Frauen, an die Gitarren!

Dieser Festivalsommer zeigte einmal mehr: Musikerinnen haben auf den Schweizer Rock- und Popbühnen Seltenheits­wert. Das wird sich ändern. Warum? Weil es muss.

Von Leandra Reiser (Text und Bilder), 19.09.2022

Synthetische Stimme
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Wenn ich an früher zurückdenke, war ich immer nur von Männern umgeben. Nie habe ich hinterfragt, wieso ich oft die einzige Frau in Bands oder an einem Festival war.

Anisa Djojoatmodjo, Gitarristin.

Oh, du bist also die Freundin? Das habe ich schon häufig zu hören bekommen.

Leylah Fra, Bassistin und Bookerin.

Betrete ich eine Bühne, kommt man mir meistens helfen.

Regula Frei, Bassistin und Leiterin Fundraising und Konzeptarbeit bei «Helvetia rockt».

Es ist 2022 und noch immer ist da dieser Fakt, dass Musikerinnen auf Schweizer Rock-Pop-Bühnen im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen massiv unter­vertreten sind. Konkrete Zahlen dazu liefert die Analyse «Geschlechter­verhältnisse im Schweizer Kultur­betrieb» im Auftrag von Pro Helvetia und dem Swiss Center for Social Research vom vergangenen Jahr. Die Ergebnisse (die als Grund­lage für eine weiter reichende Studie dienen): Neben 91 Prozent Männern stehen gerade einmal 9 Prozent Frauen als Rock- und Pop­musikerinnen auf Schweizer Bühnen.

9 Prozent.

Zum Vergleich: Im selben Jahr war der Frauen­anteil im Maschinen­bau in der Schweiz gemäss Bundes­amt für Statistik doppelt so gross.

Bis zur Erhebung der Universität Basel war das Wissen über die genaue Geschlechter­verteilung in der hiesigen Musik­branche aufgrund fehlender Statistiken inexistent. Man konnte also nur vermuten, wie prekär die Situation für Frauen schon lange war.

Zündstoff für die Diskussion gibt es seit geraumer Zeit zur Genüge. Mit ihrem durch und durch männlichen Line-up hat das «Moon and Stars»-Festival diesen Sommer allerdings den Diskurs neu entfacht. Abgesehen von einer eher gezwungen wirkenden Entschuldigung erklärte der Festival­besitzer gegenüber dem «Tages-Anzeiger», dass es kaum weibliche Künstlerinnen gebe, «die nicht zu nischig, aber auch nicht zu erfolgreich und damit unbezahlbar seien».

Diese Ausrede klingt weder neu noch überzeugend. Sie klingt vor allem: faul.

Warum aber arbeiten weniger Frauen als Männer professionell in der Schweizer Musik­branche und warum sind auch auf den Bühnen so wenige Frauen sichtbar?

Wir stellen diese Frage zuallererst einer Frau, die mit ihrer Arbeit hinter der Bühne massgeblich dafür sorgt, dass sich auf der Bühne etwas tut: der Bookerin Monthira Wattakawanit.

«Viele haben Angst davor, die Hütte nicht vollzubringen»

Das Booking­business sei «a man’s world», sagt Wattakawanit, die als Bookerin Bands für Auftritte bucht. Sie ist seit drei Jahren im Winterthurer Salzhaus und noch länger als Booking-Assistenz beim M4Music-Festival tätig. In die Independent-Branche kam sie, weil das Mainstream­booking sie genervt habe. Wattakawanit möchte durch ihre Auswahl gezielt mehr Frauen auf die Bühne bringen. Dass es als Bookerin keine leichte Sache ist, ein ausgewogenes Spektrum an Acts zu buchen, ist für sie logisch: Denn divers sei ein Line-up nicht erst durch die Berück­sichtigung verschiedener Geschlechter, sondern auch verschiedener Genres oder Herkünfte der Künstlerinnen. «Aber 2022 ein vollständig männliches Line-up zu präsentieren, ist frech», sagt Wattakawanit. Sie vermutet, am «Moon and Stars»-Festival hätte man nur die Zahlen im Kopf gehabt. «Die hatten das Gefühl, die 10’000 Tickets können nur verkauft werden, wenn man die letzten fünf im Radio gespielten Künstler bringt.» Für viele Veranstalter spielt es laut der Bookerin eine zentrale Rolle, wie oft ein Lied im Radio gespielt und auf Musik­plattformen gestreamt wird oder wie viele Follower auf Instagram eine Musik­gruppe hat.

