Der neue Umgang mit Raubkunst

Bern präsentiert eine grosse Gurlitt-Ausstellung. Basel zieht mit einer Hommage an den jüdischen Curt Glaser nach. Die Schweiz stellt sich damit endlich ihrem Erbe.

Von Antje Stahl, 17.09.2022

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Synthetische Stimme
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Otto Dix: «Dompteuse» (links) und «Dame in der Loge». Privatbesitz, 2022, ProLitteris, Zürich

Am Donnerstag lud Basel-Stadt zu einer Medien­konferenz ins Museum der Kulturen am Münster­platz. Die kantonalen Museen betrieben nun «aktiv Provenienz­forschung», sollte noch schnell verkündet werden, bevor die Hauptstadt Bern schon wieder allen die Schau stiehlt.

Seit Freitag läuft im Kunst­museum Bern nämlich eine grosse Ausstellung über die vorläufige «Bilanz» der Erforschung der Sammlung Gurlitt. Auf zwei Etagen kann man sich einen Über­blick verschaffen darüber, wie, gemäss der kodifizierten Formel, ein «gerechter und fairer» Umgang mit Kunst­werken ausschauen muss, die während der NS-Zeit ihren Besitzer wechselten beziehungsweise direkt oder indirekt aufgrund der Nazi-Verfolgung wechseln mussten: Zuletzt übergab das Kunst­museum Bern zwei Aquarelle (eine vornehme «Dame in der Loge» und eine «Dompteuse» in Stiefeln und mit Peitsche, beide aus dem Jahr 1922) von Otto Dix an die Erben der Kunst­sammler Dr. Ismar Littmann und Dr. Paul Schaefer.

Dass in dieser Sache von «übergeben» und nicht etwa von «restituieren» gesprochen wird, ist keine blosse Stil­frage. Die Wort­wahl ist entscheidend, denn der streng juristische Terminus der «Restitution» würde nicht nicht auf den Sach­verhalt zutreffen: Die Dix-Aquarelle wurden von der damals so genannten Preussischen Geheimen Staats­polizei 1935 in der Buch- und Kunst­handlung von Max Perl in Berlin zwar erwiesener­massen erstmals beschlag­nahmt. Für eine abschliessende Rekonstruktion früherer Besitzer fehlen jedoch entscheidende Dokumente. «Möglicherweise» gehörten Dr. Ismar Littmann und Dr. Paul Schaefer aber eben dazu. Das Kunst­museum entschied sich also nicht aus rechtlichem Zwang für die «Übergabe» an ihre Erben, sondern weil es plausible Provenienz­szenarien abwog und moralisch Verantwortung übernahm. Nicht umsonst setzt das Kunst­museum Bern neue Standards in der Restitutions- beziehungsweise Rückgabe­praxis, die welt­weit auf Anerkennung stossen.

Nur hierzulande beeindruckt das bekanntlich nicht jeden: Kunst­haus Zürich und Bührle-Sammlung dürften da als Stich­worte erst einmal genügen. Basel jedoch tickt heute anders: Hier organisierte man die besagte Medien­konferenz und organisiert die Ausstellung «Der Sammler Curt Glaser», in der es ebenfalls um den Umgang mit vorbelasteten Werken und die moralischen Verpflichtungen von Schweizer Museen geht. Auch Basel möchte nun die eigene Best Practice vorführen. Doch jetzt hat erst einmal Bern eröffnet.

Das Erbe Gurlitt

Das Kunst­museum Bern baute die Sammlung Gurlitt nicht selbst auf. Sie wurde ihm von Cornelius Gurlitt, dem Sohn des NS-Kunst­händlers Hildebrand Gurlitt, vollständig vererbt. Wenn es um den «gerechten und fairen» Umgang mit Raub­kunst geht, wird gerne an eine eigenartige Kehrt­wende in der Gurlitt-Story erinnert. Sie war ja auch ein ausgewachsener Krimi.

