Bruchlinien im Vielvölkerstaat
Am 2. Oktober wählt Bosnien-Herzegowina Parlament und Staatspräsidium neu. Es drohen neue Konflikte zwischen den verschiedenen Ethnien.
Von Adelina Gashi (Text) und Goran Basic (Bilder), 29.09.2022
Christian Schmidt steht umzingelt von Kameras und Journalistinnen vor einer EU-blauen Wand, auf der prominent sein Titel prangt – OHR, Office of the High Representative –, als ihm der Kragen platzt: «Rubbish! Full rubbish! People! I am not sitting and standing here, I am caring for this country.» – «Quatsch! Vollkommener Mist! Leute! Ich sitze und stehe nicht herum, ich kümmere mich um dieses Land.»
Der Deutsche, der 2021 in diesen Posten der internationalen Gemeinschaft gewählt wurde, gestikuliert wütend in die Kameras. Es ist die Reaktion eines Funktionärs, dem das Wasser bis zum Hals steht und der das auch weiss. Schmidts Wutausbruch am 17. August 2022 an einer Pressekonferenz im bosnischen Sarajevo geht im Netz viral.
Fast ist man versucht, Mitleid mit ihm zu haben. Aber nur fast. Es lässt sich nicht schönreden: Schmidt hat kein einfaches Los gezogen – er ist Hoher Repräsentant von Bosnien-Herzegowina, eines hochkomplexen Vielvölkerstaates, der 3,3 Millionen Einwohnerinnen zählt und dessen Regierungsapparat einem unentwirrbaren Kabelsalat gleicht. Experten, wie zum Beispiel Politologe Jasmin Mujanović, bezeichneten die Regierung schon als eines der «verworrensten politischen Regime der Welt».
Ebendieses Land soll Schmidt diesen Herbst durch die Wahlen bringen. Eine Aufgabe, der er nicht gewachsen zu sein scheint.
Als Hoher Repräsentant hat der CSU-Politiker und ehemalige deutsche Landwirtschaftsminister Christian Schmidt einen Aufsichtsposten inne, der Befugnisse mit sich bringt, die erst einmal irre klingen: Er darf eigenmächtig Gesetzesänderungen durchsetzen, Behörden schaffen oder Amtsträgerinnen entlassen, ohne die Entscheidungen demokratisch legitimieren zu müssen. Er ist de facto mächtiger als Bosniens Staatsoberhäupter.
Diese aberwitzige Sonderfunktion ist das Resultat des Daytoner Friedensabkommens von 1995, das den Krieg in Bosnien beendete. Eine von den Vereinten Nationen eingesetzte Instanz, errichtet, um Bosnien-Herzegowina nach dem Jugoslawienkrieg zurück auf den Pfad der Demokratie und schliesslich der Souveränität zu bringen. Was als vorübergehende Starthilfe gedacht war, entwickelte sich zu einem dauerhaften Abhängigkeitsverhältnis. Fast dreissig Jahre später existiert das Amt noch immer. Und die Vision vom friedlichen multiethnischen Staat bröckelt.
Fragiles Wahlsystem
Am 2. Oktober wählt Bosnien-Herzegowina. Das Staatspräsidium wird neu besetzt, ausserdem wählen die Bosnierinnen die Mitglieder des Abgeordnetenhauses. Eine Wahl, die dem Vielvölkerstaat gefährlich werden könnte.
«Die politische Entscheidungsfindung in Bosnien ist seit Jahren geprägt von klientelistischen Netzwerken», sagt der Schweizer Politologe Adis Merdzanovic. Von fairen Wahlen war das Land in den letzten Jahren weit entfernt. Klinkenputzen gehört für Bosniens machthungrige Politiker zum Standardprogramm. Wahlentscheidend ist nicht, was Politikerinnen für den Staat geleistet haben, um in Bosnien erfolgreich zu sein, sagt Merdzanovic. Im Amt sind diejenigen, die es beherrschen, ihre Wähler durch eine Klientelpolitik an sich zu binden und von sich abhängig zu machen.
