Die Copacabana ist in Gelb und Grün getaucht: Rio de Janeiro am Unabhängigkeitstag. Dado Galdieri/The New York Times

Für Gott, Familie, Freiheit, Vaterland

Präsident Bolsonaro und seine Anhänger haben in Brasilien eine Sprache der Gewalt normalisiert, und sie horten Waffen. Was, wenn sie am Sonntag die Wahl verlieren?

Von Philipp Lichterbeck, 27.09.2022

Synthetische Stimme
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Gegen Mittag zieht Claudio A. mit seiner Familie los, um das Vaterland zu retten: «Vor der Korruption, der Gender-Ideologie und dem Kommunismus.»

Claudio A. ist ein 38-jähriger Anwalt und stammt aus Rio de Janeiros Mittelklasse­viertel Glória. Er will nicht, dass sein voller Name veröffentlicht wird. Mit seiner Frau und zwei Kindern macht er sich auf den Weg zur Copacabana. An der berühmten Strand­promenade wird an diesem Tag die Unabhängigkeit Brasiliens gefeiert, die am 7. September 1822 ausgerufen wurde, vor genau 200 Jahren.

Auch Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro hat angekündigt, dass er nach der Militär­parade in der Haupt­stadt Brasília nach Rio kommen wolle. Das Land steckt gerade im Wahlkampf, und Bolsonaro will die Feiern offenbar für einen medien­wirksamen Auftritt nutzen. Deswegen strömen nun Tausende Anhängerinnen an die Copacabana. So wie die Familie A.

Alle vier tragen knallgelbe Trikots der brasilianischen Fussball­nationalmannschaft. Diese sind mittlerweile zum Erkennungs­merkmal der Bolsonaro-Fans geworden. Vater A. hat sich das Shirt von Gabriel Jesus übergestreift, sein zehn­jähriger Sohn mag Neymar lieber.

«Wir sind rechts», sagt Claudio A. «Wir wollen nicht, dass Brasilien wieder in die Hände der Linken fällt.»

Die Familie drängt sich in die Metro, die voller Bolsonaristas ist, Anhänger Bolsonaros und seiner ultra­rechten Ideologie. Fast alle tragen gelbe T-Shirts oder haben brasilianische Flaggen dabei. Auf den Textilien markige Sprüche: «Meine Partei heisst Brasilien» oder «Unsere Fahne wird niemals rot sein».

Ab und zu rufen sie: «Mito, mito, mito!» – als «Mythos» wird Bolsonaro von seinen Fans gefeiert, weil er angeblich seit Jahrzehnten alleine gegen die politische Korrektheit kämpft. Auch Familie A. stimmt mit ein. Beim Aussteigen an der Copacabana gehen sie im Gedränge verloren, aber zuvor hatte Claudio A. noch gesagt, er habe keinen Zweifel daran, dass das Volk hinter Bolsonaro stehe: «Er wird die Wahl gewinnen!»

Am 2. Oktober sind rund 160 Millionen Brasilianerinnen aufgerufen, einen Präsidenten zu wählen; ausserdem einen neuen Kongress sowie neue Länder­parlamente und Gouverneurinnen. Es ist eine Richtungswahl.

Zwei völlig verschiedene Vorstellungen von Brasilien konkurrieren miteinander, und die Geschicke der Riesen­nation werden in den kommenden Jahren massgeblich davon abhängen, welche Seite gewinnt. Entsprechend laut ist der Wahlkampf.

Für Bolsonaro geht es um mehr als Politik, er bezeichnete die Wahl als «Entscheidung zwischen Gut und Böse». Sein Gegner, Luiz Inácio Lula da Silva, sei ein «Teufel, der den Kommunismus einführen will».

Wie haben fast vier Jahre Bolsonaro das mit Abstand grösste, bevölkerungs­reichste und wirtschaftlich stärkste Land Latein­amerikas geprägt und verändert? Was war charakteristisch für Bolsonaros Regierungs­zeit? Und welche Gefahr stellen er und seine Bewegung für die Demokratie dar?