Dabei würde es längst dem Zeit­geist entsprechen, mehr auf das Geschlechter­verhältnis zu achten. «Viele haben trotzdem zu grosse Angst davor, die Hütte nicht voll­zubringen und trauen sich deshalb nicht, weniger bekannte Namen zu buchen», sagt Monthira Wattakawanit. Genau diese Verantwortung, der Wille und die Auseinander­setzung sind es, die für die Bookerin Teil ihrer Aufgabe sind. Sie ist überzeugt davon, dass die Schweizer Musik­szene im Büro, auf der Bühne, in der Technik, Produktion und Promo – schlicht auf allen Ebenen – dringend mehr Frauen benötigt.

Regula Frei, Leiterin Fund­raising und Konzept­arbeit beim Verein «Helvetia rockt», äussert sich ähnlich. «Wenn ein Festival von einem diversen Team geleitet wird, hat dies unmittelbar Auswirkungen auf das Netz­werk, die Community, das Programm und die Art und Weise, wie kommuniziert wird.» Anders kommunizieren bedeute etwa, dass Ansprachen über das männliche Geschlecht hinaus verwendet und Frauen auch in der schriftlichen Kommunikation direkt angesprochen würden. Frauen als Teil eines Gremiums erinnerten daran, dass sie auch als Teil des Programms aktiv inkludiert werden könnten. «So trivial ist es manchmal – eine gesunde Branche ist eine diverse Branche.» Ausserdem werde die Wirtschaftlichkeit – wie mehrere Studien belegen – durch gemischte Teams verbessert, betont Frei. Das sei in der Musik nicht anders.

Ein Muster­beispiel dafür: «Bands mit einer Frau oder mehreren Frauen sind durch­schnittlich erfolgreicher, was den Erhalt von Förder­geldern anbelangt, als Bands ohne Frauen», hiess es bereits 2018 in der damals vom Musik­netzwerk RFV Basel erhobenen Vorstudie über den Frauen­anteil in Basler Bands.

Und dann ist da noch die Sache mit der Quote. Eine Quote, für viele mittler­weile beinahe ein Schimpf­wort, ist für Regula Frei heute ein notwendiges Instrument: «Quoten sind nichts anderes als Ziele, die man sich setzt, um etwas messbar zu machen.»

Denn Quoten können eine nicht zu unterschätzende Folge haben, die für mehr Frauen auf und um Musik­bühnen sorgt: Sie schaffen Vorbilder.

Gerade in der Musik­technik fehlen Vorbilder

«Vor- und Nachmachen – das machen nicht nur Schimpansen, sondern auch wir ständig. Wenn ich immer nur Menschen auf Bühnen sehe, die männlich gelesen werden, komme ich als Frau nicht auf die Idee, Schlag­zeug zu lernen», sagt Regula Frei. Gerade etwa in Bezug auf Technik sei das immer noch ein grosses Thema.

Allerdings werden Frauen, selbst wenn sie auf der Bühne stehen, häufig nicht als Teil einer Band wahr­genommen. Leylah Fra, Bassistin in der Winterthurer Band Death of a Cheerleader und Bookerin in der Roten Fabrik in Zürich, erzählt, dass sie einmal fast nicht in den Backstage­bereich gelassen wurde, weil der «eben nur für die Band sei». Erfahrungen als «unsichtbare Musikerin» machte sie nach eigener Auskunft unzählige.

Dabei ist die Bühne logischer­weise der sichtbarste Ort für weibliche Musik­schaffende. Frauen abseits des Rampen­lichts – etwa Ton­technikerinnen­– sind laut Regula Frei noch viel seltener.

