Der Western wird zu ihrem Vermächtnis: Marilyn Monroe 1960 während der Dreharbeiten zu «The Misfits». Cornell Capa/International Center of Photography/Magnum Photos/Keystone

Zerstört den Mythos!

Sechzig Jahre nach Marilyn Monroes Tod bedient das neue Netflix-Biopic «Blonde» einmal mehr das Stereo­typ vom fragilen Sexsymbol, das zum Opfer wurde – und verstellt den Blick auf ihre wirkliche Grösse.

Von Andreas Furler, 01.10.2022

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Vorgelesen von Egon Fässler
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Marilyn Monroe lebte vom 1. Juni 1926 bis zum 4. August 1962. Um die 36 Jahre ihres Lebens ranken sich zahllose Legenden und ein armseliges Klischee: jenes von der berechnenden Blondine, die entweder dumm und durchschaubar ist oder klug und fatal. Geschaffen wurden diese stereotypen Rollen­bilder, die bis heute fortwirken, im Hollywood der sogenannten Studio­ära, die ungefähr von 1920 bis 1960 dauerte. Studio­ära nennt man diese Epoche, weil die grossen Filmstudios wie Metro-Goldwyn-Mayer, Warner Brothers oder 20th Century Fox ihre bestimmenden Kräfte waren. Die kreativen Köpfe – die Autoren, Regisseure, Schauspiel­stars – waren blosse Angestellte.

Das Studio­system war unter anderem deshalb so erfolgreich, weil es mit standardisierten Figuren arbeitete, die leicht zu reproduzieren waren und die das Publikum ähnlich mühelos wieder­erkennen konnte wie heute das Personal von Fernseh­serien. Den Typus der sexy Blondine etwa nannte man in der dümmlichen Ausführung bomb­shell, in der Variante mit Köpfchen femme fatale. Souveräne Frauen­figuren, die einen gleichwertigen Gegen­pol zur Welt der Männer bilden, waren hingegen eine Seltenheit. Im grossen Ganzen galt: Frauen spielen entweder als dumme Blondinen die Rolle von charmanten Idiotinnen (ein Männer­traum) oder als kluge Blondinen die Rolle von manipulativen Monstern (ein Männer­albtraum).

Marilyns Kampf gegen das Klischee

Beide Typen hat Marilyn Monroe in der ersten Hälfte ihrer Hollywood-Karriere immer wieder verkörpert, den dümmlichen etwa in Howard Hawks’ Musical «Gentlemen Prefer Blondes» (1953) und in Billy Wilders Monogamie-Satire «The Seven Year Itch» (1955), das blonde Gift im Film noir «Niagara» (1953) und schon in ihrer ersten Haupt­rolle im Psycho­drama «Don’t Bother to Knock» (1952). Beide Rollen­klischees wollte Monroe ab den mittleren Fünfziger­jahren hinter sich lassen, sich nicht mehr in zweidimensionale Schablonen zwängen lassen, sondern echte Persönlichkeiten verkörpern. Es gelang ihr nur in zwei Filmen, die ihr eigentliches Vermächtnis darstellen. Ein dritter Film, Billy Wilders Farce «Some Like It Hot» von 1959, ist ebenfalls herausragend, besticht jedoch vor allem durch sein virtuoses Spiel mit den sexistischen Stereo­typen.

Zum Autor

Der Zürcher Germanist und Historiker Andreas Furler, war langjähriger Film­kritiker bei NZZ und «Tages-Anzeiger», zuletzt als Film-Chef beim «Tages-Anzeiger». Von 2001 bis 2013 war er Co-Leiter des Zürcher Filmpodiums. 2016 initiierte er den Online-Kinoguide und die Streaming-Platfform www.cinefile.ch, die er bis 2020 leitete und nach einem kommerziellen und nervlichen Breakdown jüngst wieder­erworben hat.

Die beiden anderen Spät­werke, in denen sich Monroe ihrem eigenen Klischee widersetzte, entstanden bezeichnender­weise in geografischer und geistiger Distanz zu Hollywood: 1956 setzte sich Monroe, in dritter Ehe frisch verheiratet mit dem Dramatiker Arthur Miller, nach England ab und drehte dort «The Prince and the Showgirl», ihren subtilsten Film, der 1957 heraus­kam. 1960 verfilmte sie unter der Regie des Hollywood-Rebellen John Huston in Nevada das Psycho­drama «The Misfits», das ihr Mann für sie geschrieben hatte. Miller wollte die Augen der Welt mit diesem Stoff von Monroes physischer Attraktivität auf ihren hellwachen Geist, ihren Humor und ihre Warm­herzigkeit lenken. Die Ehe wurde 1961, im Premieren­jahr von «The Misfits», wieder geschieden, doch der Film bleibt einer der raren Vorboten eines neuen Geschlechter­verständnisses am Ende der Hollywood-Studioära.

Bösartiger Klatsch

Doch zurück zu den Klischees, denn mit Bezug auf die Person Marilyn Monroes halten sie sich hartnäckig – auch nach dem Untergang des Studio­systems. Sie nähren weiterhin die Legenden, die über Monroe ständig weitererzählt werden, obschon sich Dichtung und Wahrheit seit dem 1993 erschienenen biografischen Standardwerk von Donald Spoto («Marilyn Monroe. The Biography») eigentlich messerscharf trennen liessen.

Die sagenumwitterte Affäre mit US-Präsident John F. Kennedy beispiels­weise beschränkte sich auf eine einzige Nacht im März 1962, von der im Übrigen niemand weiss, was genau geschah. Die Affäre mit Kennedys Bruder Robert, dem damaligen amerikanischen Justiz­minister, hat es schlicht nicht gegeben – Donald Spoto weist dies Tag für Tag nach. Bar jeder Logik ist deshalb die Theorie, Monroe sei zur untragbaren Peinlichkeit für die Kennedy-Brüder, ja zum Sicherheits­risiko für die USA geworden, weil die Amts­träger zwischen den Laken Staats­geheimnisse ausgeplaudert hätten. Der Gipfel des spekulativen Unsinns ist schliesslich die These, das FBI oder die Mafia habe Monroe vorsorglich aus dem Weg geräumt.