Klar ist, dass der Bolsonarismus nach den Wahlen nicht verschwinden wird. Ähnlich wie beim Trumpismus in den USA handelt es sich um eine Bewegung, die vom Gefühl getragen wird, dass etwas nicht mehr stimmt, dass die Gesellschaft aus den Fugen geraten ist. Ihr Unbehagen richtet sich gegen die LGBTQIA+-Bewegung, den Aufstieg von Armen und Schwarzen oder die «zu liberale» Erziehung.

Jair Bolsonaro konnte diese Ressentiments bündeln. Als er 2018 gewählt wurde, steckte Brasilien in einer tiefen Krise: ökonomisch, politisch, ethisch-moralisch.

Krisenzeiten sind gute Zeiten für Extremisten, und Bolsonaro ergriff die Gelegenheit. Er hatte zwar keine Erfahrung, aber viel Wut. Kurz nach seinem Amtsantritt sagte er während eines Besuchs in Washington: «Wir müssen vieles auseinander­nehmen.»

Und Bolsonaro machte Ernst.

Ein erstaunliches Comeback

Nun, vier Jahre später, liegt Bolsonaro in allen Umfragen deutlich hinter seinem Herausforderer, Ex-Präsident Lula da Silva von der linken Arbeiter­partei PT. Für den ersten Wahlgang werden Lula rund 45 Prozent der Stimmen vorausgesagt, Bolsonaro 33 Prozent. Die anderen Kandidatinnen spielten keine wesentliche Rolle. Spätestens im zweiten Wahlgang Ende Oktober könnte Lula zum nächsten Präsidenten Brasiliens gewählt werden. Es wäre ein erstaunliches Comeback – und der Albtraum Bolsonaros und seiner Anhänger.

Der heute 76-jährige Lula regierte Brasilien bereits von 2003 bis 2010. Seine Amtszeit gilt als ausser­ordentlich erfolgreich. Brasiliens Wirtschaft wuchs, Millionen Menschen entkamen der Armut, es gab neue Bildungs­möglich­keiten, das Land zahlte Schulden ab und erhielt weltpolitisch mehr Gewicht.

Doch nach Lulas Ausscheiden aus dem Amt brach der Boom zusammen. Ab 2014 kam ein gigantischer Korruptions­skandal rund um die staatliche Erdölgesellschaft Petrobras ans Licht. Damit wurden Lula und die Arbeiterpartei PT für viele Brasilianerinnen zum Inbegriff von Korruption und Misswirtschaft. Eine Wahrnehmung, die massgeblich zum Entstehen der bolsonaristischen Bewegung beitrug, die viel Kraft aus der Verachtung für den PT schöpft. Als Lulas Nachfolgerin und Partei­freundin Dilma Rousseff dann 2016 vom Kongress mit der Mehrheit der Mitte-rechts-Parteien unter fadenscheinigen Gründen abgesetzt wurde (ihr konnte nie Korruption oder eine Verwicklung in den Petrobras-Skandal nachgewiesen werden), war das die Geburts­stunde des Bolsonarismus. Die moderate Rechte hat die Tür für die extreme Rechte aufgestossen.

Lula selbst wurde 2018 nach einem umstrittenen Prozess zu einer langen Haftstrafe wegen Bestechlichkeit und Geldwäsche verurteilt. Nach anderthalb Jahren im Gefängnis kam er jedoch wieder frei, weil der oberste Gerichtshof Brasiliens die Urteile gegen ihn aufgrund von Verfahrens­fehlern und Parteilichkeit der Richter annullierte.

Seitdem befindet sich Lula, der stets seine Unschuld beteuert hat, im Wahlkampf­modus. Er will Bolsonaro schlagen, der die Wahlen 2018 auch deswegen gewann, weil Lula im Gefängnis sass und nicht antreten durfte. Für Bolsonaro stimmten damals 58 Millionen Brasilianerinnen, für seinen Gegner, Fernando Haddad von der Arbeiterpartei, 47 Millionen. Obwohl rund 40 Millionen Stimm­berechtigte nicht zur Wahl gingen, sich enthielten oder ungültig wählten, war es ein klarer Sieg für Bolsonaro. Nun hat sich das Blatt gewendet.

