Der neue Umgang mit Raubkunst
Bern präsentiert eine grosse Gurlitt-Ausstellung. Basel zieht mit einer Hommage an den jüdischen Curt Glaser nach. Die Schweiz stellt sich damit endlich ihrem Erbe.
Von Antje Stahl, 17.09.2022
Am Donnerstag lud Basel-Stadt zu einer Medienkonferenz ins Museum der Kulturen am Münsterplatz. Die kantonalen Museen betrieben nun «aktiv Provenienzforschung», sollte noch schnell verkündet werden, bevor die Hauptstadt Bern schon wieder allen die Schau stiehlt.
Seit Freitag läuft im Kunstmuseum Bern nämlich eine grosse Ausstellung über die vorläufige «Bilanz» der Erforschung der Sammlung Gurlitt. Auf zwei Etagen kann man sich einen Überblick verschaffen darüber, wie, gemäss der kodifizierten Formel, ein «gerechter und fairer» Umgang mit Kunstwerken ausschauen muss, die während der NS-Zeit ihren Besitzer wechselten beziehungsweise direkt oder indirekt aufgrund der Nazi-Verfolgung wechseln mussten: Zuletzt übergab das Kunstmuseum Bern zwei Aquarelle (eine vornehme «Dame in der Loge» und eine «Dompteuse» in Stiefeln und mit Peitsche, beide aus dem Jahr 1922) von Otto Dix an die Erben der Kunstsammler Dr. Ismar Littmann und Dr. Paul Schaefer.
Dass in dieser Sache von «übergeben» und nicht etwa von «restituieren» gesprochen wird, ist keine blosse Stilfrage. Die Wortwahl ist entscheidend, denn der streng juristische Terminus der «Restitution» würde nicht nicht auf den Sachverhalt zutreffen: Die Dix-Aquarelle wurden von der damals so genannten Preussischen Geheimen Staatspolizei 1935 in der Buch- und Kunsthandlung von Max Perl in Berlin zwar erwiesenermassen erstmals beschlagnahmt. Für eine abschliessende Rekonstruktion früherer Besitzer fehlen jedoch entscheidende Dokumente. «Möglicherweise» gehörten Dr. Ismar Littmann und Dr. Paul Schaefer aber eben dazu. Das Kunstmuseum entschied sich also nicht aus rechtlichem Zwang für die «Übergabe» an ihre Erben, sondern weil es plausible Provenienzszenarien abwog und moralisch Verantwortung übernahm. Nicht umsonst setzt das Kunstmuseum Bern neue Standards in der Restitutions- beziehungsweise Rückgabepraxis, die weltweit auf Anerkennung stossen.
Nur hierzulande beeindruckt das bekanntlich nicht jeden: Kunsthaus Zürich und Bührle-Sammlung dürften da als Stichworte erst einmal genügen. Basel jedoch tickt heute anders: Hier organisierte man die besagte Medienkonferenz und organisiert die Ausstellung «Der Sammler Curt Glaser», in der es ebenfalls um den Umgang mit vorbelasteten Werken und die moralischen Verpflichtungen von Schweizer Museen geht. Auch Basel möchte nun die eigene Best Practice vorführen. Doch jetzt hat erst einmal Bern eröffnet.
Das Erbe Gurlitt
Das Kunstmuseum Bern baute die Sammlung Gurlitt nicht selbst auf. Sie wurde ihm von Cornelius Gurlitt, dem Sohn des NS-Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt, vollständig vererbt. Wenn es um den «gerechten und fairen» Umgang mit Raubkunst geht, wird gerne an eine eigenartige Kehrtwende in der Gurlitt-Story erinnert. Sie war ja auch ein ausgewachsener Krimi.