Aber die Mythen – und die Rollen­klischees – sind offenbar nicht totzukriegen. Der Streaming­dienst Netflix hat in dieser Hinsicht vor ein paar Monaten einen neuen Richtwert der Unverfrorenheit gesetzt, als er die Doku «The Mystery of Marilyn Monroe» herausbrachte, in der alle oben erwähnten Fehl­informationen nicht bloss nachgebetet, sondern auch gleich noch mit Schau­spielern nachinszeniert werden.

Im Fall von Netflix ist auch ein kommerzielles Kalkül sehr durchsichtig: Man bereitete den Boden für das kostspielige Biopic «Blonde», das der Konzern am 28. September in die Welt­umlaufbahn geschickt hat. Dabei lohnte es sich heute noch, Marilyn Monroes komplizierte Biografie und Persönlichkeit genauer anzusehen und die Mythen endlich ad acta zu legen. Wussten Sie zum Beispiel, dass Marilyns Kindheit zwischen Waisen­häusern – gemäss einem Interview waren es deren vierzehn – eine reine Legende ist, die allerdings Monroe selbst in die Welt gesetzt hat? War Ihnen bekannt, dass Monroe weder eine Selbst­mörderin noch ein Mord­opfer war, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach aufgrund der Fahrlässigkeit ihres Psychiaters ums Leben kam? Werfen wir einen kurzen Blick auf die Stationen ihres Lebens, bevor Netflix dieses Frauen­schicksal endgültig appropriiert.

1. Juni 1926: Wie alles anfing

Norma Jeane Baker, die spätere Marilyn, kommt im Los Angeles General Hospital zur Welt. Ihre Mutter Gladys Baker, geborene Monroe, bringt aus ihrer ersten Ehe schon zwei Kinder mit, aus ihrer zweiten Norma Jeanes amtlich registrierten Nachnamen Mortensen, der erst später durch Baker ersetzt wird.

Weder der eine noch der andere Ex-Mann von Gladys ist Marilyns Vater. Zum Zeitpunkt ihrer Empfängnis ist dieses flapper girl – so nannte man in den Zwanziger­jahren junge Frauen mit wechselnden Partnern – mit mehreren Männern aus ihrem Arbeits­umfeld am Rande der Hollywood-Industrie liiert. Wer von ihnen Norma Jeanes Vater war, gilt bis heute als ungesichert, obschon ein französischer Dokumentar­film von 2012 von einer DNA-Probe berichtet, welche die Vaterschaft von Gladys damaligem Vorgesetzten Charles Stanley Gifford belegen soll – ein Umstand, den Gifford lebenslang bestritt. Monroes lebenslange Suche und Sucht nach Vater­figuren lässt sich vielleicht auch mit dieser Unklarheit erklären.

Gladys arbeitet zum Zeitpunkt von Norma Jeanes Geburt als Negativ-Cutterin bei einem Hollywood-Zulieferer und träumt wie so viele unter den 130’000 Angestellten der florierenden neuen Film­industrie vom grossen Los der Happy Few, vom Life­style der Regisseure, Produzenten und Stars mit ihren Villen, Chauffeuren, Gespielinnen und Liebhabern. Ihre Tochter tauft Gladys nach der Schauspielerin Norma Talmadge, die 1916 den heranwachsenden Studio­mogul Joseph M. Schenck geheiratet und damit ausgesorgt hat – den gleichen Schenck, der 22 Jahre später tatsächlich die junge Marilyn unter seine Fittiche nehmen sollte.

Fest steht, dass Norma Jeane für die alleinstehende und unbemittelte Gladys ein Problem war. Zwölf Tage nach der Geburt gab sie das Baby in eine Pflege­familie evangelikaler Christen, in den folgenden sieben Jahren sah Norma Jeane von ihrer leiblichen Mutter so wenig, dass die gelegentliche Besucherin für sie nur «die Frau mit den roten Haaren» war.

Kaum war Norma Jeane aus dem Kleinkind­alter, wurde sie jedoch auf doppelte Weise ins zeitgenössische Show­geschäft eingeführt. Mit ihrer Pflege­mutter besuchte sie dreimal wöchentlich eine Auferweckungs­kirche, in der effektsichere Prediger zur religiösen Unterweisung alle dramatischen Register zogen. Nahm hingegen ihre leibliche Mutter sie auf gelegentliche Ausflüge mit, so besuchten sie die 2000-plätzigen Filmtempel, die in L.A. gerade aus dem Boden schossen. Mit dem Aufkommen des Tonfilms und dem Ausbruch der Welt­wirtschafts­krise 1929 war das Publikum vollends süchtig geworden nach der neuen Unterhaltungs­religion Kino. Bis zum Aufkommen des Konkurrenz­mediums Fernsehen ging man in den USA durchschnittlich zweimal pro Woche ins Kino, heute noch zweimal pro Jahr.

Familienfluch

Hier Norma Jeanes puritanische Pflege­eltern, da ihre lebenslustige Mutter: Die wechselnden Bezugs­personen und Milieus sollten die Kindheit des Mädchens prägen. Bei den Pflege­eltern etwa wurden Kinder grundsätzlich nicht gelobt, da sie nicht auf die schiefe Bahn der Eitelkeit geraten sollten. Überhaupt lauerten Sünden und Laster an jeder Ecke, allen voran die Volks­krankheit Alkoholismus, die in den USA von 1919 bis 1933 – komplett erfolglos – mit einem allgemeinen Alkohol­verbot bekämpft wurde, sodann das neue Teufels­zeug Film, das in der Stadt der Engel immer neue zügellose Gesellen und Luxus­geschöpfe hervorbrachte, während die grosse Mehrheit der Bevölkerung unter der Great Depression mit einer Arbeitslosen­quote von bis zu 25 Prozent litt.