Lächeln für die Kamera: Bolsonaros Kontrahent, Lula da Silva, mit Politikerinnen seiner Partei. Francisco Proner/Agence VU/Keystone
Sie jubeln für ihn: Sollte Lula da Silva die Wahl gewinnen, wird er ein völlig verändertes Land vorfinden. Francisco Proner/Agence VU/Keystone
Brasilien ist gespalten. Rechts gegen links, rote T-Shirts gegen gelbe T-Shirts. Francisco Proner/Agence VU/Keystone

Für Bolsonaro muss das unbegreiflich sein. Lula ist für ihn der Anführer einer kriminellen Gang, die Brasilien ausgeraubt und moralisch korrumpiert habe. Bei seiner Amts­einführung vor vier Jahren versprach er, mit dem Sozialismus, der Korruption, der Gender-Ideologie und der linken Indoktrination an den Schulen Schluss zu machen. All dies ist angeblich von Lula eingeführt worden. Er, Bolsonaro, würde nun der traditionellen Familie, dem Vaterland und Gott wieder zu ihrem Stellen­wert verhelfen. Im Wahl­kampf hatte er auf Lula mit einem imaginären Maschinen­gewehr geschossen und gebrüllt, dass man ihn und seine Bagage eliminieren werde.

Diesem Ton blieb Bolsonaro als Präsident treu: Das Amt veränderte nicht ihn, sondern er das Amt.

Der Krawall als politische Methode

Bolsonaro hat in den vergangenen vier Jahren eine Sprache der Gewalt und der Aggression in der Politik normalisiert. Einem Reporter, der eine kritische Frage stellte, antwortete er, dass dieser «ein fürchterlich homosexuelles Gesicht» habe. Einem anderen Journalisten sagte er, dass er Lust hätte, ihn zu schlagen. In einer Wahl­debatte schnauzte er eine bekannte TV-Moderatorin an: «Du bist eine Schande für den brasilianischen Journalismus.»

Bolsonaro hat nie versucht, das Land zu einen oder auf seine Gegner zuzugehen. Stattdessen haben er und seine Minister Krawall gemacht. Nichts hat die vergangenen vier Jahre in Brasilien stärker geprägt. Es schien oft so, als sei Radau Bolsonaros tägliche Droge.

Das begann schon im ersten Amts­jahr, als er zunächst die Zerstörung des Amazonas­waldes leugnete (die für alle Welt offensichtlich war), sie dann herunter­spielte und zuletzt die Umwelt­sünderinnen in ihrem Tun ermutigte. Er nannte sie sinngemäss hart arbeitende Patrioten.

Brasiliens Ureinwohnerinnen seien hingegen «wie Tiere im Zoo», die eigentlich nur so sein wollten «wie wir». Umwelt­schützer bezeichnete Bolsonaros Regierung als von «ausländischen Mächten gesteuerte Agentinnen».

Es blieb nicht bei der Rhetorik. Bolsonaro hat der Umwelt­polizei Ibama und der Indigenen­schutz­behörde Funai Kompetenzen gestrichen und Schlüssel­positionen mit fachfremden Militärs besetzt. Im Feld baute er Personal ab.

Seit Bolsonaros Amts­antritt wurden denn auch jedes Jahr neue Rekord­flächen Wald vernichtet und immer häufiger Indigenen­reservate von Eindringlingen angegriffen. Es geht um Holz sowie Land für Rinder­weiden, Soja­felder, Minen und die Spekulation. Die Schwächung der staatlichen Strukturen zum Umwelt- und Indigenen­schutz ist eine der schwer­wiegendsten Hinter­lassenschaften Bolsonaros. Nicht zufällig stammen seine fanatischsten Wähler aus der Agrar­industrie, der Holz- und Minen­wirtschaft.

Bolsonaro hat den Staats­apparat regelrecht mit Militärs geflutet, auch sie zählen zu seinen treuen Anhängerinnen. Sein Vize­präsident war General, und zahlreiche Minister stammen aus den Streit­kräften. Auffällig ist, wie viele Uniformierte mittlerweile in der zweiten und dritten Regierungs­reihe sitzen. Immer häufiger übernahmen Soldaten auch zivile Aufgaben, etwa den Bau von Strassen. Ebenso wurde die Bildung militarisiert. Zahlreiche Militär­schulen eröffneten, in denen strenger Drill herrscht. Zum Lehrplan gehört die Behauptung, dass der Militär­putsch von 1964 notwendig gewesen sei, um Brasilien vor dem Kommunismus zu retten.