Im Jahr 2010 wurde ein älterer Herr im Zug von Zürich nach München vom Zoll kontrolliert, die bayerische Staatsanwaltschaft ermittelte in der Folge wegen des Verdachts auf Steuerhinterziehung und entdeckte in seiner Wohnung im Münchner Viertel Schwabing eine riesige Kunstsammlung mit mehr als 1600 Werken. Erst im Jahr 2013 bekam das deutsche Nachrichtenmagazin «Focus» Wind von der Sache und stellte den Fall sofort unter den Generalverdacht «Nazi-Schatz». Journalistinnen aus dem In- und Ausland reisten an und jagten «Das Phantom» («Spiegel»), das «verschollene Kunstwerke, unter anderem von Picasso, Matisse, Chagall, Marc und Dürer, Wert: über eine Milliarde Euro?» («Focus») bei sich gebunkert haben sollte.
Der ältere Herr im Zug war Cornelius Gurlitt. Er notierte dazu in seinem Kalender «wüste Klingel-Tumulte» und «Karstadt Schwabing Verhörs-angriffe auf der Strasse» und verstand nichts mehr. 2014 willigte er ein, dass die Taskforce «Schwabinger Kunstfund» die Provenienzen, also die Herkünfte der Werke, erforschen und als Raubkunst identifizierte Objekte an die rechtmässigen Eigentümerinnen zurückgeben kann. Im Mai 2014 jedoch stirbt Cornelius Gurlitt mit 81 Jahren, in seinem Testament setzt er die Stiftung Kunstmuseum Bern als Alleinerbin ein.
Bis heute wird über die Gründe für dieses Legat gerätselt. Und es wurden enorme Anstrengungen unternommen, um die Rätsel um die Gurlitt-Sammlung aufzuklären.
Die Lücken der Rekonstruktion
Eine lückenlose Provenienz konnte zwar nur bei den wenigsten Werken nachgewiesen werden. Dafür müssen sie Stempel, Beschriftungen mit spezifischen Nummern oder aufgeklebte Etiketten aufweisen. Beim Porträt von Maschka Mueller zum Beispiel, der Ehefrau des Expressionisten Otto Mueller, die er um 1924 auf einer Leinwand verewigte, war das der Fall. Da haben Galerien und Museen, das Schweizer Zollamt und nicht zuletzt das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, welches das Kunstwerk während der NS-Zeit für «entartet» erklärte und beschlagnahmte, jeweils zweifelsfrei ihre Spuren auf dem Rahmen hinterlassen.
Doch bei einer Kaltnadelradierung von Rudolf Grossmann, um ein anderes Beispiel herauszugreifen, gestaltete sich die Herkunftsrekonstruktion schon sehr viel schwieriger. Da musste erst einmal das Passepartout einer Zeichnung von Otto Dix gefunden werden, das gar nicht für die Dix-Zeichnung, sondern eigentlich für die Kaltnadelradierung von Grossmann angefertigt worden war, dann aber so beschnitten wurde, dass es auf Dix passte.
In der aktuellen Bilanz-Ausstellung im Kunstmuseum Bern liegen die Beweise dieser mikroskopischen Forschung in einer Vitrine. Grossmanns «Conversation» aus dem Jahr 1920, so lässt sich daraus ableiten, gehörte einmal dem Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin. Kunstgeschichte als Detektivarbeit.
Raubkunst, eine Auslegungssache?
Im Anschluss an die historischen Forschungen wurden die Werke kategorisiert. Seit dem Fund stand ja der Verdacht «Nazi-Schatz» im Raum, und es war der Bundesrepublik Deutschland und dem Freistaat Bayern ein unverhandelbares Anliegen, dass das historische Unrecht aufgearbeitet wird. Um das Gurlitt-Erbe antreten zu können, musste sich das Kunstmuseum Bern deshalb in einem Abkommen mit Bayern und der Bundesrepublik dazu verpflichten, die bereits in Deutschland unternommenen Abklärungsbemühungen weiterzuführen, die Provenienzforschung nach vorgegebenen Grundsätzen durchzuführen und sich allfälligen Restitutionsansprüchen verantwortungsvoll zu stellen.
