stellten nicht sicher, dass die Vorschriften im Umgang mit schwerwiegenden Vorfällen eingehalten werden.»
4. «Ich denke, ich werde etwas einbauen, um die Segelfahrten des Grundrechtsbüros runterzufahren.»
Frontex ist in den letzten Jahren massiv gewachsen. Und so soll es auch weitergehen: In den nächsten fünf Jahren soll die Grenzschutzagentur von 1500 auf 10’000 Beamte ausgebaut werden; dafür braucht es eine Erhöhung des Budgets auf mehr als 5 Milliarden Franken. Auch die Schweiz beteiligt sich finanziell und personell an diesem Ausbau. Dem hat die Stimmbevölkerung diesen Frühling deutlich zugestimmt.
Frontex unterhält denn auch eine Vielzahl von Unterabteilungen – unter anderem das Grundrechtsbüro. Als 2020 und 2021 besonders viele Pushback-Fälle in der Ägäis medial publik wurden und Frontex in die Kritik geriet, hätte dieses eine wichtige Rolle spielen können. Doch die Frontex-Spitzen verhinderten das.
Obwohl das Grundrechtsbüro sich immer wieder nach Vorfällen erkundigte, erhielt es nur ungenügende, häufig auch gar keine Antwort von den Verantwortlichen. So war das auch bei einem schwerwiegenden Vorfall, der als SIR 11095 bei Frontex abgelegt wurde: In der Nacht vom 18. auf den 19. April 2020 beobachtete ein Frontex-Überwachungsflugzeug in der Ägäis, wie die griechische Küstenwache ein Gummiboot mit etwa 30 Flüchtlingen an Bord in türkische Küstengewässer schleppte und dort ohne Motor treiben liess.
Der Fall machte Leggeri und seinem Team monatelang Probleme – auch weil das Grundrechtsbüro die Fallunterlagen einsehen wollte, insbesondere die Videoaufnahmen des Flugzeugs, die eine mögliche Menschenrechtsverletzung dokumentierten.
Doch die Frontex-Spitzen wollten die Aufklärung verhindern und verweigerten die Auskunft: Statt die Videos an das interne Grundrechtsbüro weiterzuleiten, prüften sie, ob man die gesamten Unterlagen als geheim klassifizieren könnte, «damit man jedes Leak (strafrechtlich) verfolgen könnte».
Drei Monate später wusste das Grundrechtsbüro noch immer nicht, ob es die geforderten Unterlagen erhalten würde. E-Mails, die die Antibetrugsbehörde Olaf gefunden hat, deuten allerdings darauf hin, dass die Frontex-Verantwortlichen keinerlei Absicht hatten, dem Büro Zugang zu den kompromittierenden Videoaufnahmen zu gewähren.
Schliesslich dauerte es fast ein Jahr, bis das Grundrechtsbüro die Videos im März 2021 zu sehen bekam. Ähnlich war es auch in mehreren anderen Fällen, die die Antibetrugsbehörde untersuchte.
Warum das Grundrechtsbüro einen so schweren Stand bei der Frontex-Führung hatte, zeigt ein Mailwechsel, den die Antibetrugsbehörde in ihrem Bericht zitiert. Ein Frontex-Verantwortlicher schreibt darin, er werde in einer Rede eine Tirade gegen den Gesetzgeber einbauen, der aus Frontex «ein Schmugglertaxi» machen wolle: «Ich denke, ich werde etwas einbauen, um die Segelfahrten des Grundrechtsbüros runterzufahren.»
Vermutlich hielt er die Rede dann nicht ganz so, wie er sie ankündigte. Denn er setzte ein Smiley hinter den Satz. Aber die Aussage zeigt, welche Grundeinstellung bei den Frontex-Oberen vorherrschte.
Und was hat das alles mit der Schweiz zu tun?
Die Schweiz ist seit 2011 Teil von Frontex. Sie leistet Zahlungen an die EU-Behörde und stellt eigene Grenzbeamte zur Verfügung. Der Bund will seinen jährlichen Frontex-Beitrag bis 2027 von 24 auf 61 Millionen Franken erhöhen und für die Behörde fast sieben Mal mehr Beamte abstellen als heute.
Zudem sitzen im Verwaltungsrat von Frontex zwei Vertreter des Bundes. Diese hätten sich immer wieder für die Einhaltung der Grundrechte eingesetzt, sagte SVP-Bundesrat Ueli Maurer vor der Abstimmung im letzten Mai. Allerdings zeigte ein Blick in Protokolle der Verwaltungsratssitzungen, dass ihr Einsatz doch eher begrenzt war. Neunmal tagte das Gremium 2020, als es in der Ägäis und im Mittelmeer zu zahlreichen illegalen Pushbacks kam. Die beiden Schweizer Vertreter im Verwaltungsrat äusserten sich aber lediglich vereinzelt zu Grundrechtsfragen.
Schluss
Am 27. April dieses Jahres publizierte die Republik eine gemeinsame Recherche mit «Lighthouse Reports», SRF «Rundschau», «Spiegel» und «Le Monde», für die sie eine frontexinterne Datenbank ausgewertet hatte und enthüllte damit das wahre Ausmass der illegalen Pushbacks in der Ägäis.
Tags darauf fand eine Sitzung des Frontex-Verwaltungsrats statt, bestehend aus Vertretern der Mitgliedsstaaten. Thema war dabei der Bericht der Antibetrugsbehörde Olaf. Rasch wurde klar, dass sich Direktor Fabrice Leggeri nicht länger würde halten können.
Der starke Mann der Grenzschutzagentur, der Frontex innert weniger Jahre von einer kleinen Behörde zur am schnellsten wachsenden EU-Agentur aufgebaut hatte, musste zurücktreten.
Einsicht oder Reue war bei Leggeri nicht zu erkennen. Im Gegenteil: Bis zum Schluss stritt er Fehlverhalten ab, selbst als die erdrückenden Beweise vorlagen, fein säuberlich aufgelistet auf 129 Seiten im Bericht der EU-Korruptionsjäger.
«Ich könnte alles widerlegen», schrieb Leggeri in einer Abschiedsnachricht an seine Mitarbeiter. Das war schon damals grober Unfug. Aber jetzt kann das erstmals auch die Öffentlichkeit nachlesen – schwarz auf weiss.
Wie es zu dieser Recherche kam
Im Dezember 2020 leitete das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (Olaf) eine Untersuchung gegen Frontex ein. Der daraus resultierende Bericht gilt nach wie vor als streng geheim. Im Sommer wurde er an den «Spiegel», «Lighthouse Reports» und das Portal «Frag den Staat» geleakt. Der «Spiegel» hat ihn nun mit ausgesuchten europäischen Medien geteilt: «The Guardian» in Grossbritannien, «El Pais» in Spanien, «Der Standard» in Österreich, «Domani» in Italien und der «Republik» in der Schweiz. Die involvierten Medien haben ihre Recherchen alle gleichzeitig am Donnerstag, 13. Oktober, um 11 Uhr publiziert. Auf der Website des «Spiegels» ist zudem eine abgetippte, gut 120 Seiten lange Version des Berichts im Wortlaut zu lesen.