Sichtbar, weil auf den grossen Bühnen zu sehen und zu hören, sind zum Beispiel die jungen Musikerinnen Anisa Djojoatmodjo, professionelle Gitarristin, und Hannah Bissegger, Sängerin und Schlag­zeugerin. Auch sie berichten von einer spärlichen Bühnen­präsenz von Schweizer Frauen, wenn sie sich an ihre Kindheit erinnern. Heute haben sie selbst Vorbild­funktion, das Duo Ikan Hyu trat dieses Jahr unter anderem am deutschen Fusion Festival auf. Die beiden Musikerinnen sind davon überzeugt, dass Vorbilder junge Frauen zum Musik­machen ermutigen. Erst so werde dieser Karriere­schritt für sie normal. Studiert haben beide Frauen Pop­musik an der Zürcher Hoch­schule der Künste. Dass Hannah Bissegger schon früh den Weg in die Musik­branche eingeschlagen hat, liegt daran, dass sie bereits als Mädchen von Lehr­personen und ihrem Eltern­haus gefördert wurde: «Als ich mich nicht entscheiden konnte, rieten mir meine Eltern zum Schlag­zeug. Das sei doch voll cool, Klavier spiele jede.»

Ihre Band­kollegin Anisa Djojoatmodjo ergänzt: «Das Problem ist nicht, dass es zu viele Männer in der Branche gibt, sondern dass viele Frauen eine Karriere als Musikerin überhaupt nicht erst in Erwägung ziehen.»

Liegt der springende Punkt also bereits in der musikalischen Förderung von Kindern? Man kann nur darüber spekulieren, wie viele (vermutlich eher: wie wenige) Eltern es gibt, die ihre Töchter zum Schlagzeug­spielen ermutigen.

Wer studiert eigentlich Musik?

Aussage­kräftige Zahlen bietet ein Blick auf die Ausbildungs­stätte der beiden Musikerinnen, die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Zwar hat nicht jede Profi­musikerin an einer Hoch­schule studiert, hier lassen sich jedoch exemplarisch die Gender­vorurteile veranschaulichen, die sich seit Jahr­zehnten in der Pop- und Rock­musik halten. Die aktuellen Werte der Master­abschlüsse im Studien­gang Pop zeigen einen tiefen Geschlechter­graben: Während in den letzten elf Jahren 7 Männer und 11 Frauen den Master in Gesang abschlossen, sind es bei den Instrumenten 47 Männer und 4 Frauen.

Vier Instrumentalistinnen in elf Jahren? Das vermittelt das frustrierende Gefühl, es tue sich überhaupt nichts.

Und es kommt noch schlimmer. Schaut man sich die hochschul­internen Strukturen auf der Website der ZHdK genauer an, zeichnet sich gender­spezifisch in etwa eins zu eins ein Spiegel­bild der Verteilung der Studierenden ab. Ein Klick auf die Dozierenden der Musik­studiengänge Pop und Jazz, und es blicken einem 40 Männer- und 6 Frauen­gesichter entgegen. Die Dozentinnen sind allesamt Gesangs­lehrerinnen. Instrumente werden bis auf eine Ausnahme von Männern unterrichtet.

Wie begründet die ZHdK eine solche Verteilung?

«Vieles ist im Begriff, sich zu ändern. Gerade eben wurde für die Fächer Song­writing sowie Schlagzeug je eine neue Dozentin eingestellt», rechtfertigt sich Gregor Hilbe. Er leitet seit 2016 den Musik­studiengang Jazz und Pop. Noch. Im Oktober gibt Hilbe die Leitung ab. Sein ausdrücklicher Wunsch ist, dass er danach von einer Frau abgelöst werde. Dass die ZHdK divers aufgestellt ist, sei ihm wichtig.

An der Hoch­schule ist man sich des strukturellen Problems bewusst. Inzwischen, so Hilbe, arbeite die ZHdK mit Vertreterinnen des Support of Female Improvising Artists (Sofia) zusammen, biete zahlreiche Diversity-Workshops an und achte darauf, dass Jurys paritätisch besetzt werden. Hilbe glaubt, dass es grund­sätzlich in die richtige Richtung gehe. «Aber man wird auch ungeduldig.» Schon vor 15 Jahren habe es Bemühungen gegeben, das Problem anzugehen, meint der Studiengangs­leiter: «Aber wir können halt nicht steuern, wer sich bei uns anmeldet.»