1933 jedoch kann Normas leibliche Mutter Gladys es sich leisten, ihre siebenjährige Tochter zu sich zu nehmen. Der frisch gewählte US-Präsident Franklin D. Roosevelt hat als erste Massnahme gegen das Elend der Wirtschafts­krise günstige Hypotheken lanciert. Gladys Kredit über 5000 Dollar reicht für ein Sechs-Zimmer-Haus in der Nähe der Freiluft­arena Hollywood Bowl. Das Mutter-Tochter-Gespann belegt zwei Zimmer, den Rest des Hauses vermietet Gladys an eine zweite Familie, die bisweilen auch Norma Jeane hütet. Findet sich keine andere Lösung, deponiert Gladys das Töchterchen im Kino. Die Sieben­jährige taucht ein in die schwerelose Welt der neuen Tonfilm-Komödien mit ihren Lebens­künstlern, in die exotischen Backstage-Musicals mit den langbeinigen Chorus-Girls, in die Schnulzen mit ihren Aufsteiger­träumen. Kino bedeutet nun definitiv nicht mehr Sünde, sondern eskapistische Lust.

Das neue Glück währt jedoch nur kurz. Wenige Monate nach Norma Jeanes Rückkehr zur Mutter findet man deren Gross­vater erhängt in der Scheune seiner bankrotten Farm. Gladys erstarrt. Schon ihr Vater und ihre Mutter haben im – vermutlich falsch diagnostizierten – Wahnsinn geendet, Gladys glaubt sich auf dem Weg ins gleiche Verderben und bricht zusammen. Ein Arzt diagnostiziert «paranoide Schizophrenie» und verschreibt starke Beruhigungs­mittel mit verheerender Wirkung. Gladys Leidens­weg durch Spitäler und Heime dauert fast bis zu ihrem Tod im März 1984, knapp 22 Jahre nach jenem ihrer weltberühmten Tochter. Letztere wird lebenslang befürchten, dass auch sie der «Familien­fluch» ereilen wird.

Es kommt zu einem weiteren jähen Wechsel in Norma Jeanes Kindheit. Gladys Busen­freundin Grace springt als Ersatz für die sedierte Mutter ein, sie ist der erste grosse Fan des aparten Mädchens und glaubt, es sei zum Filmstar geboren. Sie nimmt sie ebenfalls mit ins Kino und zeigt ihr die Diven der Zeit, allen voran Jean Harlow, die Sex­göttin der 1929 ange­brochenen Tonfilm­zeit, die schon 1937 mit 26 Jahren stirbt. «Halte den Kopf schräg, schürz die Lippen wie Jean», sagt Grace der zwölf­jährigen Norma. Vor allem soll das Mädchen stets den Busen und den Hintern zur Geltung bringen, umso mehr, als sie schon damals das Aussehen einer Sechzehn­jährigen hat. Auf ihrem Schulweg hat Norma Jeane nun eine ganze Schar kleiner und grosser Beschützer. Doch bezeichnender­weise findet auch die «Förderung» durch Grace 1938 ein schlimmes Ende. Es kommt zu sexuellen Belästigungen sowohl durch Graces neuen Freund Ervin Goddard als auch durch Norma Jeanes zwölfjährigen Cousin Jack.

Was genau bei diesen Übergriffen geschah, wissen wir bis heute nicht, aber jedenfalls wird Norma Jeane in der Folge von ihrer Pflege­mutter unverzüglich zu deren Tante Ana weitergereicht, wo sie tatsächlich ein Zuhause gefunden haben soll. Doch schon mit 16 Jahren – im gleichen Alter wie ihr Idol Jean Harlow – heiratet Norma zum ersten Mal. Die Ehe muss 1946, am Anfang von Norma Jeanes Film­karriere, allerdings eilends geschieden werden. Die Hollywood-Studios akzeptieren nur ledige Frauen in ihren Nachwuchs­pools. Die Männer aus den Teppich­etagen der Studios wollen das so.

19. Juli 1946: Kamera läuft!

Normas grosser Tag kam, als ihre Agentur­chefin ihr ein Vorsprechen beim Hollywood-Major 20th Century Fox vermitteln konnte. Die Studios führten ständig solche screen tests durch, um die anklopfenden Schulbühnen- und Abschlussball­königinnen aus den Klein­städten, Fabriken und Farmen des Landes auf ihre Leinwand­tauglichkeit zu prüfen. Norma Jeane hatte allerdings keinerlei Schauspiel­erfahrung. Vor Lampen­fieber geriet sie in Panik, entwickelte ihr lebenslanges Syndrom: Schweiss­ausbruch, rote Flecken, eine zugeschnürte Kehle. Doch man konnte sie beruhigen: Der Test war tonlos, sie musste nur etwas herumgehen, an ein imaginäres Fenster treten, sich eine Zigarette anzünden.

Und: Kaum läuft die Kamera, erstrahlt Norma Jeane zu Marilyn, wird aus dem Nerven­bündel die Souveränität selbst. Der Mann hinter der Kamera, Leon Schamroy, damals bereits ein dreifach oscar­prämierter Routinier, beschreibt es so: «Ich dachte sofort: Das wird die neue Harlow! Ihre natürliche Schönheit und ihr Minderwertigkeits­komplex verliehen ihr etwas Geheimnis­volles. Ich bekam Gänsehaut. Sie hatte diese fantastische Ausstrahlung wie einst Gloria Swanson. Und sie brachte den Sex auf den Film wie Jean Harlow. Jedes einzelne Bild glühte vor Sex-Appeal.»