Im Jahr 2010 wurde ein älterer Herr im Zug von Zürich nach München vom Zoll kontrolliert, die bayerische Staats­anwaltschaft ermittelte in der Folge wegen des Verdachts auf Steuer­hinterziehung und entdeckte in seiner Wohnung im Münchner Viertel Schwabing eine riesige Kunst­sammlung mit mehr als 1600 Werken. Erst im Jahr 2013 bekam das deutsche Nachrichten­magazin «Focus» Wind von der Sache und stellte den Fall sofort unter den General­verdacht «Nazi-Schatz». Journalistinnen aus dem In- und Ausland reisten an und jagten «Das Phantom» («Spiegel»), das «verschollene Kunst­werke, unter anderem von Picasso, Matisse, Chagall, Marc und Dürer, Wert: über eine Milliarde Euro?» («Focus») bei sich gebunkert haben sollte.

Der ältere Herr im Zug war Cornelius Gurlitt. Er notierte dazu in seinem Kalender «wüste Klingel-Tumulte» und «Karstadt Schwabing Verhörs-angriffe auf der Strasse» und verstand nichts mehr. 2014 willigte er ein, dass die Taskforce «Schwabinger Kunstfund» die Provenienzen, also die Herkünfte der Werke, erforschen und als Raub­kunst identifizierte Objekte an die rechtmässigen Eigentümerinnen zurückgeben kann. Im Mai 2014 jedoch stirbt Cornelius Gurlitt mit 81 Jahren, in seinem Testament setzt er die Stiftung Kunst­museum Bern als Allein­erbin ein.

Bis heute wird über die Gründe für dieses Legat gerätselt. Und es wurden enorme Anstrengungen unternommen, um die Rätsel um die Gurlitt-Sammlung aufzuklären.

Die Lücken der Rekonstruktion

Eine lückenlose Provenienz konnte zwar nur bei den wenigsten Werken nachgewiesen werden. Dafür müssen sie Stempel, Beschriftungen mit spezifischen Nummern oder aufgeklebte Etiketten aufweisen. Beim Porträt von Maschka Mueller zum Beispiel, der Ehefrau des Expressionisten Otto Mueller, die er um 1924 auf einer Leinwand verewigte, war das der Fall. Da haben Galerien und Museen, das Schweizer Zollamt und nicht zuletzt das Reichs­ministerium für Volks­aufklärung und Propaganda, welches das Kunstwerk während der NS-Zeit für «entartet» erklärte und beschlagnahmte, jeweils zweifelsfrei ihre Spuren auf dem Rahmen hinter­lassen.

Doch bei einer Kaltnadel­radierung von Rudolf Grossmann, um ein anderes Beispiel heraus­zugreifen, gestaltete sich die Herkunfts­rekonstruktion schon sehr viel schwieriger. Da musste erst einmal das Passe­partout einer Zeichnung von Otto Dix gefunden werden, das gar nicht für die Dix-Zeichnung, sondern eigentlich für die Kaltnadel­radierung von Grossmann angefertigt worden war, dann aber so beschnitten wurde, dass es auf Dix passte.

In der aktuellen Bilanz-Ausstellung im Kunst­museum Bern liegen die Beweise dieser mikroskopischen Forschung in einer Vitrine. Grossmanns «Conversation» aus dem Jahr 1920, so lässt sich daraus ableiten, gehörte einmal dem Kupferstich­kabinett der Staatlichen Museen zu Berlin. Kunst­geschichte als Detektiv­arbeit.

Raubkunst, eine Auslegungssache?

Im Anschluss an die historischen Forschungen wurden die Werke kategorisiert. Seit dem Fund stand ja der Verdacht «Nazi-Schatz» im Raum, und es war der Bundes­republik Deutschland und dem Frei­staat Bayern ein unverhandelbares Anliegen, dass das historische Unrecht aufgearbeitet wird. Um das Gurlitt-Erbe antreten zu können, musste sich das Kunst­museum Bern deshalb in einem Abkommen mit Bayern und der Bundes­republik dazu verpflichten, die bereits in Deutschland unter­nommenen Abklärungs­bemühungen weiter­zuführen, die Provenienz­forschung nach vorgegebenen Grund­sätzen durch­zuführen und sich allfälligen Restitutions­ansprüchen verantwortungsvoll zu stellen.

George Grosz, ohne Titel (Strassenszene).Kunstmuseum Bern, Legat Cornelius Gurlitt 2014, 2022, ProLitteris Zürich

In Deutschland wie in der Schweiz (und vielen anderen Ländern) hatte man sich schliesslich bereits 1998 zu den «Principles on nazi-confiscated art» im Rahmen einer Konferenz in Washington bekannt. Der Schweizer Umgang mit den Washingtoner Prinzipien war bisher allerdings ein anderer als in Deutschland.

