Nicht mehr als eine Wiese mit nettem Panorama? Bei der Alpjerung im Wallis soll eines der grössten alpinen Solarprojekte der Schweiz entstehen.

Platz da für Öko­strom

Alpine Solaranlagen und Stauseen in geschützten Gebieten: Mit der Energiekrise gerät die Umwelt unter Druck. Ist es akzeptabel, besonders wertvolle Landschaften zu opfern?

Von Florian Wüstholz (Text) und Daniela Kienzler (Bilder), 13.10.2022

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
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Auf einer abgelegenen Alpwiese weit oberhalb des Walliser Dorfs Gondo ziehen sich rund zwanzig Aktivistinnen leuchtrote Westen an und rollen Plakate aus. Sie haben Absperr­band und Baulampen dabei, mit denen sie vor einer «Gross­baustelle» im Niemands­land warnen, während sie auf ihren Plakaten eine «wildnis­verträgliche Energiewende» fordern. Es ist der 13. August 2022, und die Aktivisten der Umweltschutz­organisation Mountain Wilderness protestieren auf über 2000 Metern über dem Meer gegen die Solar­anlage, die hier entstehen soll: Gondosolar.

Am gleichen Tag ist auch SP-Nationalrat Roger Nordmann auf die Alpjerung nahe der italienischen Grenze gewandert, gemeinsam unterwegs mit anderen Mitgliedern der SP-Bundeshaus­fraktion. Begleitet werden sie vom Besitzer der Wiese, auf der bald eines der ersten grossen alpinen Solarprojekte gebaut werden soll. Dieser zeigt ihnen die Gegend und erklärt, was geplant ist – als die beiden Gruppen aufeinandertreffen.

Für Nordmann ist es ein seltsamer Moment – denn der SP-Nationalrat ist einerseits ein Solar­experte, andererseits auch Mitglied von Mountain Wilderness. Doch als er den hoch­alpinen Protest sieht, ist er enttäuscht: Er sagt: «Diese Fundamental­opposition ist eine sehr engstirnige Sichtweise.»

Das zufällige Zusammen­treffen von Umwelt­schützerinnen und Befürwortern der Solar­energie an jenem Samstag ist symbol­trächtig. Denn es legt die zentrale Frage offen: Was ist stärker zu gewichten, Umwelt­schutz oder der Ausbau von erneuer­barer Energie?

«Unser grösstes Problem ist die Klima­erwärmung», sagt SP-Nationalrat Nordmann, der sich seit Jahren für den Ausbau von Solar­energie stark macht und auch ein Buch darüber geschrieben hat. «Sie zerstört die Biodiversität, sie macht unsere Umwelt kaputt und damit auch die menschlichen Lebens­bedingungen.» Dieses Problem gelte es mit allen Mitteln zu lösen. Dass dafür eine abgelegene Alpwiese überbaut würde, sei schlicht das kleinere Übel, sagt er.

Das sehen nicht alle so. Nordmanns Partei­kollegin und Pro-Natura-Präsidentin Ursula Schneider Schüttel, die mit ihm hier hoch­gewandert ist, sagt: «Es ist absurd, dass eines der ersten grossen alpinen Solar­projekte auf Frei­flächen in der hintersten abgelegenen Ecke der Schweiz gebaut wird.»

Darf nichts heilig sein, wenn es darum geht, die Energie­wende zu schaffen? Müssen auch schützens­werte Landschaften dran glauben, wenn die sichere Strom­versorgung auf dem Spiel steht?

In diesen Fragen sind sich linke Kreise nicht einig, so viel steht fest. Trotzdem warnt Marcel Hänggi von der Gletscher-Initiative vor einem zu einfachen Narrativ: demjenigen der Umwelt­schützerinnen, die angeblich die Energie­wende verhindern. Zum Teil seien es ja gerade jene Politiker, die bisher gebremst haben, die nun den Umwelt­schützerinnen die Schuld zuweisen wollen. «Die Klimakrise ist nur ein Teil der Krise im Umgang mit unserer Umwelt», sagt er. Die Energie­wende auf Kosten der Umwelt herbeiführen zu wollen, sei «ein weiterer Ausdruck einer Lebens­weise, die über die Belastungs­grenzen hinausgeht».

Doch der Konflikt zwischen Klima­schutz und Umwelt­schutz lässt sich auch politisch einfach ausspielen.