In Deutschland wie in der Schweiz (und vielen anderen Ländern) hatte man sich schliesslich bereits 1998 zu den «Principles on nazi-confiscated art» im Rahmen einer Konferenz in Washington bekannt. Der Schweizer Umgang mit den Washingtoner Prinzipien war bisher allerdings ein anderer als in Deutschland.
Schon im Titel der internationalen Vereinbarung von Washington wird ersichtlich, dass sich der Hauptfokus zunächst auf Kunstwerke und Kunstgegenstände richtete, die von den Nationalsozialisten konfisziert, das heisst beschlagnahmt wurden. Im deutschen Sprachgebrauch und Schriftverkehr werden solche Werke auch als NS-Raubkunst bezeichnet. Allerdings stand im Anschluss an die Konferenz von Washington die Frage im Raum, wie weit der Begriff der Konfiskation von Kunst gefasst werden sollte.
Wenn das NS-Regime jüdische Besitzer von Kunstwerken ganz einfach expropriierte, also die Gestapo vorfuhr und die Bilder mitnahm, war die Bewertung eindeutig. Aber was ist mit Bildern, die jüdische Besitzer in finanzieller Not auf dem «freien Markt» verkaufen mussten, zum Beispiel weil sie auf der Flucht waren vor dem Nazi-Terror?
In der Bundesrepublik Deutschland einigte man sich schon 1999 auf eine Definition von Raubkunst, die den Begriff bewusst weit fassen und Fälle von erzwungenen Verkäufen mit einschliessen wollte. Demnach sollten alle Kunstwerke restituiert oder eine «gerechte und faire Lösung» mit den Erben ihrer einstigen Besitzerinnen gefunden werden, die «NS-verfolgungsbedingt» entzogen wurden. Dazu zählen dann auch Gegenstände, die unter Zwang verkauft wurden, deren Verkaufserlöse eine Flucht finanzieren oder, beispielsweise bei Berufsverbot, die Existenz sichern mussten.
In der Schweiz war die dominierende Rechtsauffassung bis vor kurzem eine andere. Obwohl – oder gerade weil? – die Schweiz eine Hauptdrehscheibe für den Handel mit Kunstwerken aus dem Besitz von jüdischen Flüchtlingen gewesen ist, wurde solches «Fluchtgut» nach helvetischer Praxis nicht als Raubkunst und deshalb auch nicht als moralisch belastet oder gar restitutionswürdig betrachtet.
Das ist umso erstaunlicher, als in der sogenannten Theresienstädter Erklärung von 2009, welche sich als eine Präzisierung und Fortentwicklung der Washingtoner Grundsätze versteht, festgehalten wird, dass für alle «NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kunstgegenstände» faire und gerechte Lösungen gesucht werden müssen. Wie Deutschland hat auch die Schweiz die Theresienstädter Erklärung unterschrieben. Dennoch ist die Eidgenossenschaft bei der Unterscheidung zwischen Raubkunst und Fluchtgut geblieben – bis sich nicht zuletzt unter dem Druck des Bührle-Skandals der Begriff des «NS-verfolgungsbedingten Verlustes» nun durchzusetzen beginnt. Aufgrund der Übernahme des Gurlitt-Nachlasses ist Bern in dieser Hinsicht der übrigen Schweiz jedoch um Jahre voraus gewesen.
Aufarbeitung in Deutschland
Man muss rückblickend allerdings anmerken, dass Deutschland der Erforschung der Raubkunst im Sinne der durch NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kunst zunächst seinerseits nicht besonders viel Raum schenkte. Die 2003 an der Berliner Freien Universität neu gegründete Forschungsstelle «Entartete Kunst» konzentrierte sich auf den Verlust, den deutsche Museen während der NS-Zeit verzeichnen mussten. Das «Gesetz über Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst» vom 31. Mai 1938 hatte das Propagandaministerium dazu befähigt, Kunstwerke aus Museumsbeständen zu beschlagnahmen. In Berlin und dann auch an der Universität Hamburg wurden die Propaganda sowie die Deviseneinnahmen erforscht, die durch den Verkauf dieser «entarteten» Werke ins Ausland erzielt wurden, die Künstlerbiografien und -schicksale standen ebenfalls im Fokus.