Gregor Hilbe sieht das Problem ausserdem darin, dass heute der Bereich Rock und Pop in Musik­schulen nur marginal angeboten wird: «In der Schweiz dominiert im Musik­unterricht Klassik. Da sind wir noch sehr grund­ständig und geben den Kindern an den Schulen zu wenig Raum.» Andererseits glaubt er, dass der Kern des Geschlechter­ungleichgewichts tiefer liege und nur makro­perspektivisch erklärt werden könne.

Nach aussen hin entsteht ein verzerrtes Bild, weil ein paar wenige Hochschul­abgängerinnen – wie die Multi­instrumentalistin Marena Whitcher, Tiffany Limacher, bekannter als To Athena, oder eben Anisa Djojoatmodjo und Hannah Bissegger­– in der Öffentlich­keit sehr präsent sind. Auf mehr als 12 Prozent Anmeldungen pro Jahr von Instrumenta­listinnen kämen sie an der ZHdK seit 20 Jahren nicht, sagt Hilbe. Im Fach Gesang halte sich das Ungleich­gewicht ebenso hart­näckig – nur andersherum. Hier dominieren Frauen. Und das, obwohl sich bei musizierenden Kindern im Schul­alter noch eine ganz andere Verteilung abzeichnet. Laut dem Verband Musik­schulen Schweiz lernen etwa gleich viele Mädchen wie Jungen Instrumente an Musik­schulen. Zudem gebe es immer wieder Rück­schläge, sagt Gregor Hilbe. So wie die ernüchternden Zahlen der diesjährigen Anmeldungen zu den Hochschul­aufnahme­prüfungen: null Prozent Frauen für Instrumente, null Prozent Männer für Gesang.

Als das Cello unfruchtbar machte

Der geringere Anteil an Frauen, die eine professionelle Karriere als Instrumentalistin in der Pop- und Rockmusik in Erwägung ziehen, ist in Teilen auch historisch erklärbar.

Das weiss die Soziologin und Geschlechter­forscherin Diana Baumgarten. Sie hat an der anfangs erwähnten Studie über die Geschlechter­verhältnisse im Schweizer Kultur­betrieb an der Uni Basel mitgewirkt und setzt sich seit Jahren mit Geschlechter­rollen auseinander.

Im Gespräch erklärt sie, welchen Einfluss Stereo­type auf die Gender­verteilung auf Schweizer Bühnen haben:

Diana Baumgarten, was ist an einer Bass­gitarre männlicher als an Gesang?
Die eigene Stimme wird aus männlicher Perspektive häufig gar nicht als ein Instrument verstanden. Bei einer Bass­gitarre geht es um die virtuose Beherrschung eines Instruments, um Technik – beides gibt es beim Singen vermeintlich nicht. Daran zeigt sich, wie Musik, Musik­stile und Musik­instrumente vergeschlechtlicht sind, also geschlechter­stereotypischen Zuschreibungen unterliegen. Was Männer tun, hat mehr Wert als das, was Frauen tun.

Apropos Stereotype: In der Musik­pädagogik hört man oft, dass Musik ein stereo­typisches Mädchen­fach sei. Wieso ist hingegen das professionelle Berufs­feld eine Männer­domäne?
Es ist dasselbe wie beim Kochen. Die alltägliche, repetitive Fürsorge, für welche man keine Reputation erhält, gilt als Frauen­sache. Aber die grossen Star­köche sind häufig männlich. Dort, wo es um Anerkennung und Sicht­barkeit geht, dominieren typischer­weise Männer. Etwa bis ins 19. Jahrhundert waren Frauen ausserdem von Musik­hochschulen ausgeschlossen und konnten nur privat Instrumente erlernen – und wenn, dann nur solche, die der Frauen­rolle entsprachen.