Da waren nach dem screen test von Fox also drei bezauberte Studio-Routiniers – auch der Masken­bildner und der Fox-Talent­scout waren hingerissen. Doch es kam auf Darryl F. Zanuck an, den langjährigen Produktions­chef, begnadeten Produzenten und grössten Frauenjäger von Fox. Das damalige Studiosystem war ein einziges groteskes #MeToo-Klischee: Der Weg vom Talent zum Star führte meist über das Bett von Zanuck. Von Norma Jeane jedoch war er gar nicht sonderlich angetan: schon wieder eine Wasserstoff­blondine, die noch nie gespielt hatte, schon wieder kostspielige Jahre, bis man wissen würde, ob sich die Investition überhaupt auszahlt. Mit seinen Vertrauens­leuten wollte Zanuck sich aber nicht anlegen. Er gab Norma Jeane einen halbjährigen Probe­vertrag für 75 Dollar pro Woche – und bot sie während dieser Probezeit zu keinem einzigen Dreh auf.

Zanuck unterschätzte allerdings die Begeisterung seiner Mitarbeiter für ihre Neuentdeckung und erst recht den Ehrgeiz der jungen Frau. Hinter den Studio­kulissen wurde geweibelt, der Talent­scout bat die Neuerwerbung in sein Büro: «Wir brauchen einen anderen Namen für dich, Norma Jeane, wie wäre es mit Marilyn Miller?» Was der Scout nicht sagte: Marilyn Miller war der Name seiner früh verstorbenen Verlobten, eines Jungstars der Dreissiger­jahre. Sie wollte er in Norma Jeane auferstehen lassen. Doch diese hatte längst den Mädchen­namen ihrer Mutter im Kopf. Marilyn Monroe war innert Minuten geboren.

Nutzniesser und Förderer

Die junge Frau, welche die ganze Welt bald nur noch Marilyn nennen sollte, war nicht nur geboren für den Dauer­flirt mit der Kamera, sondern ungewöhnlich wissensdurstig und leistungsbereit. Konnte sie nicht drehen, lungerte sie auf dem Studio­gelände herum und fragte sämtlichen Spezialisten Löcher in den Bauch: Warum gerade diese Brennweite bei dieser Nahaufnahme? Wie moduliert man Gesichter mit Make-up? Waren alle anderen längst nach Hause gegangen, probte sie alleine weiter.

Hinzu kam die zielstrebige Arbeit am Beziehungs­netz. Von 1947 bis 1952 datete Monroe einflussreiche Fotografen, Journalisten, Agenten, Coaches, Regisseure und Produzenten. Zu ihren wichtigsten Geliebten zählten der damalige Vizechef der grossen Schauspieler­agentur William Morris, der junge Star­regisseur Elia Kazan, der betagte Fox-Vorsitzende Joseph M. Schenck, der schliesslich mitveranlasste, dass sein Produktions­chef Zanuck der Aufsteigerin Marilyn einen Vertrag für sieben Jahre gab. Das Spiel hatte sehr simple, sehr hässliche Regeln, aber Marilyn beherrschte es.

Zuallererst ein perfektes Marketing­produkt: Marilyn Monroe 1952. Philippe Halsman/Magnum Photos/Keystone

Generell waren die Geliebten der jungen Schönen ihre Förderer. Sie versorgten sie mit der richtigen Lektüre, vermittelten ihr den renommiertesten Schauspiel­lehrer des Landes, Lee Strasberg, den Guru des Method Acting, hievten das Starlet systematisch in die Presse. Noch bevor sie einen einzigen Film in einer Hauptrolle abgedreht hatte, war Monroe das meistpublizierte neue Gesicht Hollywoods: Marilyn mit Handtuch­turban in der Maske, nur mit einem Kartoffel­sack bekleidet auf dem Set des Wildwest-Musicals «A Ticket to Tomahawk» (1950), beim Einspielen eines Songs, beim Montieren eines Strassen­schilds, das ihr gewidmet war, bei der Entgegen­nahme des Preises für die beliebteste Schauspielerin der Zeitschrift «Photoplay».

Schon John Hustons Film noir «The Aspalt Jungle» von 1950 wurde ausschliesslich mit Monroes Namen vermarktet, obschon sie nur wenige Minuten darin vorkam. Als sie 1952 im Noir-Drama «Don’t Bother to Knock» ihre erste bedeutende Hauptrolle spielte, kulminierte der Trailer zum Film in der Schlagzeile «every inch a woman, every inch an actress» («jeder Zentimeter eine Frau, jeder Zentimeter eine Schauspielerin»). Am Ende des Werbe­films stand die Schlag­zeile: «Suspense fires the screen! As the most talked about actress of 1952 rockets to stardom!» («Spannung befeuert die Leinwand! Und die meistdiskutierte Schauspielerin des Jahres 1952 steigt zum Star auf!») Monroe war eine der ganz grossen Schauspielerinnen ihrer Generation. Aber noch bevor es so weit kommen konnte, war sie das perfekte Marketing­produkt.

Das Golden-Dreams-Girl

Kein Wunder, liebte man Darling Marilyn in der PR-Abteilung von Fox. Niemand gab bessere Presse­konferenzen, niemand sorgte souveräner dafür, dass ihr die Meute der Fotografen sowie der auflagestarken Kolumnisten und Klatsch­tanten aus der Hand frass. Monroes Erfolgs­formel bestand in der unberechenbaren Mischung von Naivität und Schlag­fertigkeit. Als ihr ein Journalist bei einer Presse­konferenz unterstellte, dass sie ihre Brüste auch im Alltag mit Tapes anhebe, wie es beim Drehen von Filmen üblich war, konterte sie aus dem Stegreif: «Those who know me better, know better.» («Diejenigen, die mich besser kennen, wissen es besser.»)