Schon im Titel der internationalen Vereinbarung von Washington wird ersichtlich, dass sich der Haupt­fokus zunächst auf Kunst­werke und Kunst­gegenstände richtete, die von den National­sozialisten konfisziert, das heisst beschlagnahmt wurden. Im deutschen Sprach­gebrauch und Schrift­verkehr werden solche Werke auch als NS-Raubkunst bezeichnet. Allerdings stand im Anschluss an die Konferenz von Washington die Frage im Raum, wie weit der Begriff der Konfiskation von Kunst gefasst werden sollte.

Wenn das NS-Regime jüdische Besitzer von Kunst­werken ganz einfach expropriierte, also die Gestapo vorfuhr und die Bilder mitnahm, war die Bewertung eindeutig. Aber was ist mit Bildern, die jüdische Besitzer in finanzieller Not auf dem «freien Markt» verkaufen mussten, zum Beispiel weil sie auf der Flucht waren vor dem Nazi-Terror?

In der Bundes­republik Deutschland einigte man sich schon 1999 auf eine Definition von Raubkunst, die den Begriff bewusst weit fassen und Fälle von erzwungenen Verkäufen mit einschliessen wollte. Demnach sollten alle Kunst­werke restituiert oder eine «gerechte und faire Lösung» mit den Erben ihrer einstigen Besitzerinnen gefunden werden, die «NS-verfolgungsbedingt» entzogen wurden. Dazu zählen dann auch Gegen­stände, die unter Zwang verkauft wurden, deren Verkaufs­erlöse eine Flucht finanzieren oder, beispielsweise bei Berufs­verbot, die Existenz sichern mussten.

In der Schweiz war die dominierende Rechts­auffassung bis vor kurzem eine andere. Obwohl – oder gerade weil? – die Schweiz eine Haupt­drehscheibe für den Handel mit Kunst­werken aus dem Besitz von jüdischen Flücht­lingen gewesen ist, wurde solches «Flucht­gut» nach helvetischer Praxis nicht als Raub­kunst und deshalb auch nicht als moralisch belastet oder gar restitutions­würdig betrachtet.

Das ist umso erstaunlicher, als in der sogenannten Theresienstädter Erklärung von 2009, welche sich als eine Präzisierung und Fort­entwicklung der Washingtoner Grundsätze versteht, festgehalten wird, dass für alle «NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kunst­gegenstände» faire und gerechte Lösungen gesucht werden müssen. Wie Deutschland hat auch die Schweiz die Theresienstädter Erklärung unterschrieben. Dennoch ist die Eidgenossenschaft bei der Unterscheidung zwischen Raub­kunst und Flucht­gut geblieben – bis sich nicht zuletzt unter dem Druck des Bührle-Skandals der Begriff des «NS-verfolgungsbedingten Verlustes» nun durchzusetzen beginnt. Aufgrund der Übernahme des Gurlitt-Nachlasses ist Bern in dieser Hinsicht der übrigen Schweiz jedoch um Jahre voraus gewesen.

Aufarbeitung in Deutschland

Man muss rückblickend allerdings anmerken, dass Deutschland der Erforschung der Raub­kunst im Sinne der durch NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kunst zunächst seiner­seits nicht besonders viel Raum schenkte. Die 2003 an der Berliner Freien Universität neu gegründete Forschungs­stelle «Entartete Kunst» konzentrierte sich auf den Verlust, den deutsche Museen während der NS-Zeit verzeichnen mussten. Das «Gesetz über Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst» vom 31. Mai 1938 hatte das Propaganda­ministerium dazu befähigt, Kunst­werke aus Museums­beständen zu beschlag­nahmen. In Berlin und dann auch an der Universität Hamburg wurden die Propaganda sowie die Devisen­einnahmen erforscht, die durch den Verkauf dieser «entarteten» Werke ins Ausland erzielt wurden, die Künstler­biografien und -schicksale standen ebenfalls im Fokus.

Letztlich kümmerte man sich damit aber vorrangig um die Institutionen und das Kultur­erbe des deutschen Staates, der sich selbst beraubt hatte. Das Gesetz, das die Beschlagnahmungen in den Dreissiger­jahren legalisierte, wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nie widerrufen. Das heisst, dass deutsche Museen keinen Anspruch auf diese damals aus ihren Beständen entfernten Werke haben, auch wenn einzelne Institutionen gelegentlich den Versuch machen, sich öffentlich als Geschädigte zu inszenieren.