Das heisst?
Ein Cello etwa galt für Frauen als unpassend, weil zum Spielen die Beine unsittlich gespreizt würden. Zudem tauchten ähnliche Argumente auf wie beim Velo­fahren: Dort werde die Gebär­mutter erschüttert, was zu weiblicher Unfrucht­barkeit führe. In der Musik hiess es oft, dass gewisse Instrumente Körper­teile physisch verformen würden. Daran wird deutlich, wie Instrumente, welche die weibliche Geschlechter­norm unter­graben – zart und harmlos auszusehen etwa statt wild und mächtig –, als nicht zu Frauen passend erachtet wurden. Dieser Topos existierte bereits bei den alten Griechen. Bei Blas­instrumenten gilt: Je tiefer und blechiger das Instrument klingt, desto männlicher wird es wahr­genommen. Deshalb war Posaune für Frauen ein No-Go. Auch heute gibt es kaum Frauen, die Wald­horn oder Tuba spielen, wie eine aktuelle Studie zur Geschlechter­verteilung in deutschen Berufs­orchestern zeigt.

Wie sehr beeinflusst die Erziehung heute noch die Unterrepräsentation von Frauen in der Schweizer Musik­szene?
Das fängt bei der Geburt oder bereits davor an. Wenn ein Kind sich im Bauch fest bewegt, ist es ein Junge, wenn es still ist, ist es ein Mädchen. Geschlechter­normen, also die Vorstellung davon, was ein «richtiges Mädchen», ein «richtiger Junge» ist, sind nach wie vor stark präsent in unserer Gesell­schaft. Solche vergeschlechtlichte Zuschreibungen prägen spätere Verhaltens­weisen. Somit trauen sich Frauen oftmals weniger zu, vor Leuten zu stehen, unterschätzen dabei ihre Fähigkeit, ein Musik­instrument zu beherrschen, oder glauben, nicht zu laut sein zu dürfen.

Und wo findet der Übergang ins Geschlechter­ungleichgewicht konkret statt?
In der musikalischen Sozialisation greifen Gesellschaft, das Eltern­haus und Schulen ineinander. Das passiert ganz subtil, etwa an offenen Anlässen von Musik­schulen: Zu welchem Instrument ermuntere ich mein Kind? Welche Instrumente bieten die Lehr­personen welchem Kind an? Ausserdem mangelt es an Vorbildern. Wie oft sehen Mädchen eine Frau am Schlag­zeug sitzen? Wie oft Jungen einen Mann Harfe spielen?

Entscheidend ist also die Instrumenten­wahl?
Zu einem grossen Teil, ja. Mit Bemerkungen wie «Das ist aber ziemlich laut» oder Rat­schlägen wie «Willst du nicht lieber …» oder «Das ist nichts für Mädchen» kommen unbewusst und ungewollt alle Stereo­type, die wir verinnerlicht haben, zum Tragen. Es sind neben­sächliche Sätze, und doch bewirken sie viel. Kinder wider­sprechen solchen Kommentaren in den wenigsten Fällen.

Sie schreiben in Ihrer Studie, dass gemäss historisch-traditionellen Geschlechter­rollen­bildern Männern allein schöpferisches Können zugeschrieben wurde, während Frauen lediglich als Musen galten. Wo spiegelt sich dieser Mythos heute wider?
Zum Beispiel in den Zweifeln, die Künstlerinnen bekommen, wenn sie Mutter werden. Dass sie das Gefühl haben, ihre künstlerische Identität werde dadurch auf irgendeine Weise beschädigt. Männer stellen sich als Künstler – auch wenn sie Väter sind – viel seltener infrage. In der Realität steht Musikerinnen Familien­planung nicht auf identitärer, sondern auf struktureller Ebene im Wege. Sie werden zu wenig dabei unterstützt, beides zu vereinbaren. Gesellschaftliche Vorstellungen, wie eine richtige Mutter sich zu verhalten hat, kollidieren mit den Anforderungen des professionellen Alltags wie etwa Auftritten am Abend.

Was wäre der geeignetste Ansatz für eine strukturelle Veränderung in der Musik­branche?
Es gibt keine Hierarchie an Massnahmen, sondern ein Spektrum an Faktoren, die zusammen­wirken müssen. Der Austausch zwischen Verbänden und existierenden Initiativen ist sehr wichtig. Ich finde aber auch die kritische Haltung des Publikums positiv, die Veranstaltern mit rein männlichen Line-ups mittlerweile oft Feedback dazu gibt.