Allerdings gab es just in dem Moment auch ein ernsthaftes Problem. Im März 1952 tauchte in einem Pin-up-Kalender ein Nacktfoto auf, das der Fotograf Tom Kelley bereits 1949 von Monroe geschossen hatte. Für die absurde Hollywood-Doppel­moral der Nachkriegs­zeit war das ein mark­erschütternder Skandal. Die Fox-Publicity-Crew ahnte, wen so ein Foto nebst den Boulevard­blättern auf den Plan rufen würde: einerseits die katholische Legion of Decency, die Hollywood mit ihren Boykott­aufrufen gegen anstössige Filme und Stars seit den Dreissiger­jahren im Klammer­griff hatte. Und andererseits den Senator von Wisconsin, Joseph McCarthy, der die Furcht vor der kommunistischen Unterwanderung ungemein erfolgreich auf Hollywood projiziert hatte, indem er das Sünden­babel zum Haupt­verantwortlichen für den moralischen Zerfall Amerikas machte.

Da trat Monroe vor die versammelte Fox-PR-Crew und wirkte scheinbar geknickt: Ja, Tom Kelley habe die fragliche Aufnahme von ihr gemacht. Doch, fuhr sie mit Unschulds­miene fort: «I really think that Tom didn’t capture my best angle.» («Ich glaube wirklich, dass Tom nicht meine beste Seite eingefangen hat.») Schallendes Gelächter, die Kampf­moral der PR-Truppe war wiederhergestellt.

Und Monroe gab noch einen drauf. Sie gewährte der Vertreterin der Presse­agentur UPI ein Interview, das um alles kreiste, nur nicht um das Golden-Dreams-Girl. Kurz vor Ende des Gesprächs sagte die Befragte unvermittelt, sie habe ihrerseits eine Frage. Sie habe vor einigen Jahren ein Nacktfoto von sich machen lassen. Die nackte Not habe sie die Hüllen für 50 Dollar fallen lassen. Nun drohe dieses eine Foto ihre Karriere zu zerstören. Ob ihr Gegenüber, die lebenskluge Journalistin, Rat wisse.

Die «naive» Frage verlagerte die Aufmerksamkeit von Marilyns Nacktheit auf ihren Mut und ihre Aufrichtigkeit. Wer wollte jetzt noch über sie herfallen? Besser kann man eine bedrohliche Situation nicht zum eigenen Vorteil nutzen.

Virtuose Technik, maximale Authentizität

Schönheit und Ehrgeiz, Frechheit und Fleiss, Charme und Kalt­blütigkeit ergeben aber noch keine ganz grosse Schauspiel­karriere, wenn da nicht genuines Talent hinzukommt. Wie sich ihr Instinkt für Emotionen, Gesten, Mimik und Rhythmus in den Filmen niederschlägt, zeigt sich schon bei Monroes erster Haupt­rolle, in der sie einer psychopathischen Nanny eine geradezu unheimliche Authentizität verleiht, indem sie von einem Augen­blick zum nächsten völlig abrupt die Stimmung wechselt. In der Eröffnungs­nummer ihres ersten Kassen­schlagers dann, «Gentlemen Prefer Blondes», präsentiert sie sich zusammen mit ihrer Partnerin Jane Russell auf der Bühne eines Nacht­clubs als junge gold digger, die sich einen Mann mit Geld angeln will. Russell ist der etablierte Star des Films, bekommt für ihren Part 150’000 Dollar und tritt als makellose Variété-Maschine mit der Präzision und dem Charme einer Stechuhr auf. Die New­comerin Monroe neben ihr bekommt 15’000 Dollar und holt sich alle Pointen: ein Lächeln da, ein Zwinkern dort und jede Menge kleinster ironischer Gesten. Sie spielt mit dem Publikum und erobert es im Sturm.

Das Spektakel wiederholt sich im gleichen Jahr beim erotischen Thriller «Niagara» in der dramatischen Variante, wo Monroe von eisiger Berechnung bei ihrem Mann nahtlos zu hitziger Hingabe bei ihrem Geliebten übergeht. Zwei Jahre später, als Billy Wilder in «The Seven Year Itch» die monogame Heuchelei braver Ehe­männer blossstellt, ist sie schon bei der Selbst­parodie angelangt und persifliert in einem erotischen Tagtraum des Anti­helden ihr männer­gemachtes Image als Frau, die immer nur das eine will.

In der romantischen Komödie «The Prince and the Showgirl», unter der Regie von Laurence Olivier, macht sie abermals einen schauspielerischen Quanten­sprung: Die Gestik steigert sich zum dramatischen Ballett, die Mimik spiegelt in hundert Nuancen das Wechsel­bad der Gefühle. Obschon im letzten Drittel dieses 115-minütigen Pas de deux ein dramaturgisches Loch von der Grösse eines Bomben­kraters klafft, kannten Publikum und Kritik nach der Premiere des Films im Juni 1957 kein Halten mehr. Die neue, noch bezauberndere, noch subtiler agierende Monroe wurde allenthalben gefeiert. Sie aber wollte schon seit Monaten nur noch aus allem raus.

Zur Hypothek für ihre Filme geworden: Der Superstar 1955 unterwegs nach Bement, Illinois. Eve Arnold/Magnum Photos/Keystone

Just auf dem Gipfel ihres Ruhms legte Monroe mehr als zwei Jahre Pause von Hollywood ein, zog in Arthur Millers Heimat­stadt New York, liess sich dort täglich psycho­analysieren, von Lee Strasberg persönlich trainieren, wollte einstweilen nur noch Ehefrau sein und endlich Mutter werden. Auch in Hollywood gab es Leute, die über diese Abkehr nicht unfroh waren.

Drama ohne Ende

Denn spätestens seit 1955 ist Monroe nicht nur zur Erfolgs­garantie, sondern auch zur Hypothek ihrer Filme geworden. Sie ist der Super­star des Studiosystems – aber das System zerstört sie. Ihre notorische Unpünktlichkeit wird zur kosten­treibenden Dauer­belastung. Kommt hinzu, dass sie morgens Amphetamine braucht, um auf Touren zu kommen, ab dem Mittag harte Drinks, um bei Laune zu bleiben, und abends Schlaf­mittel, die damals gebräuchlichen, brandgefährlichen Barbiturate, um einigermassen zur Ruhe zu finden.