Letztlich kümmerte man sich damit aber vorrangig um die Institutionen und das Kulturerbe des deutschen Staates, der sich selbst beraubt hatte. Das Gesetz, das die Beschlagnahmungen in den Dreissigerjahren legalisierte, wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nie widerrufen. Das heisst, dass deutsche Museen keinen Anspruch auf diese damals aus ihren Beständen entfernten Werke haben, auch wenn einzelne Institutionen gelegentlich den Versuch machen, sich öffentlich als Geschädigte zu inszenieren.
Erst als der Kunstfund Gurlitt international für Schlagzeilen sorgte, änderte sich das grundsätzlich. Nun standen in Deutschland eine Taskforce und ab 2015 nicht zuletzt das neue Deutsche Zentrum Kulturgutverluste bereit, die sich «im Nationalsozialismus verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut insbesondere aus jüdischem Besitz» in vollem Umfang widmeten. Auch der «freie Kunstmarkt» zur Nazi-Zeit wurde endlich zu einem Thema.
NS-Kunsthändler Hildebrand Gurlitt
Hildebrand Gurlitt, der seinem Sohn Cornelius seinen Besitz hinterliess, war ein studierter Kunsthistoriker, der enge Bekanntschaft zu Künstlerinnen der Dresdner Sezession, des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit pflegte. Seine Direktorenstelle im König-Albert-Museum in Zwickau musste er 1930 räumen, nachdem ein sogenannter Kampfbund für deutsche Kultur gegen sein progressives Programm gewettert hatte. Dies verschaffte ihm zwar nicht «für alle Zeiten Anerkennung», wie sein Vater gehofft hatte, seinen Ruf als Verfechter einer von den Nazis diffamierten deutschen Moderne festigte es jedoch bis zu seinem Lebensende.
Da er auch seine nächste Anstellung als Direktor des Hamburger Kunstvereins verlor – er «kletterte auf das Dach und sägte dort eigenhändig den Fahnenmast ab», an dem das Hakenkreuz aufgehängt werden sollte (Maurice Philip Remy schrieb das Buch «Der Fall Gurlitt», in dem er solche Szenen detailliert festhält) –, gründete Hildebrand Gurlitt ein Kunstkabinett.
Obwohl seine Grossmutter einer jüdischen Familie entstammte, gelang es ihm aber in der Folge, sich dem NS-Regime anzudienen: Die beschlagnahmten Werke «entarteter» Kunst wollte das Propagandaministerium gegen Devisen ins Ausland verkaufen. Gurlitt wurde einer der vier Händler, die diesen Plan umsetzten. Nach dem Krieg leitete er den Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen und starb Mitte der Fünfzigerjahre in Oberhausen.
Dass die Hinterlassenschaft des Hildebrand Gurlitt brisant ist, erschliesst sich aus dieser Karriere. Es mussten neue Kategorien von der deutschen Taskforce erfunden werden, um die 1600 Werke zu sortieren, die in der Wohnung seines Sohnes Cornelius und in dessen Haus in Salzburg gefunden wurden. Sie bilden, weil sie das Werk-Konvolut gemäss verschiedenen Farbcodes sortieren, ein sogenanntes Ampelsystem: Grün = keine Raubkunst, Gelb = ungeklärte Provenienz, Rot = Raubkunst. Das Kunstmuseum Bern verpflichtete sich mit der Annahme des Erbes vertraglich dazu, sowohl diese Kategorien als auch die erweiterte Definition der Raubkunst aus Deutschland in ihre Praxis zu übernehmen.
Bezeichnenderweise reagierte der Schweizer Bundesrat 2014, bei Abschluss des Gurlitt-Abkommens zwischen dem Kunstmuseum, der Bundesrepublik und dem Freistaat Bayern alles andere als erfreut: Die «Bundesrepublik Deutschland» habe sich «in Anbetracht ihrer historischen Verbindungen» für bestimmte Restitutionsgrundsätze entschieden und diese «für ihr Hoheitsgebiet festlegt». Die vertraglich vereinbarte Auslegung binde das Kunstmuseum Bern, aber «nicht Dritte, wie weitere Museen in der Schweiz oder den Bund», wird betont.