«Putsch» gegen das Umweltrecht

Anfang Jahr machte die Republik ein Strategiepapier der PR-Agentur Furrerhugi publik, das zeigte, wie sich die bürgerliche Politik diesen Konflikt zunutze machen soll. «Bürgerliche und die Wirtschaft sollen stärker im Agenda­setting werden und mehr Deutungs­hoheit zum Thema Energie­versorgung und Klima­schutz erlangen», heisst es im Papier.

Dabei geht es manchen bürgerlichen Politikerinnen primär um eine Schwächung des Natur­schutzes, der beim Ausbau von erneuerbarer Energie zurückstecken soll – zum Beispiel, wenn das Bauverbot in Biotopen von nationaler Bedeutung gestrichen wird. «Das entspricht einer Sichtweise, derzufolge Verbote immer schlecht sind und Vorschriften immer abgebaut werden sollen», sagt Hänggi.

Die Strategie ging in den vergangenen Monaten auf: So will der Bundesrat beispielsweise diesen Winter die Restwasser­menge der Wasser­kraftwerke auf das gesetzliche Minimum senken, um die Strom­produktion zu erhöhen – weshalb Fische mit weniger Wasser auskommen müssen.

Dazu kam ein regelrechter «Coup», wie es der «Tages-Anzeiger» nennt: Nachdem es in den letzten Jahrzehnten nicht möglich war, die Grimsel­staumauer zu erhöhen, und frei stehende Solar­anlagen in den Alpen höchstens unter äusserst restriktiven Bedingungen bewilligt wurden, hat das Parlament in der Herbst­session in absoluter Rekord­geschwindigkeit ein Notgesetz erlassen, das nun beides möglich macht. Gerade einmal drei Wochen dauerte der Prozess, der normalerweise drei Jahre in Anspruch nimmt. Kaum war es fertig, trat das Gesetz am 1. Oktober auch schon in Kraft.

Das Parlament handelte so überstürzt und so ausser­gewöhnlich, dass Rechts­professor Alain Griffel von einem «Putsch» gegen Umweltrecht und Verfassung sprach, während der Staats­rechtler Markus Schefer die Dringlichkeit des Vorgehens infrage stellte.

Sie habe den Eindruck, unter dem Einfluss einer Energie­mangellage sei man plötzlich bereit, alles herzugeben, sagt auch SP-National­rätin Ursula Schneider Schüttel. «Mit einem Feder­strich wird alles auf die Seite geschoben, was bis vor kurzem eine Errungenschaft war.»

Der Druck auf Umwelt und Landschaft im Kontext der erneuerbaren Energien ist nicht neu. Mit der 2017 verabschiedeten «Energie­strategie 2050» gilt der Ausbau der erneuerbaren Energien als nationales Interesse und ist damit dem Schutz der Umwelt gleichgestellt. Seither müssen Nutzungs­interessen und Schutz­interessen gegeneinander abgewogen werden.

Das aber ist gar nicht so einfach. Wie soll man den Wert einer Wiese im Wallis berechnen und gegen das Interesse an Strom aufwiegen? «Das ist sinnlos», sagt Raimund Rodewald von der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz. «Es ist absurd, in diesem Kontext den Nutzen einer Landschaft zu messen.»

Selbst wie stark eine Landschaft durch ein Projekt wie Gondosolar beeinträchtigt wird, lässt sich kaum objektiv beantworten. «Die Wahrnehmung der Landschaft wird nur geringfügig beeinflusst», heisst es auf der Projektwebsite. Die geplante Anlage sei von keinem besiedelten Gebiet aus einsehbar.

Für Rodewald hingegen gehört zur Alpjerung mehr als bloss eine Wiese. Denn gemeinsam mit der Gondo­schlucht und dem schnee­bedeckten Weissmies ist sie Teil eines Landschafts­bilds. Auch der «Römerweg», ein historischer Verkehrsweg, soll hier vorbei­geführt haben. Vor allem aber ist die Alpjerung auch Zeuge eines generellen gesellschaftlichen Wandels: Innert weniger Jahrzehnte wurde aus einer wertvollen Kulturlandschaft eine ungenutzte Einöde, die jetzt als Gold­grube für Solar­energie entdeckt wurde.

«Wenn kaum jemand mehr die Natur vertritt, muss ich doch erst recht dafür einstehen», sagt Mary Leibundgut vom Grimselverein. Blick auf Weissmies (mit Wolke), Lagginhorn und Fletschhorn (v. l.).