Dieses korrupte und marode System entwickelte sich in den letzten Jahren zum wackeligen Selbstläufer, den die Bevölkerung bis dato missmutig duldet. Denn vielversprechende Alternativen waren bisher nicht in Sicht.
Wie fragil das Wahlsystem ist, musste der Hohe Repräsentant Schmidt am eigenen Leib erfahren. Nur wenige Monate vor der Wahl gab er den Forderungen der nationalistischen kroatisch-bosnischen Partei Hrvatska demokratska zajednica Bosne i Hercegovine, kurz HDZ, nach, die eine Wahlreform verlangte. Sie hätte kroatisch-bosnische Kandidierende bei der Sitzverteilung im Abgeordnetenhaus klar bevorzugt. Womit Schmidt nicht gerechnet hatte: der unbändigen Wut und Empörung der bosnischen Bevölkerung, die alarmiert über diese Ansage ihrem Ärger vor dem Büro des Hohen Repräsentanten Luft machte. 7000 Menschen protestierten gegen Schmidts geplante Zugeständnisse an die HDZ.
Erschrocken über die heftige Reaktion der Bosnier, krebste Schmidt zurück.
«Es ist wahnsinnig, zu denken, dass die HDZ sich mit der Änderung des Wahlgesetzes zufriedengegeben hätte. Das wäre nur der Anfang gewesen», sagt Politologe Jasmin Mujanović. Die serbischen und kroatischen Bosnierinnen beharren seit Jahren darauf, Bosnien den Rücken kehren zu können. Und ihre Rufe nach Separation werden immer lauter.
Schmidt hingegen hält unbeirrt am Friedensabkommen fest. In einem Gastkommentar für die bosnische Zeitung «Oslobođenje» schrieb er: «Unser gemeinsames Ziel muss es sein, das Gleichgewicht zwischen Multiethnizität und Identität, wie es Dayton vorsieht, zu erhalten.»
Die Separationsbegehren der verschiedenen Ethnien sind nicht etwa erst unter Schmidt aufgekommen. Unter ihm haben sie aber an Gefahr und Spannung gewonnen, was die Menschen in Bosnien in Unruhe versetzt.
In dem Vielvölkerstaat sollen muslimische Bosniaken und katholische beziehungsweise orthodoxe Kroatinnen und Serben in Frieden nebeneinander leben können. So die Vision der internationalen Gemeinschaft, die bis heute an dem multiethnischen Gebilde festhält. Was musterhaft bis utopisch klingt, ist in Realität knochenharte Arbeit und verdammt kompliziert. Ein Mehraufwand, den die serbische und kroatische Bevölkerung nur noch ungern leistet.
Auf politischer Ebene bedeutet dies, dass das Land nach multiethnischen Kriterien organisiert ist, die sich durch die öffentliche Verwaltung bis hin zur Regierung ziehen. In Bosnien-Herzegowina regieren zurzeit drei Männer das Land: ein bosnischer Serbe, ein Bosniake und ein bosnischer Kroate. Auf den ersten Blick ein beispielloses Abbild von gelebter Multiethnizität und geteilter Macht. In Wirklichkeit sind nicht einmal die Staatsoberhäupter selbst von der Ausgestaltung des Präsidiums überzeugt.
Aggressiv gegen ein Bosnien-Herzegowina nach Daytoner Abkommen stellt sich der noch amtierende Präsident Milorad Dodik. Er vertritt die Serbinnen mit nationalistischem Stolz und redet seit geraumer Zeit davon, die Teilentität Republika Srpska von Bosnien abzuspalten. Leere Drohungen, oder ist da doch was dran?
Millionen aus Russland
Experten wie der Politologe Adis Merdzanovic beobachteten in den letzten Monaten eine Radikalisierung des Politikers, der autoritäre Staatschefs wie Viktor Orbán, Wladimir Putin und Aleksandar Vučić zu seinen Verbündeten zählt. Dodik geniesst kategorische Unterstützung durch diese unheilvolle Allianz. Auf wessen Seite er im Krieg gegen die Ukraine steht, ist ebenfalls kein Geheimnis: «Es lebe Serbien, es lebe Russland, es lebe die Republika Srpska!», rief Dodik während einer Veranstaltung im April im Osten des Landes, umjubelt von seinen Anhängerinnen. Ein Hohn und regelrechter Albtraum für die vom Jugoslawienkrieg bis heute gebeutelten Bosnier.