Die Schweizer Landesregierung wollte offensichtlich vermeiden, dass nun nicht nur «konfiszierte» Kunstwerke Gegenstand rechtlicher Auseinandersetzungen werden, sondern auch solche, die während der NS-Zeit von Verfolgten in die Schweiz verkauft wurden. Es waren und sind nicht wenige.
Rückblick nach Basel: Ankäufe von Kunst jüdischer Sammler
Das Kunstmuseum Basel zum Beispiel ersteigerte im Mai 1933 an einer Auktion beim bereits erwähnten Berliner Buch- und Kunsthandel Max Perl 200 Zeichnungen und Druckgrafiken, die aus der Sammlung von Curt Glaser stammten.
Glaser, geboren 1879 in Leipzig als Sohn einer jüdischen Familie, verlor nach der Machtergreifung Adolf Hitlers und der NSDAP seine Direktorenstelle in der Kunstbibliothek Berlin. Auch das Bürogebäude, in dem er wohnte, wurde von der Gestapo beschlagnahmt. Der Verkauf seiner Sammlung, die er noch während seiner Laufbahn am Kupferstichkabinett als Kunstkritiker und Freund von Edvard Munch aufgebaut hatte, wurde demnach unter äusserstem Druck in die Wege geleitet. Im November 1933 hielt er sich bereits in der Schweiz am Lago Maggiore auf, einen Teil seiner Sammlung brachte Glaser im Kunsthaus Zürich in Sicherheit (vier Gemälde von Edvard Munch, die heute Millionen wert sind). 1941 emigrierte er in die USA, wo er zwei Jahre später starb.
Aufgrund dieser Geschichte gingen die Nachfahren von Curt Glaser davon aus, dass sie einen Anspruch auf diese Kunstwerke haben, und wandten sich 2004, also einige Jahre, nachdem die Washingtoner Prinzipien «on nazi-confiscated art» von der Schweiz unterschrieben worden waren, ans Kunstmuseum Basel. Wenn man den Entscheid von damals liest, versteht man, warum Basel in seiner aktuellen Medienkonferenz zum Thema mit aktiver Provenienzforschung wirbt. Lange Jahre wurde gewissermassen inaktive Provenienzforschung gepflegt.
2008, nach «umfassende(r) und sehr sorgfältige(r) Prüfung», einer «Analyse und objektive(n) Einschätzung der Geschichte» erklärte der Regierungsrat:
«Das Kunstmuseum Basel hat im Jahre 1933 die Werke in der Auktion gutgläubig erworben und über 70 Jahre in unangefochtenem Besitz und Eigentum gehabt. Es gab zum Zeitpunkt der Auktion keinerlei Hinweise im Auktionskatalog oder in sonstigen Publikationen, dass die Kunstwerke aus der Sammlung von Dr. Curt Glaser stammen. (...) Die für die Werke bezahlten Preise waren ‹zeittypisch› bzw. marktkonform. (...) Das Kunstmuseum hat die in solchen Fällen erforderliche Sorgfalt walten lassen, zu weiteren Nachforschungen oder Erkundigungen nach der Person des Einlieferers gab es weder Anlass noch die Verpflichtung. Die berüchtigten so genannten ‹Judenauktionen›, bei welchen beschlagnahmter Besitz verfolgter Juden zu Schleuderpreisen veräussert wurde, fanden im nationalsozialistischen Deutschland erst ab 1938 statt.»
Ein Jahr später, 2009, versuchten Glasers Nachfahren, den Bund zu involvieren, und appellierten an die Anlaufstelle Raubkunst im Bundesamt für Kultur (BAK). Der Kanton Basel-Stadt verbot sich jedoch jede Einmischung, und der Entscheid blieb unangefochten – bis im Jahr 2017 auch in Basel eine Kehrtwende kam. Die Rechtsvertreter der Glaser-Erben kontaktierten erneut das Präsidialdepartement von Basel-Stadt. Und der Regierungsrat berief sich nicht mehr auf seinen formalen Entscheid von 2008. Stattdessen sollte nun die sogenannte Kunstkommission des Kunstmuseums Basel zur Klärung des Falls herangezogen werden.