«Dass wir in einer Energiekrise sind, schleckt keine Geiss weg», sagt Rodewald. «Und es ist klar, dass wir ein höheres Tempo an den Tag legen müssen.» Aber das Naheliegende sei, bereits überbaute Flächen zu nutzen und den «exorbitanten Strom­verbrauch drastisch zu senken». Bei der «Anbau­schlacht» in den Alpen handle es sich um «Schein­aktivismus».

Riesige Solarparks dort, wo heute Orchideen blühen

Tatsächlich scheint gerade das Solar­fieber ausgebrochen zu sein. So wurde Anfang Oktober bekannt, dass mit Vispertal-Solar am Eingang des Mattertals und im Saastal ein gigantisches Projekt geplant ist, das mit fünf Solar­feldern auf 5,7 Quadratkilometern fast 1,5 Terawattstunden Strom pro Jahr produzieren soll. Das ist etwa die Hälfte des Stromverbrauchs der Stadt Zürich. Gemäss der «NZZ am Sonntag» will eine bisher unbekannte Interessen­gemeinschaft namens Solalpine zudem den Ausbau von bis zu zehn weiteren Anlagen in den Alpen vorantreiben.

Ein weiteres alpines Solar­projekt im Wallis machte bereits in den letzten Wochen immer wieder Schlagz­eilen. Im abgelegenen Saflischtal will die Gemeinde Grengiols eine Gross­anlage auf einer Fläche von 5,6 Quadrat­kilometern bauen. Diese würde – wie auch Vispertal-Solar – zu den grössten Freiflächen­anlagen in Europa gehören. Jährlich 2 Terawatt­stunden Strom sollen in Grengiols aus Sonnen­energie produziert werden – fast so viel wie beim grössten Staudamm der Schweiz, der Grande Dixence.

Als der ehemalige SP-Präsident und Walliser Hotelier Peter Bodenmann die Idee Anfang Jahr medial lancierte, gab er ihr den Titel «Make Grengiols Great Again».

Doch es gibt ein Problem: Das Saflischtal liegt in einem regionalen Naturpark, der mit seiner einzigartigen Landschaft wirbt. «Das Saflischtal weist einen enormen Reichtum an Pflanzen auf», steht in einem Bericht des Kantons. Wer von Heiligkreuz kommt, steigt durch steile, lichte Föhren­wälder auf. Im Früh­sommer blühen hier Orchideen und Edelweiss im Überfluss. Noch heute werden auf diesen Wiesen Kühe gesömmert. Im Sommer grasen die Herden bis auf dem 2599 Meter hohen Breithorn.

Das Tal besteche durch seine Offenheit und seine Ruhe, steht im Bericht. Abgesehen von ein paar Forst­strassen und einer Käserei auf 2400 Metern gibt es hier kaum Infrastruktur. Mit dem Solar­projekt der Gemeinde Grengiols würde sich das schlagartig ändern.

Grünen-Präsident Balthasar Glättli findet das absurd. «Im Bereich alpiner Solar­anlagen findet im Moment eine völlig schiefe Diskussion statt», sagt er. Der Fokus liege auf einzelnen Prestige­projekten, deren rasche Machbarkeit kaum erwiesen sei, während das gigantische Potenzial auf den bereits überbauten Gebieten einmal mehr nicht ausgeschöpft werde. «Auch in bereits überbauten Gebieten, wie zum Beispiel an den sonnigen Fassaden im Wallis, kann solarer Winter­strom produziert werden.»

Doch etwas anderes gibt Glättli noch viel mehr zu denken. «Praktisch alle, die von einer Strom­lücke sprechen, sehen immer nur den Ausweg, mehr zu produzieren.» Aber man könne die Lücke günstiger und rascher mit Einsparungen und Effizienz­steigerungen schliessen. «Jede Kilowatt­stunde, die wir nicht verschwenden, belastet zudem weder Umwelt noch Landschaft.»

So wollen die Grünen gemäss einem gerade publizierten Positionspapier den unverbauten Alpen­raum nur unter klaren Bedingungen hergeben: Wenn «nur geringe Konflikte zu einer landwirtschaftlichen Nutzung» bestünden, die Anlage «nahe bestehender Infrastrukturen und gut erreichbar» sei und «keinen negativen Einfluss auf die Biodiversität» habe.

Ob diese Bedingungen im Saflischtal, im Vispertal oder oberhalb von Gondo gegeben sind, ist fraglich. Landschafts­schützer Raimund Rodewald bezeichnet das Projekt in Grengiols als «Luftschloss» und sagt: «Die technische Machbarkeit ist völlig ungewiss.»