Erst als der Kunst­fund Gurlitt international für Schlag­zeilen sorgte, änderte sich das grund­sätzlich. Nun standen in Deutschland eine Task­force und ab 2015 nicht zuletzt das neue Deutsche Zentrum Kulturgut­verluste bereit, die sich «im Nationalsozialismus verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut insbesondere aus jüdischem Besitz» in vollem Umfang widmeten. Auch der «freie Kunstmarkt» zur Nazi-Zeit wurde endlich zu einem Thema.

NS-Kunsthändler Hildebrand Gurlitt

Hildebrand Gurlitt, der seinem Sohn Cornelius seinen Besitz hinter­liess, war ein studierter Kunst­historiker, der enge Bekanntschaft zu Künstlerinnen der Dresdner Sezession, des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit pflegte. Seine Direktoren­stelle im König-Albert-Museum in Zwickau musste er 1930 räumen, nachdem ein sogenannter Kampf­bund für deutsche Kultur gegen sein progressives Programm gewettert hatte. Dies verschaffte ihm zwar nicht «für alle Zeiten Anerkennung», wie sein Vater gehofft hatte, seinen Ruf als Verfechter einer von den Nazis diffamierten deutschen Moderne festigte es jedoch bis zu seinem Lebens­ende.

Kunstsammler Cornelius Gurlitt vor seiner Wohnung in München.Dukas
Ein Porträt des Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt, um 1925. Fritz Alter Sen. / Picture Alliance

Da er auch seine nächste Anstellung als Direktor des Hamburger Kunst­vereins verlor – er «kletterte auf das Dach und sägte dort eigenhändig den Fahnen­mast ab», an dem das Haken­kreuz aufgehängt werden sollte (Maurice Philip Remy schrieb das Buch «Der Fall Gurlitt», in dem er solche Szenen detailliert fest­hält) –, gründete Hildebrand Gurlitt ein Kunst­kabinett.

Obwohl seine Gross­mutter einer jüdischen Familie entstammte, gelang es ihm aber in der Folge, sich dem NS-Regime anzudienen: Die beschlagnahmten Werke «entarteter» Kunst wollte das Propaganda­ministerium gegen Devisen ins Ausland verkaufen. Gurlitt wurde einer der vier Händler, die diesen Plan umsetzten. Nach dem Krieg leitete er den Kunst­verein für die Rhein­lande und Westfalen und starb Mitte der Fünfziger­jahre in Oberhausen.

Dass die Hinterlassen­schaft des Hildebrand Gurlitt brisant ist, erschliesst sich aus dieser Karriere. Es mussten neue Kategorien von der deutschen Task­force erfunden werden, um die 1600 Werke zu sortieren, die in der Wohnung seines Sohnes Cornelius und in dessen Haus in Salzburg gefunden wurden. Sie bilden, weil sie das Werk-Konvolut gemäss verschiedenen Farb­codes sortieren, ein sogenanntes Ampel­system: Grün = keine Raubkunst, Gelb = ungeklärte Provenienz, Rot = Raubkunst. Das Kunst­museum Bern verpflichtete sich mit der Annahme des Erbes vertraglich dazu, sowohl diese Kategorien als auch die erweiterte Definition der Raub­kunst aus Deutschland in ihre Praxis zu übernehmen.

Bezeichnenderweise reagierte der Schweizer Bundesrat 2014, bei Abschluss des Gurlitt-Abkommens zwischen dem Kunst­museum, der Bundes­republik und dem Freistaat Bayern alles andere als erfreut: Die «Bundes­republik Deutschland» habe sich «in Anbetracht ihrer historischen Verbindungen» für bestimmte Restitutions­grundsätze entschieden und diese «für ihr Hoheits­gebiet festlegt». Die vertraglich vereinbarte Auslegung binde das Kunst­museum Bern, aber «nicht Dritte, wie weitere Museen in der Schweiz oder den Bund», wird betont.

Die Schweizer Landes­regierung wollte offensichtlich vermeiden, dass nun nicht nur «konfiszierte» Kunstwerke Gegen­stand rechtlicher Auseinander­setzungen werden, sondern auch solche, die während der NS-Zeit von Verfolgten in die Schweiz verkauft wurden. Es waren und sind nicht wenige.