Die Kunstkommission berät die Museumsdirektion und entscheidet auch über Ankäufe. Gerade erst war Felix Uhlmann zu ihrem neuen Präsidenten berufen worden. Der Jurist, der über «Gewinnorientiertes Staatshandeln» promovierte, als Professor an der Universität Zürich arbeitet (und neuerdings auch als Vorsitzender des «Runden Tischs» auch in die aktuelle Überprüfung der Bührle-Provenienzforschung involviert ist), unterzeichnet im November 2018 schliesslich das Positionspapier «in Sachen Curt Glaser», das alles ändert.
Moralische Kehrtwende
«Die Kunstkommission und der Direktor des Kunstmuseums Basel Otto Fischer (1886–1948)», heisst es in dem Positionspapier, «kannten 1933 die Herkunft der Zeichnungen und Druckgrafiken aus der Auktion 180 bei Max Perl. In der Sitzung der Kunstkommission wurden die getätigten Ankäufe als ‹billig› sowie ‹schön› und ‹günstig› bezeichnet.»
Das Gutachten empfiehlt zwar nicht, die Werke zu restituieren, aber es macht den Vorschlag, den Kunstsammler und seine Geschichte angemessen zu würdigen und nicht zuletzt: die Erben finanziell zu entschädigen.
Auf 169 Seiten und in fast 900 Fussnoten (plus mehr als 20 Seiten Anhang) wird eine vorbildliche und beeindruckende Provenienzforschung ausgebreitet, die kleinteilig nachweist, dass das Kunstmuseum Basel über Glasers Schicksal informiert war – und die Verkaufserlöse der Auktion ins Verhältnis setzte zum Schätz- und Marktwert der Werke. Im Schnitt erhielt Curt Glaser wie zu erwarten: weniger als erhofft.
Ausserdem wird nicht versäumt, an die politische Situation von Jüdinnen in der Schweiz zu erinnern. Diese wurden nicht als politisch Verfolgte anerkannt und konnten folglich kein Asyl beantragen. «Politische und wirtschaftliche Institutionen» lehnten «Ausländer generell, besonders aber Juden» ab. Sie sahen «in der politischen Linken eine Gefahr» und versuchten, «jede wirtschaftliche Konkurrenz durch Ausländer auszuschalten». 1942 schloss die Schweiz ihre Grenzen.
Im «Transitland» Schweiz konnten verfolgte Juden ihre Kunst zwar verkaufen, ein sicherer Aufenthalt wurde ihnen jedoch nicht gewährt. Aus der Not der Fliehenden wird aber eben nicht die Tugend eines anderen. Deshalb hat das Kunstmuseum Basel Curt Glasers Nachfahren mittlerweile entschädigt (Summe unbekannt) und würdigt nun den Kunstsammler, wie von der Kunstkommission empfohlen. Im Oktober eröffnet eine Schau «mittlerer Grösse» im Untergeschoss. Ausserdem kümmerten sich Forscherinnen um die Aufarbeitung der Ankäufe von «entarteter Kunst», die den Ausbau der hauseigene Sammlung während des Zweiten Weltkriegs prägen, wie etwa der «Bauernmittag» von Ernst Ludwig Kirchner. Auch diese Schau eröffnet bald.