Tatsächlich wurde erst nach kritischen Medien­berichten über Gondo und Grengiols überhaupt eine Machbarkeits­studie in Auftrag gegeben. In einer Studie der ETH wurden die beiden Orte auf ihre Eignung für den Bau von Solar­anlagen untersucht. Bei beiden sind viele wichtige Kriterien nicht erfüllt: In Gondo gibt es zum Beispiel keine befahrbare Strasse in der Nähe, und an beiden Orten hätten die Panels zu wenig Abstand zu steilem, womöglich absturz­gefährdetem Gelände.

Startschuss für mehr Wasserkraft

Anderswo kennt man den Konflikt, der sich aktuell an alpinen Solar­anlagen entzündet, seit Jahren: bei der Wasserkraft. Die Strom­branche will neue Stauseen und Wasser­kraftwerke bauen. Umwelt­verbände wie der WWF wehren sich: «Mehr als 95 Prozent des nutzbaren Potenzials der Wasserkraft in der Schweiz sind bereits genutzt, die Grenze der ökologischen Belastbarkeit ist überschritten», schreibt die Umweltschutzorganisation auf ihrer Website.

Vor einem Jahr glaubte man, einen Kompromiss gefunden zu haben. Unter der Feder­führung von SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga verabschiedete ein «Runder Tisch Wasserkraft» eine Liste von 15 Wasser­kraftwerken, die genauer geprüft und möglichst schnell realisiert werden sollten. Mit dieser «15er-Liste» könnten 2 Terawatt­stunden Winter­strom produziert werden – so viel, wie auch in Grengiols geplant ist. Sogar Ursula Schneider Schüttel setzte für Pro Natura ihre Unter­schrift unter die Vereinbarung. Gleich darunter auch der CEO von WWF Schweiz.

Für viele ist diese Vereinbarung gleich­bedeutend mit einem Startschuss. GLP-Nationalrat Martin Bäumle findet, dass man mit dem runden Tisch «einen guten Weg gefunden» habe. «Die identifizierten Standorte bilden einen breiten Konsens und müssen jetzt rasch und in einem beschleunigten, aber korrekten Verfahren umgesetzt werden.»

Auch bei der SP will man vorwärts­machen. «Aus Umweltschutz­gründen sind mir ein paar grosse Wasser­kraftwerke lieber, als viele noch unverbaute Bäche und Flüsse mit Klein­wasserkraftwerken zu beeinträchtigen», sagt Nadine Masshardt, SP-National­rätin und Präsidentin des Stiftungsrats der Schweizerischen Energie­stiftung. Auch SP-Nationalrat Roger Nordmann fürchtet, dass die Alternativen für die Umwelt viel schädlicher wären. «Mit Initiativen wie jener für mehr Klein­wasserkraft werden wir den maximalen ökologischen Schaden für die minimale Strom­produktion haben. Das ist idiotisch.»

Dass der Gewässer­schutz in der Schweiz nicht gut dasteht, zeigte ein im August veröffentlichter Bericht des Bundesamts für Umwelt: «Zurzeit verbleibt bei vielen Wasser­entnahmen für die Wasserkraft­nutzung zu wenig Wasser im Gewässer», heisst es darin. «Der Lebens­raum für Pflanzen und Tiere wird dadurch stark beeinträchtigt.»

Das könnte auch am Fusse des Trift­gletschers im Berner Oberland passieren. Dort hat sich in den letzten zwanzig Jahren durch die Gletscher­schmelze mit dem Triftsee ein natürlicher See gebildet, den man gemäss «15er-Liste» gerne zu einem künstlichen Stausee aufstauen würde. Potenzial für Winterstrom: 215 Gigawatt­stunden, das ist mehr Strom, als die Gemeinde Köniz in einem Jahr benötigt (190 GWh).

Für den Grimselverein, der sich seit Jahrzehnten gegen Wasser­kraftwerke im Berner Oberland wehrt, zerstört man damit eine einzigartige ökologische Chance. Die Trift gehört «zu den letzten, raren Gewässer- und Wildnis­perlen, die für eine vielfältige Umwelt essenziell sind», schreibt der Verein auf seiner Website.