Bolsonaro begründete die Berufung der Militärs häufig damit, dass diese kompetenter seien. Welch ein Unfug das war, zeigte sich im Gesundheits­ministerium, das in der schlimmsten Phase der Corona-Pandemie von einem General ohne Erfahrung im Gesundheits­wesen geleitet wurde. In Manaus, der grössten Stadt im Amazonas, fehlte dann auch klinischer Sauerstoff trotz vorheriger Warnungen. Dutzende Patientinnen erstickten.

Die Pandemie machte denn auch den zynischen Charakter Bolsonaros deutlicher als alles andere. Zunächst leugnete der die Gefahr des Virus und sabotierte die Anstrengungen der Behörden zur Pandemie-Eindämmung. Dann bewarb er das angebliche Wunder­mittel Chloroquin und warnte die Brasilianer davor, sich impfen zu lassen. Frauen könnten Bärte wachsen und Männer anfangen, mit hoher Stimme zu sprechen.

Fast 700’000 Brasilianerinnen sind bis heute an Covid-19 gestorben, Bolsonaro hat nie ein Wort des Bedauerns oder der Anteil­nahme geäussert. Zu den Opfern befragt, sagte er einmal verärgert: «Ich bin kein Totengräber.» Ein parlamen­tarischer Untersuchungs­ausschuss kam zum Schluss, dass es sehr viel weniger Tote gegeben hätte, wenn Bolsonaro verantwortlich regiert hätte.

Wahlforschern zufolge hat ihn seine Pandemie­politik viele Stimmen gekostet. So gut wie jede Brasilianerin kannte jemanden, der an Covid-19 gestorben ist, sei es in der Familie oder im Freundes­kreis.

Ein Dauerthema war Bolsonaros Clinch mit dem obersten Gerichtshof, der wöchentlich die Nachrichten bestimmte. Weil Bolsonaro lange Zeit keine Mehrheit im zersplitterten Parlament mit mehr als 20 Parteien hatte, regierte er per Dekret. Diese wurden jedoch immer wieder vom obersten Gerichtshof kassiert, beispiels­weise zur Flexibilisierung der Umwelt­gesetze oder zur Erleichterung des Waffen­besitzes. Bolsonaro behauptete, die Richter überschritten damit ihre Kompetenzen und liessen ihn den Volks­willen nicht umsetzen. Er sei gewählt worden – die Richterinnen nicht.

Besonders hartnäckig war der oberste Gerichtshof, wenn es darum ging, Verbündete von Bolsonaro zu untersuchen, die sich verfassungs­feindlich geäussert hatten oder an der massenhaften illegalen Verbreitung von Fake News beteiligt waren. Zuletzt ordnete ein Richter Ermittlungen gegen bolsonaristische Gross­unternehmer an, die in einer Whatsapp-Chatgruppe die Vorteile eines Militär­putsches diskutiert hatten. Bolsonaro nannte diese Entscheidungen eine Bedrohung der Freiheit und stachelte seine Anhängerinnen immer wieder gegen das Gericht auf. Den Richter Alexandre de Moraes beschimpfte er als «Vagabunden».

Bolsonaro stellte somit andauernd die demokratische Gewalten­teilung infrage. Sein Sohn, der Parlaments­abgeordnete Eduardo Bolsonaro, sagte einmal, man brauche nur einen Offizier und einen Soldaten, um den obersten Gerichtshof zu schliessen.

Eine bolsonaristische Parallelwelt

Für Bolsonaro war und ist der Zuspruch seiner radikalen Basis wichtiger als sein Bild in den Medien oder im Ausland. Er gab ihr das Gefühl, dass die Institutionen, die Medien und die intellektuellen Eliten nicht mehr die Wahrheit sagen. Er hingegen traue sich – ungehobelt, aber authentisch und ohne Floskeln –, sie auszu­sprechen. Das Image des einfachen und ehrlichen Maklers im Dienste Brasiliens, der vom Establishment geschnitten werde, ist ein wesentlicher Grund für die Beliebtheit Bolsonaros.