Hinter dieser Verbrüderung zwischen Dodik und Putin steckt mehr als kulturelle Nähe. Wie geleakte Daten von amerikanischen Geheimdiensten kürzlich enthüllten, erhält Dodik von Russland Millionen. Der genaue Betrag ist nicht bekannt.
Es ist eine Investition in einen Politiker, der für Chaos und Ärger sorgt. Der alles dafür tut, um Bosnien weiter zu destabilisieren. Denn ein dysfunktionaler Staat kann keine eigene Aussenpolitik entwickeln, geschweige denn der Nato beitreten. Genau nach Putins Plan, der alles daransetzt, dass das Militärbündnis keine weiteren Mitglieder gewinnt. Diese Nachricht über die finanziellen Zuwendungen sorgte unter westlichen Beobachtern für bleiche Gesichter. Sie hatten die Beziehung zwischen Putin und Dodik bisher als blosse PR abgetan. Sie lagen falsch.
Dodik hat bei den diesjährigen Wahlen nicht vor, für das Staatspräsidium zu kandidieren. Stattdessen will er zurück zu seinem Posten als Präsident der serbisch dominierten Entität Republika Srpska. In seinem Weltbild ist das durchaus folgerichtig: «Wieso sollte Dodik weiter vor der Flagge eines Staates stehen, den er nicht akzeptiert?», sagt Politologe Adis Merdzanovic.
Der 2-Meter-Hüne Milorad Dodik, eigentlich sonst keine grosse Nummer auf dem politischen Parkett, hat sich international einflussreiche Freunde gemacht und gleichzeitig eine Menge Leute verärgert. Wegen seiner Ankündigung, die Republika Srpska von Bosnien abspalten zu wollen, haben ihn die USA im Januar 2022 mit Finanzsanktionen belegt und sein Vermögen eingefroren. Dodik gehöre wegen seiner «korrupten Aktivitäten und anhaltenden Bedrohungen für die Stabilität und territoriale Integrität von Bosnien und Herzegowina» abgestraft.
Auch die EU drohte ihm mit Sanktionen – wurde aber durch Ungarns Präsidenten Viktor Orbán davon abgehalten, sie auch tatsächlich zu verhängen. Stattdessen sicherte Orbán Dodik Unterstützung in Höhe von 100 Millionen Euro zu.
So weit, so beunruhigend.
Sich die Hände reibend und gelassen blickt Dodik den Wahlen entgegen – es spielt für ihn keine Rolle, wer gewinnt. Die Rolle des Präsidenten der Republika Srpska ist ihm sicher, sagen Expertinnen. Politologen wie Jasmin Mujanović befürchten, dass die bevorstehenden Wahlen insgesamt im Nichts verlaufen werden und keine Regierungsbildung möglich sein wird. Ein Machtvakuum.
Eine ideale Ausgangslage für Milorad Dodik, seine Vorbehalte zu bestätigen und auszurufen: Ich habs euch doch gesagt. Bosnien-Herzegowina ist kein funktionierender Staat, die Entitäten sollten getrennte Wege gehen dürfen.
Und wenn es sein muss, könnte Dodik bereit sein, mit Gewalt dafür zu sorgen. Die nötigen Ressourcen dafür hätte er. Bereits im letzten Jahr kündigte er an, eine Armee für die Republika Srpska aufbauen zu wollen. Als die serbische Teilrepublik am 9. Januar 2022 ihren Gründungstag feierte, marschierten von Russen ausgebildete Spezialeinheiten durch Banja Luka, Regierungssitz der Republika Srpska.
In einem alarmierenden Bericht schreibt der European Council on Foreign Relations, dass Russland bereit wäre, mit allen Mitteln einen Nato-Beitritt Bosniens zu verhindern.