Tatsächlich entfaltet sich am Fusse des Trift­gletschers mit der Gletscher­schmelze eine seltene Situation. 1850 war der Gletscher bis zur heutigen Bergstation der winzigen Triftbahn auf rund 1500 Meter vorgestossen. Wo er sich in den folgenden Jahren zurückzog, bildete sich alpiner Rasen, auf dem noch heute Schafe sömmern. Weiter oben legte der Gletscher mit dem Graaggilamm eine über hundert Meter tiefe Schlucht frei, durch die sich das Triftwasser frisst.

Wer nach einem steilen Aufstieg auf die andere Seite des Sees wandert, kommt zu einem Delta, das jedes Jahr ein paar Meter weiter in den See hineinwächst. Der schmelzende Trift­gletscher trägt täglich neues Geschiebe in den breiten, langen Kessel, wo der Triftsee türkisblau schimmert. In einigen Jahrzehnten könnte hier eine einzigartige alpine Schwemm­ebene entstehen, wie es sie mit der Greinaebene in der Surselva oder mit dem Rosegtal im Engadin gibt.

«Alpine Schwemm­ebenen gehören zu den wertvollsten Ökosystemen, die es gibt», sagt Mary Leibundgut vom Grimselverein. Die Bäche verzweigen und mäandern und sind einem dynamischen Wandel unterworfen. Man hört das leise Rieseln der Steine. Im Hinter­grund tost der gewaltige Wasserfall des Trift­gletschers. «Viel zu wenige realisieren, wie kostbar das ist, was wir noch haben», sagt Leibundgut.

Eine 285 Meter lange Talsperre

Doch der Stausee in der Trift ist nicht das einzig umstrittene Projekt der berüchtigten «15er-Liste». Ein Stausee am Gorner­gletscher könnte mit 650 Gigawatt­stunden fast einen Drittel des zusätzlich geplanten Winter­stroms liefern.

Mit 11 Kilometern Länge und einem riesigen Einzugsgebiet ist der Gorner­gletscher der zweitgrösste Gletscher der Schweiz (nach dem Aletschgletscher) und trotz der Schmelze immer noch ein eindrückliches Natur­monument. Doch auch am Gorner gibt es ein grösseres Problem. Der Gletscher und damit auch der geplante Stausee liegen mitten in einer geschützten Landschaft von nationaler Bedeutung, die im Bundesinventar der wertvollsten Landschaften der Schweiz eingetragen ist. Das Gletscher­system in der Region um Matterhorn, Monte Rosa und Gornergrat ist eines der grössten der Schweiz. Der Gorner­gletscher schmilzt zwar jedes Jahr um einige Meter, zeichnet sich aber auch durch einzig­artige Schmelzwasser­rinnen und gigantische Seiten­moränen aus.

Zu den offiziellen Schutzzielen im Gebiet gehört es, «den wilden und ursprünglichen Charakter der Hochgebirgs­landschaft» sowie die «Ökosysteme der Gewässer und des Ufer­bereichs sowie die Qualität der Fliess­gewässer» zu erhalten.

Entsprechend quer in der Landschaft steht der Plan, hier einen Stausee zu bauen. Bereits 2030 soll eine 85 Meter hohe und 285 Meter lange Talsperre stehen – wenn alles nach Plan läuft. Mit anderen Worten: Wenn die Umweltverbände keinen Strich durch die Rechnung machen. Dann liesse sich für rund 250 Millionen Franken im Winter Strom für 600’000 Haushalte produzieren. Für die Energie­wende fast zu schön, um wahr zu sein.

SP-Nationalrat Roger Nordmann war mit seiner Fraktion auch am Gorner­gletscher. Er beurteilt den Standort als «ökologisch unbedenklich». Und sagt: «Früher war dort ein Gletscher und kein Leben.» Zudem wäre der Stausee kaum sichtbar in der Landschaft.

Für Landschafts­schützer Rodewald hingegen wäre ein Stau­damm in einer solchen Monumental­landschaft eine «Verbanalisierung». Auch den Hinweis, dass der Gletscher mit der Schmelze doch immer mehr verschwinde, lässt er nicht gelten. «Der ursprüngliche Gletscher ist imaginär noch immer da. An den Moränen sieht man die eindrücklichen Spuren der Vergangenheit. Diese geologische Kraft geht an niemandem spurlos vorbei.»