Rückblick nach Basel: Ankäufe von Kunst jüdischer Sammler

Das Kunst­museum Basel zum Beispiel ersteigerte im Mai 1933 an einer Auktion beim bereits erwähnten Berliner Buch- und Kunsthandel Max Perl 200 Zeichnungen und Druck­grafiken, die aus der Sammlung von Curt Glaser stammten.

Glaser, geboren 1879 in Leipzig als Sohn einer jüdischen Familie, verlor nach der Macht­ergreifung Adolf Hitlers und der NSDAP seine Direktoren­stelle in der Kunst­bibliothek Berlin. Auch das Büro­gebäude, in dem er wohnte, wurde von der Gestapo beschlagnahmt. Der Verkauf seiner Sammlung, die er noch während seiner Laufbahn am Kupferstich­kabinett als Kunst­kritiker und Freund von Edvard Munch aufgebaut hatte, wurde demnach unter äusserstem Druck in die Wege geleitet. Im November 1933 hielt er sich bereits in der Schweiz am Lago Maggiore auf, einen Teil seiner Sammlung brachte Glaser im Kunst­haus Zürich in Sicherheit (vier Gemälde von Edvard Munch, die heute Millionen wert sind). 1941 emigrierte er in die USA, wo er zwei Jahre später starb.

Max Beckmann, Bildnis Curt Glaser. Saint Louis Art Museum

Aufgrund dieser Geschichte gingen die Nachfahren von Curt Glaser davon aus, dass sie einen Anspruch auf diese Kunst­werke haben, und wandten sich 2004, also einige Jahre, nachdem die Washingtoner Prinzipien «on nazi-confiscated art» von der Schweiz unterschrieben worden waren, ans Kunstmuseum Basel. Wenn man den Entscheid von damals liest, versteht man, warum Basel in seiner aktuellen Medien­konferenz zum Thema mit aktiver Provenienz­forschung wirbt. Lange Jahre wurde gewissermassen inaktive Provenienz­forschung gepflegt.

2008, nach «umfassende(r) und sehr sorgfältige(r) Prüfung», einer «Analyse und objektive(n) Einschätzung der Geschichte» erklärte der Regierungsrat:

«Das Kunst­museum Basel hat im Jahre 1933 die Werke in der Auktion gut­gläubig erworben und über 70 Jahre in unangefochtenem Besitz und Eigentum gehabt. Es gab zum Zeitpunkt der Auktion keinerlei Hinweise im Auktions­katalog oder in sonstigen Publikationen, dass die Kunst­werke aus der Sammlung von Dr. Curt Glaser stammen. (...) Die für die Werke bezahlten Preise waren ‹zeittypisch› bzw. markt­konform. (...) Das Kunst­museum hat die in solchen Fällen erforderliche Sorgfalt walten lassen, zu weiteren Nachforschungen oder Erkundigungen nach der Person des Einlieferers gab es weder Anlass noch die Verpflichtung. Die berüchtigten so genannten ‹Judenauktionen›, bei welchen beschlagnahmter Besitz verfolgter Juden zu Schleuder­preisen veräussert wurde, fanden im national­sozialistischen Deutschland erst ab 1938 statt.»

Ein Jahr später, 2009, versuchten Glasers Nach­fahren, den Bund zu involvieren, und appellierten an die Anlauf­stelle Raubkunst im Bundesamt für Kultur (BAK). Der Kanton Basel-Stadt verbot sich jedoch jede Einmischung, und der Entscheid blieb unangefochten – bis im Jahr 2017 auch in Basel eine Kehrt­wende kam. Die Rechts­vertreter der Glaser-Erben kontaktierten erneut das Präsidial­departement von Basel-Stadt. Und der Regierungs­rat berief sich nicht mehr auf seinen formalen Entscheid von 2008. Stattdessen sollte nun die sogenannte Kunst­kommission des Kunst­museums Basel zur Klärung des Falls heran­gezogen werden.