Seine Anhänger haben sich in Tausenden Chat­gruppen in sozialen Netzwerken eingerichtet und eine bolsonaristische Parallel­welt geschaffen. Sie ist gegen Widerspruch und Zweifel abgeschottet.

«Wir zeigen, was die Medien verschweigen» – so werden die Beiträge dort häufig angekündigt. Bolsonaro erscheint in dieser Welt als unermüdlicher Kämpfer für Freiheit, Wahrheit und Moral.

Der Soziologe Marcos Nobre hat den Bolsonarismus als «digitale Bewegung» charakterisiert, die nicht mehr der Struktur einer Partei bedürfe. Ihre «Parteitage» finden – übers Netz organisiert – auf der Strasse statt. Dort vergewissert sich die Bewegung ihrer selbst und produziert die Bilder, die in den bolsonaristischen Netzwerken millionenfach geteilt werden.

Hier dominieren die gelben Trikots: Bolsonaro-Anhänger versammeln sich am Unabhängigkeitstag an der Copacabana – beschützt von Militär­polizistinnen. Francisco Proner/Agence VU/Keystone
«Ich trage das Zeichen der Verheissung»: Ein Polizist und Kandidat für Bolsonaros Partei zeigt Tattoo und Schusswunde. Francisco Proner/Agence VU/Keystone
Er wird umjubelt. Sein offizieller Name: Jair Messias Bolsonaro. Francisco Proner/Agence VU/Keystone

Auch dies ist ein Grund, warum Bolsonaro am Unabhängigkeits­tag Anfang September nach Rio de Janeiro kommt. Den schlechten Umfrage­werten will er die Macht der Bilder entgegen­setzen: Massen, die zu seinen Veranstaltungen strömen, das Volk hinter ihm, die Umfragen völlig falsch.

So verquer diese Erzählung ist, tatsächlich schafft es Bolsonaro auch an diesem 7. September, unwahrscheinlich viele Menschen an die Copacabana zu mobilisieren. Die Strand­promenade ist in Gelb und Grün getaucht. Auf rund 110’000 wird die Zahl der Bolsonaristas später geschätzt. Sie sind gut gelaunt, der Geruch von Grill­spiessen liegt in der Luft, und über der Bucht findet eine Flug­show statt: Die Piloten eines Rauch­geschwaders malen ein Herz in den Himmel – natürlich in Gelb und Grün.

Vordergründig wird ein bürgerliches Volksfest gefeiert, doch dahinter verbergen sich Fanatismus und Intoleranz. Alle paar Meter wird Propaganda­material angeboten. Fahnen, Hand­tücher, Aufkleber. Eine Baseball­kappe zeigt einen grinsenden Bolsonaro mit Sonnen­brille, er formt die Hände zu imaginären Pistolen: «Jair! Besser, ihr gewöhnt euch dran!»

Das klingt bedrohlich. Und so ist es auch gemeint. Auf einem Aufkleber liest man tatsächlich: «Eine Nation, ein Volk, ein Führer!»

Auf Wagen fordern Rednerinnen die Absetzung des obersten Gerichtshofs, auf Spruch­bändern wird das Militär zum Putsch aufgerufen. Je tiefer man ins Gewühl eintaucht, desto aggressiver wird es. An einer Stelle dröhnt ein Rap, in dem es heisst: «Die Feministinnen kriegen Futter im Topf, die rechten Mädels sind die schönsten, die linken haben mehr Haare als ein Hund.»

Ausgerechnet den nationalen Feiertag, der allen Brasilianern gehört, nutzen die Bolsonaristas, um ihr reaktionäres Gedankengut auf die Strasse zu tragen und sich als die einzig wahren Patriotinnen zu präsentieren. Widerspruch gibt es nicht. Wer nicht für Bolsonaro ist, hat sich wohlweislich entfernt oder ist gar nicht erst zur Copacabana gekommen. An einem Balkon hängt ein rotes Handtuch mit Lulas Antlitz. Dem Handtuch werden Sprech­chöre entgegen­geschleudert. «Lula, du Dieb, dein Platz ist im Knast!»