Igor Kalabuchow, der russische Botschafter in Bosnien, sagte, nachdem Russland am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert war: «Das Beispiel der Ukraine zeigt, was wir erwarten. Sollte es eine Bedrohung geben, werden wir reagieren.»
Eine Ansage, die bei der bosnischen Bevölkerung Traumata weckte und die Frage aufwarf: Droht wieder Krieg auf dem Balkan?
Die Politologen Adis Merdzanovic und Jasmin Mujanović geben vorsichtig Entwarnung. Sie halten einen kriegerischen Konflikt in Bosnien für unrealistisch. Gleichzeitig sagt Mujanović aber auch: «Ein Krieg ist zwar noch immer unwahrscheinlich, aber wahrscheinlicher als noch vor zehn Jahren. Die Lage ist aktuell prekär, das Land hat in seiner demokratischen Entwicklung massive Rückschritte gemacht.»
Die bosnische Bevölkerung blickt desillusioniert den Wahlen entgegen. Demokratie als Ordnungs- und Gestaltungsmittel – Fehlanzeige. Sie weiss, dass der Gang an die Urne keine Änderung bringen wird. Die Beteiligung sei auch deshalb so tief.
Trotzdem gibt es Bestrebungen aus der Zivilbevölkerung, Bewegung in die festgefahrenen Strukturen zu bringen. Eine Gruppe von bosnischen Aktivisten ruft mit ihrer Initiative «1 Million People for a Civic State» zur politischen Partizipation auf, als Antwort auf die separatistischen und nationalistischen Entwicklungen. Nur haben sie eine kümmerliche Schlagkraft gegen die festgezurrten klientelistischen Seilschaften – 60 Prozent der Arbeitsplätze werden vom Staat gestellt.
Wählerinnen entscheiden zwischen Arbeit, die ihre Existenz sichert, und politischem Idealismus, dessen Ausgang ungewiss ist. Ein unmögliches Dilemma. Denn die Frage ist: Was können die Aktivistinnen den Menschen in Aussicht stellen, das sie dazu bewegt, an dem bisherigen System zu rütteln? Ohne Anreize bleibt die Mobilisierung aus.
Die EU hat mit Christian Schmidt indes ein schwaches Ass im Ärmel. Nach Dodiks grossmundigen Separationsdrohungen im letzten Dezember entsandte sie als Reaktion darauf 500 zusätzliche Soldaten nach Bosnien. Eine «Vorsichtsmassnahme», hiess es.
Der Hohe Repräsentant wirkt in seinem Handeln kurzsichtig. Mit Zugeständnissen versucht er, einen Keil in die nationalistischen Netzwerke zwischen Dodiks SNSD (Savez nezavisnih socijaldemokrata) und der kroatischen HDZ zu treiben – um zu sehen, dass das grosses Potenzial hat, nach hinten loszugehen, braucht es kein besonders feines analytisches Gespür. Mit Unruhestiftern sind Verhandlungen zwecklos.
Auf Dodiks Agenda stand am 20. September ein erneutes Treffen mit seinem russischen Patron Putin in Moskau. Bei dieser Gelegenheit wünschte Putin Dodik viel Erfolg für die Wahlen. «Ich hoffe, dass die Positionen der patriotischen Kräfte auf Grundlage der Wahlergebnisse gestärkt werden, was es uns ermöglichen wird, eine fruchtbare und für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit weiterzuentwickeln.» Natürlich sind Putins gute Wünsche in seinem eigenen Interesse zu verstehen.
Der European Council on Foreign Relations rät der EU dringend, zu handeln. Nicht nur, um den Frieden im Land zu wahren, sondern auch, um sich als aussenpolitische Akteurin nicht völlig die Blösse geben zu müssen. Sie gerät unter Druck – das ist auch das Resultat einer Politik, die ihre eigenen Werte verraten hat: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Stattdessen setzte man auf das Minimum: Stabilität. Nun ist aber auch sie in Gefahr.