Über die neue Transparenz
«Dass die Berner wieder Gurlitt machen» wusste Anita Haldemann nicht. Im Gespräch mit der Republik erzählt sie, dass ihre Glaser-Schau im Kunstmuseum Basel ein ums andere Mal verschoben werden musste. Sie selbst arbeitet seit zwanzig Jahren am Haus, war also vor Ort, als Entschädigungsforderungen von Glasers «entfernten Verwandten» noch kategorisch abgelehnt wurden. Sie erinnert sich allerdings nicht daran, dass der Entscheid unter ihren Kollegen diskutiert wurde oder sich gar jemand darüber empörte. «Die Fakten» seien wohl nur dem Leitungsgremium und externen Anwältinnen bekannt gewesen, es habe keine «Transparenz» zu diesem «Thema» geherrscht. Den Sinneswandel erklärt Haldemann, die mittlerweile zur Direktorin des Kupferstichkabinetts aufgestiegen ist, mit einem «Generationenwechsel».
Im Kunstmuseum Bern spricht Nina Zimmer hingegen von einer kategorischen Abwehrhaltung. Sobald Erben – oder schlimmer: Anwälte – sich bei Museen meldeten, werde jede Kommunikation verweigert. Dabei könnten persönliche Auskünfte der Provenienzforschung die entscheidenden Hinweise liefern. Nina Zimmer ist heute Direktorin des Kunstmuseums Bern, hat zuvor aber auch im Kunstmuseum Basel gearbeitet. Der «Generationenwechsel» ist also kein Personalwechsel, das alte Personal hat inzwischen Entscheidungsmacht. Und heute handelt man anders.
Nachdem das Kunstmuseum Bern das Legat Gurlitt erhalten und seine eigene Arbeit begonnen hatte, überdachte es denn auch seinen mit der Bundesrepublik Deutschland und dem Freistaat Bayern vereinbarten Vertrag. Im Kern ging es vor allem um das besagte Ampelsystem: Grün = keine Raubkunst, Gelb = ungeklärte Provenienz, Rot = Raubkunst.
Unter der neuen leitenden Provenienzforscherin Nikola Doll wurde diese Ampel um zwei weitere Kategorien ergänzt: Gelb-Grün und Gelb-Rot. Wenn eine Eigentumsgeschichte nicht abschliessend geklärt werden kann, aber alles darauf hinweist, dass die Provenienz des Werkes nicht belastet ist, bleibt es im Besitz des Kunstmuseums. Sollte es jedoch gegenteilige Hinweise geben, sollen diese Spuren nicht verwischt werden – das Werk könnte ja auch dann, wenn sich viele Fragen nicht definitiv klären lassen, restituiert oder eine andere Lösung gesucht werden.
Nach acht Jahren Forschung möchte das Kunstmuseum Bern gewährleisten, dass immer «sämtliche Rechercheergebnisse in die Entscheidung miteinfliessen». Ohne diese Änderung wäre es zur besagten Übergabe der eingangs erwähnten Aquarelle von Otto Dix – der vornehmen «Dame in der Loge» und der «Dompteuse» mit Stiefel und Peitsche – eben nicht gekommen.
In der Bilanz-Schau (die ziemlich grau geworden ist: alle Wände wurden grau angestrichen, lediglich neongelbe Klebestreifen erhellen die Räume, sie stehen für unauffindbare Bilder) trifft man auf viele «Sackgassen». Unter den rund 1400 Blättern befinden sich etwa 800 Druckgrafiken, die in hohen Auflagen existierten. Oft waren sie Bestandteile sogenannter Mappenwerke, die nach Themen zusammengestellt wurden. So skizzierte Otto Dix die Verbrechen des Ersten Weltkriegs in einem Zyklus, der aus 50 Blättern besteht. Im Legat von Gurlitt sind aber lediglich sieben erhalten. Aus einem Schützengraben schauen zwei Totenköpfe heraus, Otto Dix hielt «Verschüttete (Januar 1916, Champagne)» auf einer kleinen Radierung fest, die sich darunter befand.
Von Max Beckmann sollen fast 700 Arbeiten durch die Hände Gurlitts gegangen sein, 27 befanden sich noch im Besitz seines Sohnes, darunter Beckmanns «Irrenhaus» aus dem Jahr 1918, auf dem sich uniformierte Männer und müde Frauen versammeln, Alt und Jung, mal grinsend, mal grimmig, als habe das verrückte Leben in der Weimarer Republik schon begonnen. Kunstgeschichte ist Detektiv- und Fleissarbeit.