Die bolsonaristische Bewegung hat es verstanden, nationale Symbole zu kapern – und damit für andere Brasilianer unmöglich zu machen. Nach fast vier Jahren Bolsonaro ist es nicht einmal mehr möglich, gemeinsam den Unabhängigkeits­tag zu begehen. Fast sieben von zehn Brasilianerinnen sagen heute, dass sie aufgrund ihrer politischen Haltung Angst vor Aggressionen hätten.

Irreführung der Bevölkerung

Schliesslich trifft Bolsonaro an der Spitze eines langen Konvois aus Motor­radfahrern ein – Brasiliens Motorrad­clubs sind Horte des Bolsonarismus. Als der Präsident von einem Wagen herabspricht, verliert er kein Wort zu 200 Jahren Unabhängigkeit, zu Brasiliens Geschichte oder den Schwierigkeiten, die man überwunden habe. Bolsonaro sagt nichts Versöhnliches oder Einigendes, es gibt keine Geste in Richtung der Brasilianerinnen, die ihm nicht zustimmen.

«Ja, Bolsonaro ist ein wenig unhöflich», sagt in der Menge eine 55 Jahre alte Besitzerin eines Mode­geschäfts. «Aber er ist ehrlich und kein Dieb.»

Nach einem Gebet – «Brasilien war und ist eine christliche Nation» – beschimpft Bolsonaro seinen Konkurrenten Lula als «Bandit mit neun Fingern» (Lula verlor einst als Metall­arbeiter einen Finger bei einem Unfall). Er sagt, dass Lula den Kommunismus einführen, «die anständigen Bürger» entwaffnen und den Privat­besitz abschaffen wolle. Und Bolsonaro fordert: «Diese Sorte von Person muss aus dem öffentlichen Leben getilgt werden.»

Die Brasilianerinnen sollten sich bereithalten, um das Vaterland zu verteidigen.

Es ist ein wenig verklausulierter Aufruf zum Widerstand gegen einen Wahlsieg Lulas. Seit Monaten schon kokettiert der Präsident mit einer Putsch­drohung. Erst am Morgen hatte er bei einer Zeremonie im Präsidenten­palast mit Bezug auf den Militär­putsch von 1964 gesagt: «Die Geschichte kann sich wiederholen.»

Zentral in Bolsonaros Wahlkampf­strategie ist die Diskreditierung des Wahl­prozesses an sich. Er hat angekündigt, das Wahl­ergebnis nur zu akzeptieren, wenn die Wahlen «sauber und transparent» seien. Und entgegen allen Umfragen behauptet er, dass er bereits im ersten Wahlgang mit 60 Prozent gewinnen werde; falls nicht, könne es nicht mit rechten Dingen zugehen.

Zwar gab und gibt es keine Hinweise auf Unregelmässigkeiten, aber die gezielte Irreführung der Öffentlichkeit hat dazu geführt, dass mittlerweile viele Brasilianer glauben, dass die elektronischen Wahlurnen nicht zuverlässig seien. Auch die Besitzerin eines Mode­geschäfts sagt an der Copacabana: «Ich glaube, dass es Manipulationen geben kann, um Bolsonaro zu schaden.» In Wahrheit gehört Brasiliens Wahl­system zu den schnellsten und verlässlichsten der Welt.

Der für gewöhnlich nüchterne britische «Economist» befürchtet, dass Bolsonaro im Falle einer Niederlage «einen Aufstand anzetteln könnte, ähnlich dem Sturm der Anhänger Donald Trumps auf das Kapitol – oder vielleicht noch schlimmer».

Die Sorge ist berechtigt: Viele Bolsonaristas sind bewaffnet. Bolsonaro hat den Waffen­erwerb erleichtert, die Zahl der bewaffneten Bürgerinnen stieg um 500 Prozent. «Ein bewaffnetes Volk lässt sich nicht versklaven», wiederholt Bolsonaro im Wahlkampf immer wieder.