Und selbst der fatale Mix von Medikamenten und Alkohol nützt oft wenig. Monroes Angst vor ihrem vermeintlich besten Freund, der Film­kamera, lässt sie schon auf dem Dreh zum komödiantisch verbrämten Wildwest-Melo «Bus Stop» (1956) morgens kaum mehr aus dem Bett kommen. Eine fünfzig­köpfige Crew sitzt ihretwegen täglich stundenlang untätig herum. Betritt die Diva schliesslich das Set, so schiebt sie ihren persönlichen Schauspiel­coach, Lee Strasbergs zweite Frau Paula, als Bodyguard vor sich her; diese bekommt die zweithöchste Gage auf dem Set und schwingt sich zur faktischen Co-Regisseurin auf. Wird dann endlich gedreht, spielt sich Monroe erst langsam in Form und besteht nach Take 17 darauf, dass auch Take 18, 19 und 20 gedreht werden, weil sie das Optimum aus jeder Szene herausholen will.

Als Arthur Miller dieses Dauer­drama auf dem Set von «Some Like It Hot» beobachtet, sagt er dem enervierten Billy Wilder: «Meine Frau ist schwanger, bieten Sie sie doch nur noch am Vormittag auf!» – «Und wann bitte sollen wir arbeiten?», bellt Wilder zurück. «Sie taucht ja nie vor zwölf Uhr auf!» Das Kind, das damals unterwegs war, verliert Monroe. Es ist ihre zweite Fehl­geburt in der Ehe mit Miller, und diesmal, sagt ihr der Arzt, lags an ihrem Sucht­verhalten. Sie versinkt in Schuld­gefühlen und schluckt noch mehr Medikamente. Eines Morgens muss man Monroe mit lebens­gefährlichem Barbiturat-Pegel ins Spital einliefern. Schon auf dem Set zu «Bus Stop» ist das einmal passiert, auf dem Dreh von «The Misfits» wird sich die Szene wiederholen.

Zu den psychischen kommen beim Musical «Let’s Make Love» (1960) physische Krisen­symptome hinzu. Monroe hat zugenommen und Formen angenommen, die den Konventionen des Genres nicht mehr entsprechen. Bei der Eröffnungs­szene des Films werden ihre Rundungen zwar mit einem Schlabber­pulli kaschiert. Doch bei den nachfolgenden Tanz- und Gesangs­nummern sprengt sie schier das Mieder. Der Film bleibt an den Kino­kassen unter den Erwartungen. Auch der grösste Kassen­magnet der Studioära ist an der Wende zu den Sechzigern keine Erfolgs­garantie mehr.

Das Ende einer Ära

Was damals erst Insider wussten: Gleichzeitig mit Marilyn Monroe war das ganze Hollywood-Studio­system in eine Krise geraten. Das neue Konkurrenz­medium Fernsehen boomte, zudem wussten die alternden Studio­bosse die Zeichen der Zeit nicht mehr zu deuten. Landesweit füllte etwa ein New­comer namens Roger Corman mit seinen Billig­filmen über Monster, Gangster, Biker und ihre Bräute die neuen Auto­kinos. Die Studios fuhren dagegen ihre altgedienten Fregatten auf, die immer öfter Schiffbruch an den Kino­kassen erlitten: Western, aufwendige Weltkriegs- und Sandalen­filme wie der ruinöse Drei­stünder «Cleopatra» oder antiquierte Musicals wie «My Fair Lady». Bereits 1960 stand 20th Century Fox kurz vor dem Bankrott.

Monroes letzter Film, George Cukors «Something’s Got to Give», blieb 1962 unvollendet. Anders als immer wieder geschrieben, fiel er aber nicht einer ausgelaugten Haupt­darstellerin zum Opfer, sondern dem unausgegorenen Drehbuch und einer Intrige, die das neue Fox-Management nach dem Abgang von Darryl F. Zanuck und dem Tod von Joseph M. Schenk gegen seinen kapriziösen Star anzettelte: Man wusste um den pitoyablen Zustand des Scripts und des Studios und versuchte, den Abbruch der Produktion Monroe anzuhängen. Die dilettantisch aufgezogene Aktion scheiterte jedoch am Widerstand von Co-Star Dean Martin, der laut Vertrag seine Partnerin bestimmen konnte und an Monroe festhielt. Die neuen Manager mussten gehen, Zanuck kehrte aus Europa heim und holte umgehend Monroe zurück, noch immer der sicherste Wert des Studios.

Zanuck hatte guten Grund für sein entschiedenes Handeln. Monroe hatte sich bei den Szenen, die bis zum Produktions­unterbruch schon abgedreht waren, nämlich in stupender Spiel­laune und blendender physischer Verfassung gezeigt. Abermals hatte sich der Super­star verwandelt, regeneriert, scheinbar eine neue, hoffnungsvolle Phase im Leben eingeläutet.

Joe DiMaggio vs. Ralph Greenson

Nach der Scheidung von Arthur Miller im Herbst 1961 zog Marilyn Monroe zurück nach Los Angeles und kaufte sich im Stadtteil Brentwood unweit von West Hollywood ein Haus, das endlich nur ihr gehören sollte: einen relativ bescheidenen Bungalow am Ende einer Reihe von Sack­gassen, gut geschützt vor den Augen der Welt­öffentlichkeit.

Ein enger Begleiter auf diesem Weg in die Selbstständigkeit war Joe DiMaggio, der grösste amerikanische Baseball-Star der Vierziger­jahre und von 1954 bis 1955 Monroes zweiter Mann. Die Ehe war damals schnell zerbrochen, weil DiMaggio seine Frau nicht mit der ganzen Welt teilen mochte, nun aber war er zurück und stand an ihrer Seite im Kampf gegen den letzten unheilvollen Einfluss in ihrem Leben, den Psychiater Ralph Greenson.