Die Kunst­kommission berät die Museums­direktion und entscheidet auch über Ankäufe. Gerade erst war Felix Uhlmann zu ihrem neuen Präsidenten berufen worden. Der Jurist, der über «Gewinn­orientiertes Staats­handeln» promovierte, als Professor an der Universität Zürich arbeitet (und neuerdings auch als Vorsitzender des «Runden Tischs» auch in die aktuelle Überprüfung der Bührle-Provenienz­forschung involviert ist), unterzeichnet im November 2018 schliesslich das Positions­papier «in Sachen Curt Glaser», das alles ändert.

Moralische Kehrtwende

«Die Kunst­kommission und der Direktor des Kunst­museums Basel Otto Fischer (1886–1948)», heisst es in dem Positions­papier, «kannten 1933 die Herkunft der Zeichnungen und Druck­grafiken aus der Auktion 180 bei Max Perl. In der Sitzung der Kunst­kommission wurden die getätigten Ankäufe als ‹billig› sowie ‹schön› und ‹günstig› bezeichnet.»

Das Gut­achten empfiehlt zwar nicht, die Werke zu restituieren, aber es macht den Vorschlag, den Kunst­sammler und seine Geschichte angemessen zu würdigen und nicht zuletzt: die Erben finanziell zu entschädigen.

Auf 169 Seiten und in fast 900 Fussnoten (plus mehr als 20 Seiten Anhang) wird eine vorbildliche und beeindruckende Provenienz­forschung ausgebreitet, die klein­teilig nachweist, dass das Kunst­museum Basel über Glasers Schicksal informiert war – und die Verkaufs­erlöse der Auktion ins Verhältnis setzte zum Schätz- und Marktwert der Werke. Im Schnitt erhielt Curt Glaser wie zu erwarten: weniger als erhofft.

Ausserdem wird nicht versäumt, an die politische Situation von Jüdinnen in der Schweiz zu erinnern. Diese wurden nicht als politisch Verfolgte anerkannt und konnten folglich kein Asyl beantragen. «Politische und wirtschaftliche Institutionen» lehnten «Ausländer generell, besonders aber Juden» ab. Sie sahen «in der politischen Linken eine Gefahr» und versuchten, «jede wirtschaftliche Konkurrenz durch Ausländer auszuschalten». 1942 schloss die Schweiz ihre Grenzen.

Ernst Ludwig Kirchner, «Bauernmittag».Sammlung Ulmberg

Im «Transitland» Schweiz konnten verfolgte Juden ihre Kunst zwar verkaufen, ein sicherer Aufenthalt wurde ihnen jedoch nicht gewährt. Aus der Not der Fliehenden wird aber eben nicht die Tugend eines anderen. Deshalb hat das Kunst­museum Basel Curt Glasers Nach­fahren mittlerweile entschädigt (Summe unbekannt) und würdigt nun den Kunst­sammler, wie von der Kunst­kommission empfohlen. Im Oktober eröffnet eine Schau «mittlerer Grösse» im Unter­geschoss. Ausserdem kümmerten sich Forscherinnen um die Aufarbeitung der Ankäufe von «entarteter Kunst», die den Ausbau der hauseigene Sammlung während des Zweiten Welt­kriegs prägen, wie etwa der «Bauernmittag» von Ernst Ludwig Kirchner. Auch diese Schau eröffnet bald.

Über die neue Transparenz

«Dass die Berner wieder Gurlitt machen» wusste Anita Haldemann nicht. Im Gespräch mit der Republik erzählt sie, dass ihre Glaser-Schau im Kunst­museum Basel ein ums andere Mal verschoben werden musste. Sie selbst arbeitet seit zwanzig Jahren am Haus, war also vor Ort, als Entschädigungs­forderungen von Glasers «entfernten Verwandten» noch kategorisch abgelehnt wurden. Sie erinnert sich allerdings nicht daran, dass der Entscheid unter ihren Kollegen diskutiert wurde oder sich gar jemand darüber empörte. «Die Fakten» seien wohl nur dem Leitungs­gremium und externen Anwältinnen bekannt gewesen, es habe keine «Transparenz» zu diesem «Thema» geherrscht. Den Sinnes­wandel erklärt Haldemann, die mittlerweile zur Direktorin des Kupferstich­kabinetts aufgestiegen ist, mit einem «Generationen­wechsel».