Spätzünder Schweiz?

Wirft man einen Blick über die Schweizer Landes­grenzen hinaus in den nicht-deutschsprachigen Raum, sieht die Situation teilweise viel besser aus. Das stellte Sophie Hunger bereits letztes Jahr im «Spiegel» fest: «Alle Festivals, die weltweit ton­angebend sind, streben nach Ausgeglichenheit: vom Prima­vera Sound am Mittelmeer­strand in Barcelona bis zum Ice­land Air­waves, wo bereits 2019 50 Prozent Frauen spielten.» Die geschlechter­paritätischen Bestrebungen dieser Festivals hielten sich auch nach der zweijährigen Zwangs­pause. Und lieferten Rekord­zahlen: Die 200’000 Tickets fürs Primavera Sound, welches die Anzahl Konzerte 2022 verdoppelte, waren bereits nach einer Woche ausverkauft. Gregor Hilbe verweist auch auf Norwegen, wo der Frauen­anteil an Instrumentalistinnen an Musik­hochschulen 35 Prozent betrage.

Man fragt sich unwillkürlich, ob die Schweiz wie bei der Einführung des Frauen­stimmrechts 1971 wieder bei den Schluss­lichtern ist, wenn es darauf ankommt, sich um eine bessere weibliche Repräsentation zu bemühen, in diesem Fall die Repräsentation auf den Bühnen.

Welt­weit betrachtet gibt es Bewegung: Die Online-Datenbank und Vernetzungs­plattform female:pressure verzeichnete in den letzten 10 Jahren einen Anstieg des Anteils weiblicher Künstler in Festival-Line-ups von 9 auf 27 Prozent. Die grössten Frauen­anteile mit im Durchschnitt mehr als 36 Prozent haben Festivals in Slowenien und Schweden – dicht gefolgt von Norwegen. Ausserdem haben sich bereits über 500 Organisationen und Musik­festivals aus 12­Ländern – unter anderem der Schweiz – dem Netzwerk Key­change angeschlossen, das auf eine vollständige Gleich­stellung der Geschlechter in der Musik­industrie hinarbeitet. Und trotzdem: «Das Problem von zu wenig Frauen auf Bühnen wird sich nächstes Jahr noch nicht als erledigt zeigen», glaubt Leylah Fra. «Die Welle, die momentan durch­zieht, ist erst ein Anfang. Aber ein wichtiger.»

Veranstaltungen wie das B-Sides Festival, das Gurten­festival und die Bad Bonn Kilbi beweisen, dass es klappen kann mit den ausgeglichenen Line-ups, auch in der Schweiz. Einige Club­häuser wie die Rote Fabrik versuchen die Schwelle für Frauen in der Technik­branche tiefer zu legen und bieten explizit Praktika für Technikerinnen an. Der Verein «Helvetia rockt» animiert mit Workshops junge Frauen und non-binäre Menschen zum Musik­machen, Auflegen und Auftreten. Mithilfe von Coaches als Vorbildern vermitteln sie Selbst­bewusstsein auch für eine mögliche professionelle Karriere. Nebst einer Diversity Roadmap, die einfache Empfehlungen für mehr Diversität und Gleichstellung in Clubs und an Festivals liefert, hat «Helvetia rockt» das Music Directory ins Leben gerufen – ein Verzeichnis zur Vernetzung und Sichtbarkeit für Frauen, inter, non-binäre und trans Menschen in der Schweizer Musik­branche.

Vor kurzem machte das Netzwerk Key­change auf die Ergebnisse einer Studie des Gitarren­konzerns Fender aufmerksam: Frauen bestimmen den aufstrebenden Gitarren­markt mit. Wie viele unter den Gitarren­anfängern und ambitionierten Spielerinnen Frauen sind?

Na, die Hälfte.

Zur Autorin

Leandra Reiser hat in Winterthur Journalismus studiert. Sie ist Redaktorin beim «Coucou» Kultur­magazin. Diese Recherche entstand im Rahmen einer Bachelor­arbeit an der Zürcher Hoch­schule für Angewandte Wissenschaften.