Greenson wohnte mit seiner Familie nur eine gute Meile entfernt von Monroes Haus in Brentwood. Systematisch hatte der Arzt sich seiner Patientin bemächtigt, sie in seine eigene Familie aufgenommen, mitunter sogar in seinem Privat­haus isoliert, wo er ihren Freunden keinen Zutritt gewährte. Zudem installierte er in Marilyns Haus 1961 eine Haushälterin, die täglich an ihn rapportierte.

Greenson betreute auch andere Hollywood-Berühmtheiten und war dank Monroe zu einem der Vertrauens­ärzte von Fox geworden. Von seiner Lieblings­patientin behauptete er, sie würde am liebsten mit ihm schlafen; de facto war jedoch er so sehr von ihr besessen, dass seine Frau sagte, man könne ihn unmöglich mit Marilyn allein zu Hause lassen.

Im Mai 1962 gelang es Greensons Ehefrau allerdings, ihn auf eine fünfwöchige Ferien­reise zu lotsen. Bevor er abreiste, stellte er sicher, dass Monroe mit ihrer üblichen Medikation eingedeckt war – einem Amphetamin-Cocktail, den er als vitamin shots an die Stars weiterreichte. Kaum war Greenson weg, lebte Marilyn auf. Wochenlang kam sie ohne Schlaf­mittel aus, endlich feuerte sie die Haus­hälterin von Greensons Gnaden, die ihr ständig Besucher und Telefonate vorenthalten hatte. Die Probleme mit Fox wurden gelöst, das Drehbuch zu «Something’s Got to Give» sollte überarbeitet, der Dreh im Oktober fortgesetzt werden. Monroe nutzte die Warte­zeit, um weitere Filme aufzugleisen, darunter ihr Traum­projekt, ein Biopic über ihr frühes Vorbild Jean Harlow.

Und schliesslich war da wieder Joe, unter allen Partnern in Monroes Leben gewiss der zuverlässigste. Das Paar kam überein, es nochmals zusammen zu versuchen. Die Hochzeit sollte am 8. August 1962 stattfinden.

Die letzte Nacht

Ein letzter Showdown stand am Wochen­ende vor der Hochzeit an. Monroes Haus­hälterin hatte sich nach der Entlassung vom Mai ungefragt nochmals eingenistet, auch Greenson war von seiner Europa­reise zurück – und ahnte Unheil.

Am 4. August kam alles zusammen: Die Lieferanten brachten Hochzeits­dekor, die Haus­hälterin sollte ihre Sachen packen, blieb aber einfach im Haus sitzen, Greenson kreuzte auf, es kam zu hitzigen Diskussionen hinter verschlossenen Türen. Monroe kehrte ihrem Pseudo-Daddy an diesem Nachmittag wohl endgültig den Rücken, gegen 19 Uhr verliess dieser das Haus. Eine Dreiviertel­stunde später rief Monroe beschwingt Joe DiMaggios Sohn an, der gerade in der Nähe war, eine weitere halbe Stunde später – plötzlich völlig aufgelöst – telefonierte sie mit einem nahen Freund. Sie spürte wohl, dass etwas in ihr wirkte, über das sie keine Kontrolle hatte. Der Anruf brach ab, vermutlich gegen neun Uhr abends verstarb Marilyn Monroe.

Was war geschehen? Die Obduktion von Monroes Leiche zeigte weder Rück­stände von Schlaf­tabletten in ihrem Magen noch einen einzigen Injektions­einstich am ganzen Körper. Zu sehen waren hingegen die Spuren eines Einlaufs. Die Haushälterin Eunice Murray muss das Klistier ihrer Chefin kurz nach Greensons Abgang verabreicht haben, vermutlich auf dessen Geheiss. Es handelte sich, wie Marilyns Leber­werte belegten, um eine massive Über­dosis an Barbituraten und des Medikaments Chloralhydrat. Marilyns Psychiater wollte seine Patientin um jeden Preis sedieren, nachdem sie sich von ihm losgesagt hatte. Es gelang ihm – allerdings mit tödlichem Ausgang.

Greenson stand später mehrfach als Zeuge vor Gericht, angeklagt wurde er nie. Seine Spuren hatte er in Zusammen­arbeit mit der Haus­hälterin so gründlich verwischen können, dass sich die These von Monroes Selbst­mord schliesslich durchsetzte. Die mörderischen Folgen des Kontroll­wahns eines vermeintlichen Psycho­therapeuten des Studio­systems wurden zum Mythos von Marilyns Verrucht­heit und suizidären Tendenzen – ein letzter und scheinbar definitiver Sieg des alten Hollywood.

Netflix zum Zweiten

Und nun also «Blonde». Zum zweiten Mal beugt sich Netflix über Monroes Leiche, diesmal in Form eines aufwendigen Biopics mit dem kubanisch-spanischen Shooting­star Ana de Armas in der Titelrolle.

Der Film basiert auf dem gleichnamigen 1000-Seiten-Wälzer von Joyce Carol Oates, der es 2001 auf die Pulitzer-Shortlist schaffte. Frei von jeglichen Hemmungen fantasiert Oates in diesem Roman über Monroes Biografie, dichtet ihr als Initiation ins Studio­system etwa die Vergewaltigung durch Studio­chef Zanuck an, beschreibt eine ausgedehnte Affäre mit JFK, in der die Protagonistin permanent als «Hure des Präsidenten» apostrophiert wird.