So spitzt sich an den geplanten Stauseen in der Trift und am Gornergletscher der Konflikt zwischen Umweltschutz und Klimaschutz zu. Auf der einen Seite stehen Politikerinnen wie SP-Nationalrätin Nadine Masshardt, die nebst Verbesserungen bei der Energie­effizienz einen Zubau in den Alpen für nötig halten. Sie sagt: «Zentral ist die Frage, wie wir den Eingriff für die Umwelt möglichst gering halten. Ich habe diese Offenheit, weil ich sehe, dass es nötig ist und dass wir vorwärts­machen müssen.»

Auf der anderen Seite stehen Politikerinnen wie SP-Nationalrätin und Pro-Natura-Präsidentin Ursula Schneider Schüttel. Sie sieht zwar ebenso die Notwendigkeit neuer Wasserkraft­projekte, beharrt aber darauf, in der Dringlichkeit auf keinen Fall den Natur­schutz aufzugeben: «Bevor man die Natur zerstört und irreversible Eingriffe macht, müssen wir doch fragen, ob wir überhaupt so viel Energie brauchen.»

Unter dem Druck der drohenden Strommangellage

Tatsächlich liessen sich allein in den schweizerischen Rechen­zentren gemäss Bundesamt für Energie fast eine Terawattstunde Strom pro Jahr einsparen – die Hälfte des geplanten Ausbaus der Wasserkraft. «Es macht doch keinen Sinn, die Strom­produktion massiv auszubauen, um ein ineffizientes System mit gigantischer Strom­verschwendung am Laufen zu halten», kritisiert Glättli.

Doch die Rufe nach Effizienz und Suffizienz verhallen derzeit. Und so sind viele bereit, grosse Abstriche beim Umwelt­schutz hinzunehmen, um den Ausbau der Erneuerbaren nicht zu blockieren. Denn: «Es gibt natürlich Interessen, Linke und Umwelt­verbände für die drohende Strommangel­lage verantwortlich zu machen», sagt Masshardt. «Dabei muss man die Ursache für den Rückstand bei den Erneuerbaren nicht im Umwelt- und Landschafts­schutz suchen.» Seit sie sich politisch engagiere, würden von den bürgerlichen Mehrheiten Vorstösse zur Energie­wende und für mehr Energie­effizienz blockiert. «Das Narrativ der Umwelt­schützer, die jetzt den ökologischen Umbau blockieren würden, ist viel zu einfach.»

Das grösste Problem sei die Klima­erwärmung, sagt SP-Nationalrat Roger Nordmann, dieses gelte es mit allen Mitteln zu lösen. Werde dafür eine abgelegene Alpwiese überbaut, sei dies schlicht das kleinere Übel. Alpjerung oberhalb von Gondo.

Trotzdem sehen sich die Umwelt­verbände unter Zugzwang. Nordmann warnt: «Können wir die Strom­versorgung nicht mit sauberer Energie sichern, dann werden die Energie­wende und die Dekarbonisierung nicht gelingen.» Gebe es erst einmal Strom­abschaltungen und ein mangelndes Vertrauen ins Strom­netz, kämen schnell Begehrlichkeiten nach Atom­kraft und fossiler Energie zurück.

Bäumle formuliert es noch plakativer: «Manche haben jetzt endlich gemerkt, dass sie nicht den Atom­ausstieg und Dekarbonisierung haben und jede Blumen­wiese schützen können», sagt er. Man müsse jetzt einzelne Biotope opfern und dafür andernorts mit einer Aufwertung «insgesamt eine positive Wirkung für die Umwelt erreichen».

Mary Leibundgut vom Grimselverein machen solche Sätze traurig. Es sei bekannt, dass hinter der Klima­krise bereits die Biodiversitäts­krise lauere. «Klima­schutz und Umwelt­schutz dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Wenn kaum jemand mehr die Natur vertritt, muss ich doch erst recht dafür einstehen.» Gerade im Bereich der Wasser­kraft sei der Entscheid in 95 Prozent der Fälle auf Kosten der Natur gefallen. «Da ist es doch nicht verrückt, die letzten 5 intakten Prozent schützen zu wollen.»

Mehr erneuerbare Energie und dafür alpine Landschaften überbauen und den Umwelt­schutz aushebeln? In diesem Diskurs können die Umwelt­verbände nur verlieren. Denn ein Zurück ins fossile Zeitalter liegt nicht drin. Und angesichts der drohenden Strom­mangellage scheint für viele ein rascher Zubau der einzige Ausweg. Wer nach einem Ausbau mit Bedacht ruft, wird hingegen kaum gehört – obwohl keines der umstrittenen Projekte innert nützlicher Frist ans Netz gehen wird.