Der hässliche Brasilianer

Nach Bolsonaros Rede löst sich die Veranstaltung an der Copacabana auf. Es war eine Macht­demonstration: antidemokratisch, irrational, aggressiv, autoritär. Die Anhänger Bolsonaros bezeichnen sich häufig als «cidadãos do bem», als anständige Bürgerinnen, die Recht und Gesetz achteten. Dahinter verbergen sich nur allzu oft faschistische Einstellungen.

Brasilien war einst für seine Lebensfreude, Toleranz und seine zuvor­kommenden Menschen bekannt. Als den «herzlichen Menschen» beschrieb der Historiker Sérgio Buarque de Holanda den Archetyp des Brasilianers 1936 in seinem Schlüssel­text «Die Wurzeln Brasiliens».

Das war natürlich eine Idealisierung, aber es prägte das Selbstbild vieler Generationen von Brasilianerinnen. Mit Bolsonaro hat sich das geändert. Aus dem herzlichen Brasilianer ist innert weniger Jahre der hässliche Brasilianer geworden, der seinem Hass freien Lauf lässt.

Als «ein Gemenge aus Vorurteilen und Hass auf die Demokratie» hat die Journalistin Miriam Leitão den Bolsonarismus einmal beschrieben. Für den portugiesischen Historiker Manuel Loff ist er der «Neofaschismus des 21. Jahrhunderts». Und der konservative Publizist Reinaldo Azevedo schreibt: «Bolsonaro verkörpert den Kollaps der Natur und des zivilisierten Lebens.»

Eine Entwicklung kann jedoch auch der Bolsonarismus nicht leugnen: die Zunahme der Armut. Während der Pandemie kamen Millionen von Brasilianerinnen nur dank umfangreicher Lebensmittel­spenden über die Runden; es wurde wieder einmal deutlich, wie prekär die Lage eines Grossteils der Bevölkerung im eigentlich so reichen Brasilien ist. Dieses Jahr kehrte dann laut den Vereinten Nationen der Hunger zurück, rund 33 Millionen Brasilianer seien betroffen. Dafür ist auch die Inflation verantwortlich, die die Lebensmittel­preise in die Höhe getrieben hat.

Eine schwarze Kaffee­verkäuferin, die aus einer Favela stammt, sagt zu den bevor­stehenden Wahlen: «Unter Lula gab es Fleisch.»

Bolsonaro hat versucht, seine schlechten Umfrage­werte unter den Armen mit Sozial­abgaben zu verbessern. Aber die armen Brasilianerinnen sind eine sichere Bank für Lula, dort holt er mit Abstand die meisten Stimmen. Mit einer Ausnahme: die Mitglieder evangelikaler Christen. Ihr Einfluss hat unter Bolsonaro enorm zugenommen.

Bolsonaros Wähler lassen sich recht deutlich identifizieren. Sie sind wohlhabender als der Durchschnitt und haben eine bessere Bildung. Sie sind mehrheitlich Weisse und Männer. Bolsonaros Hoch­burgen liegen im europäisch geprägten Süden Brasiliens, in den städtischen Oberschichten­vierteln sowie im von der Agrar­industrie geprägten Hinterland.

Etwa jeder dritte Brasilianer ist evangelikal. Um ihre Gunst wirbt Präsident Bolsonaro. Francisco Proner/Agence VU/Keystone
Brasilien war einst bekannt für Lebens­freude, Toleranz und zuvor­kommende Menschen. Das ist vorbei. Francisco Proner/Agence VU/Keystone

Die grösste Zustimmung erhält Bolsonaro jedoch von den Evangelikalen. Sie machen mittlerweile rund ein Drittel der 210 Millionen Brasilianerinnen aus. Fast die Hälfte will für Bolsonaro stimmen, nur 32 Prozent für Lula. Unter katholischen Wählerinnen ist es genau umgekehrt.