Gott sei Dank ignoriert «Blonde» die eigene Romanvorlage zu etwa 80 Prozent. Für das Drehbuch und die Regie hat Netflix den neuseeländischen Autoren­filmer und Hollywood-Aussen­seiter Andrew Dominik verpflichtet, der in den 22 Jahren seit seinem Debüt gerade mal drei Spiel­filme und zwei Dokumentar­filme gedreht hat, darunter den bedächtigen Neo­western «The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford», der Casey Affleck 2008 eine Oscarnominierung eintrug. Dominik ist ein narrativer Phlegmatiker und zählt nur lebende Legenden wie David Lynch und Martin Scorsese sowie das Filmkunst-Kleeblatt Bergman-Kurosawa-Fellini-Kubrick zu seinen Vorbildern. Begreiflich, dass Dominik zuschlug, als ihm die viel gerühmte Freiheit der Kreativen bei Netflix winkte.

Die Nacherzählung von Monroes Leben beschränkt Dominik auf einige beispielhafte Episoden, das über dreissigteilige Film­schaffen dampft er auf drei Filme und einige Anspielungen ein. Auf die Oates-Legende von Monroes Ermordung durch einen Geheim­dienstler tritt er gar nicht erst ein, die Affäre mit JFK beschränkt sich auf eine einzige – allerdings vollkommen unglaubwürdige – Begegnung in einer Hotel­suite mit anwesendem Mitarbeiter­stab, bei der Kennedy in Boxer­shorts auf einem King-Size-Bett liegt und sich von Monroe oral befriedigen lässt, während er am Telefon darüber debattiert, wie er die drohende Enthüllung anderer Sex­geschichten verhindern kann.

Doch worum geht es Dominik? Offensichtlich, leider allzu offensichtlich nur darum, dass die Kunstfigur Marilyn Monroe im Grunde niemand anderes sein möchte als Norma Jeane und überdies am Verlust der Mutter und an der lebenslangen Absenz des Vaters leidet. Die Uralt-These vom perversen Rollen­spiel, das der gequälten Actrice – und überhaupt: uns allen! – von der Gesellschaft aufgezwungen wird, ist allerdings gerade am Beispiel Monroes ziemlich abwegig. De facto identifizierte sich Monroe so sehr mit ihrer Figur und deren Namen – immerhin dem Mädchen­namen ihrer Mutter –, dass sie sogar dessen amtliche Anerkennung durchsetzte.

Dominik schlägt uns jedoch die Nicht-Identifizierung Norma Jeanes mit Marilyn Monroe und die stets zerstörerische weibliche Selbst­entfremdung permanent um die Ohren. Damit bedient er zwar beharrlich ein feministisches Narrativ, aber er nimmt der Geschichte jede Entwicklungs­fähigkeit. Ständig repetiert Dominik die vier bis fünf gleichen Motive und verliert sich in umständlich angelegten Rück­blenden. Geschlagene 90 Minuten dauert es, bis sich endlich eine Szene einstellt – der sehr schön inszenierte Moment der Begegnung von Monroe und Arthur Miller –, die epischen Atem entfaltet, lebt, sich entwickelt. Doch dann nimmt sofort der Stilwille, sprich: der dick aufgetragene dramatische Kitsch wieder überhand.

Letztlich müssig erscheint daher auch die in den USA angelaufene Debatte, ob «Blonde» ein weiterer Monroe-Exploitation-Film mit blosser feministischer Tarn­kappe oder eine weitere Weg­marke im Kampf um Gleich­berechtigung und die Aufarbeitung des mörderischen Hollywood-Sexismus ist. Unbestreitbar erscheint, dass «Blonde» die Monroe-Klischees letztlich fortschreibt. Der Film ist eine weitere vertane Chance für einen wirklich neuen Blick auf Monroe und ihre beharrlich verkannte Grösse. Schade um den enormen Aufwand.

Monroes Erbe

Was ist von Monroe geblieben? Kommen wir ein letztes Mal auf die beiden Filme «The Prince and the Showgirl» und «The Misfits» zurück, die ihr eigentliches Vermächtnis darstellen. Im ersten erkennt sie in ihrem charmierenden Gastgeber einen Potentaten, der Opponenten in seinem Balkan-König­reich willkürlich verhaften lässt. Im zweiten geht sie als frisch geschiedene Frau in der Wüste von Nevada mit drei Cowboys auf Pferde­jagd, nur um erfahren zu müssen, dass die eingefangenen Mustangs zu Hunde­fleisch verarbeitet werden sollen.

Da wie dort hält die Frau den manipulativen und abgestumpften Männern den Spiegel vor, zunächst ein aussichtsloses Unterfangen, denn die Männer haben die Macht. Doch sie beharrt wider alle Vernunft auf ihrer Position, setzt ihnen Lebens­klugheit und Unabhängigkeit entgegen – und es geschieht etwas. Ihre Gegenüber werden weich, unter dem Einfluss der Begegnung schwindet die Selbst­gerechtigkeit, bekommen Sensibilität und Empathie eine Chance.

Die Popkultur-Ikone Marilyn Monroe war wohl das grösste Sex­symbol der Hollywood-Geschichte, aber sie erschöpft sich nicht im frauen­feindlichen Klischee von der Blondine mit dem grossen Busen und den noch grösseren Ambitionen. In ihren besten Filmen steht Marilyn für etwas völlig anderes. Es sind diese Filme, die die Beschäftigung mit ihr auch heute noch so wichtig machen.

In einer früheren Version haben wir das Medikament Chloralhydrat als «barbituralhaltig» bezeichnet. Dies ist nicht korrekt, die Stelle ist korrigiert. Wir danken für den Hinweis aus der Verlegerschaft.

Zur Literatur

Donald Spoto: «Marilyn Monroe – The Biography». Chatto & Windus, London 1993. 750 Seiten (nur in Englisch erhältlich).

Christa Maerker: «Marilyn Monroe und Arthur Miller. Eine Nahaufnahme». Rowohlt, Berlin 1997. 180 Seiten.

Nicki Giles (Hg.): «The Marilyn Album». PRC Publishing Ltd., London 1991. 303 Seiten.