Das Bundesamt für Kultur hat das mittlerweile auch verstanden. Seit 2016 gibt es Geld für die Provenienzforschung aus und unterstützt öffentliche und private Museen darin, ihre Bestände zu prüfen. Auch das Wording für die Definition von Raubkunst ist nun vorsichtig angepasst worden. Im Glossar Raubkunst, datiert auf April dieses Jahres, steht zwar immer noch klar und deutlich: «Der Begriff ‹verfolgungsbedingter Entzug› ist kein Bestandteil internationaler Vorgaben.» Das Wording für die Schweizer Definition ist dennoch vorsichtig angepasst worden:
«Entscheidend ist für den Bund im Sinne der Washingtoner Richtlinien die Frage, ob ein Handwechsel zwischen 1933-1945 in seiner Wirkung konfiskatorisch war. Neben der direkten Konfiskation fallen so auch z.B. Scheinverkäufe, Verkäufe zu Schleuderpreisen, Verkäufe ohne Legitimation unter den Begriff der NS-Raubkunst. Auch bei ‹Fluchtkunst›, ‹Fluchtgut› oder ‹verfolgungsbedingtem Entzug› muss dementsprechend geprüft werden, ob der Handwechsel konfiskatorisch war, und ob es sich daher um NS-Raubkunst handelt, damit gerechte und faire Lösungen erreicht werden.»
Last but not least
Wie viele Fälle in den kommenden Jahren nun neu diskutiert werden müssen, ist damit selbstverständlich noch nicht geklärt. Manche Institutionen, wie etwa das Kunsthaus Zürich, das im Besitz von vier Munch-Gemälden aus der Sammlung Curt Glasers ist, scheinen weiterhin daran festzuhalten, dass ein Erwerb unter so besonderen Umständen als rechtmässig zu betrachten sei.
Zur Begründung verweist das Kunsthaus darauf, dass die Ankäufe in den Jahren 1941 und 1943 «ausserhalb des NS-Machtbereichs» erfolgt seien und dass zwei Bilder – «Hafen von Lübeck» (1907) und «Bildnis Elsa Glaser» (1913) – nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1946 von seiner Witwe verkauft wurden. Es bestehe zudem auch keine Restitutionsforderung, weil die Glasers ihre bleibende Wertschätzung des Kunsthauses bezeugt hätten und dafür sorgten, dass der grösste Teil ihrer Munch-Gemälde-Sammlung in einer öffentlich zugänglichen Sammlung vereinigt blieb.
Curt Glaser wollte für das Gemälde «Musik auf der Karl Johan Strasse» (1889), das sich zum Zeitpunkt des Verkaufs bereits als Leihgabe im Kunsthaus befand, 15’000 Franken haben. Der damalige Leiter Wilhelm Wartmann wusste, dass «der Sammlungsfonds beschränkte Mittel aufwies», er wollte «Glasers prekäre Situation» aber auch keineswegs «ausnutzen». Glaser war im Begriff, in die USA auszuwandern. Am Ende zahlte das Kunsthaus 12’000 Franken.
Ist das fair und gerecht? Sind Glaser-Gemälde in Zürich anders zu bewerten als die Zeichnungen in Basel? Jeder Fall ist einzeln zu betrachten. Aber eines ist klar: In den Schweizer Museen befinden sich weiterhin sehr zahlreiche Werke, die auf eine faire Aufarbeitung warten.
Für die Recherche lagen der Republik neben den im Text erwähnten noch folgende Publikationen vor:
«Kunstfund Gurlitt. Wege der Forschung», Walter de Gruyter / Deutsches Zentrum für Kulturgutverluste (2020)
«Die anderen Gurlitts. Unterwegs zu einer Familiengeschichte», WBG Academic (2021)
«Der Sammler Curt Glaser. Vom Verfechter der Moderne zum Verfolgten», Deutscher Kunstverlag (2022)