Um seinen Vorsprung unter den evangelikalen Christen auszubauen, hat Bolsonaro zuletzt seine dritte Ehefrau Michelle in den Wahlkampf geschickt. Die evangelikale Christin hat eine fanatische Sprache eingeführt. Bei einem Empfang im Präsidenten­palast sagte sie allen Ernstes, dass dieser unter den Vorgängerinnen ihres Mannes «dem Dämon gewidmet» gewesen sei. Sie meinte Lula und Dilma Rousseff. Aber nun gebe es einen Präsidenten, der von Gott auserwählt worden sei, um Brasilien zu befreien.

So ähnlich werben auch viele Pastoren für Bolsonaro. Sie behaupten, die Wahl sei eine zwischen Gut und Böse, zwischen Familie und Gender-Ideologie, zwischen Abtreibungs­verbot und Babymord, zwischen der Kriminalisierung von Drogen und ihrer Legalisierung. Und sie warnen davor, dass Lula Brasiliens Kirchen schliessen werde.

Seit Jahrzehnten verfolgen Brasiliens Evangelikale ein Projekt. Es geht um die Besetzung der Politik, der staatlichen Institutionen, der Kultur, der Wirtschaft und des Sports mit ihren Anhängern – also um gesellschaftliche Hegemonie. Unter Bolsonaro sind sie weit vorangekommen: 105 Abgeordnete und 15 Senatoren gehören heute zum sogenannten Bibel-Block, rund 20 Prozent des Kongresses. Und Bolsonaro nutzte seine Amtszeit, um einen «schrecklich evangelikalen» Verfassungs­richter zu berufen, wie er es ausdrückte.

Die fundamentalistische Rhetorik mündet mitunter in Gewalt: In einer evangelikalen Kirche der Grossstadt Goiânia wies der Pastor seine Gemeinde an, nicht für «rote Parteien» zu stimmen. Einer widersprach. Es kam zu Streit. Ein Militär­polizist aus der Gemeinde schoss dem Mann ins Bein.

Der Soziologe Marcos Nobre sagt im Falle einer Niederlage Bolsonaros eine «illoyale Opposition» voraus. «Illoyal in dem Sinn, dass sie antidemokratisch ist. Nur eine loyale Opposition hält Demokratien aufrecht.»

Tatsächlich sind die Appelle an demokratische Gepflogenheiten in Brasilien leer geworden, weil der Bolsonarismus Politik nicht mehr als eine Auseinander­setzung zwischen unterschiedlichen Ideen begreift, sondern als eine Art Krieg.

Selbst wenn man Lula also nicht für den idealen Kandidaten hält, muss man anerkennen, dass er sich innerhalb des demokratischen Spektrums befindet. Bolsonaro steht hingegen am extremen Rand. Er agiert zwar in einem demokratischen System, aber er sucht ständig nach Möglichkeiten, es zu diskreditieren und seine Regeln zu umgehen.

Sollte Lula da Silva am 1. Januar 2023 als neuer Präsident vereidigt werden, wird er ein völlig verändertes Land vorfinden. Ein Land, das vom Bolsonarismus radikalisiert worden ist und nicht mehr mit den alten Rezepten zu befrieden sein wird.

Am 7. September, als Jair Bolsonaro an der Copacabana sprach, ergriff auf einer Wahlkampf­veranstaltung in Fortaleza im Nordosten Brasiliens ein Mann das Mikrofon. Er heisst Delegado Cavalcante, ist Parlaments­abgeordneter im brasilianischen Bundes­staat Ceará und gehört zur Liberalen Partei PL von Bolsonaro. Einige hundert Menschen waren gekommen. Mit heiserer Stimme versprach der 64-Jährige: «Wenn wir nicht an den Urnen gewinnen, wenn die Urnen nicht verlässlich sind, dann werden wir mit Kugeln gewinnen. Mit Kugeln! Daran führt kein Weg vorbei. Wir werden mit Kugeln gewinnen.»

Die Menge applaudierte und johlte. Auf einem Video ist zu sehen, wie eine ganz normale Bürgerin die Hände zu einer Pistole formt und so tat, als würde sie um sich schiessen.

Zum Autor

Philipp Lichterbeck wurde 1972 in Frankfurt geboren. Er schrieb unter anderem für den «Tagesspiegel», «Die Zeit», die NZZ und die WOZ. Er lebt als freier Autor in Rio de Janeiro.