Im Kunst­museum Bern spricht Nina Zimmer hingegen von einer kategorischen Abwehr­haltung. Sobald Erben – oder schlimmer: Anwälte – sich bei Museen meldeten, werde jede Kommunikation verweigert. Dabei könnten persönliche Auskünfte der Provenienz­forschung die entscheidenden Hinweise liefern. Nina Zimmer ist heute Direktorin des Kunst­museums Bern, hat zuvor aber auch im Kunst­museum Basel gearbeitet. Der «Generationen­wechsel» ist also kein Personal­wechsel, das alte Personal hat inzwischen Entscheidungs­macht. Und heute handelt man anders.

Nachdem das Kunst­museum Bern das Legat Gurlitt erhalten und seine eigene Arbeit begonnen hatte, überdachte es denn auch seinen mit der Bundes­republik Deutschland und dem Freistaat Bayern vereinbarten Vertrag. Im Kern ging es vor allem um das besagte Ampel­system: Grün = keine Raubkunst, Gelb = ungeklärte Provenienz, Rot = Raubkunst.

Unter der neuen leitenden Provenienz­forscherin Nikola Doll wurde diese Ampel um zwei weitere Kategorien ergänzt: Gelb-Grün und Gelb-Rot. Wenn eine Eigentums­geschichte nicht abschliessend geklärt werden kann, aber alles darauf hinweist, dass die Provenienz des Werkes nicht belastet ist, bleibt es im Besitz des Kunst­museums. Sollte es jedoch gegenteilige Hinweise geben, sollen diese Spuren nicht verwischt werden – das Werk könnte ja auch dann, wenn sich viele Fragen nicht definitiv klären lassen, restituiert oder eine andere Lösung gesucht werden.

Wassily Kandinsky, «Schweres Schweben».Kunstmuseum Bern, Legat Cornelius Gurlitt 2014

Nach acht Jahren Forschung möchte das Kunst­museum Bern gewährleisten, dass immer «sämtliche Recherche­ergebnisse in die Entscheidung miteinfliessen». Ohne diese Änderung wäre es zur besagten Übergabe der eingangs erwähnten Aquarelle von Otto Dix – der vornehmen «Dame in der Loge» und der «Dompteuse» mit Stiefel und Peitsche – eben nicht gekommen.

In der Bilanz-Schau (die ziemlich grau geworden ist: alle Wände wurden grau angestrichen, lediglich neongelbe Klebe­streifen erhellen die Räume, sie stehen für unauffindbare Bilder) trifft man auf viele «Sack­gassen». Unter den rund 1400 Blättern befinden sich etwa 800 Druck­grafiken, die in hohen Auflagen existierten. Oft waren sie Bestand­teile sogenannter Mappen­werke, die nach Themen zusammen­gestellt wurden. So skizzierte Otto Dix die Verbrechen des Ersten Weltkriegs in einem Zyklus, der aus 50 Blättern besteht. Im Legat von Gurlitt sind aber lediglich sieben erhalten. Aus einem Schützen­graben schauen zwei Toten­köpfe heraus, Otto Dix hielt «Verschüttete (Januar 1916, Champagne)» auf einer kleinen Radierung fest, die sich darunter befand.

Von Max Beckmann sollen fast 700 Arbeiten durch die Hände Gurlitts gegangen sein, 27 befanden sich noch im Besitz seines Sohnes, darunter Beckmanns «Irrenhaus» aus dem Jahr 1918, auf dem sich uniformierte Männer und müde Frauen versammeln, Alt und Jung, mal grinsend, mal grimmig, als habe das verrückte Leben in der Weimarer Republik schon begonnen. Kunst­geschichte ist Detektiv- und Fleiss­arbeit.

Das Bundesamt für Kultur hat das mittlerweile auch verstanden. Seit 2016 gibt es Geld für die Provenienz­forschung aus und unterstützt öffentliche und private Museen darin, ihre Bestände zu prüfen. Auch das Wording für die Definition von Raubkunst ist nun vorsichtig angepasst worden. Im Glossar Raubkunst, datiert auf April dieses Jahres, steht zwar immer noch klar und deutlich: «Der Begriff ‹verfolgungsbedingter Entzug› ist kein Bestand­teil internationaler Vorgaben.» Das Wording für die Schweizer Definition ist dennoch vorsichtig angepasst worden:

«Entscheidend ist für den Bund im Sinne der Washingtoner Richtlinien die Frage, ob ein Handwechsel zwischen 1933-1945 in seiner Wirkung konfiskatorisch war. Neben der direkten Konfiskation fallen so auch z.B. Scheinverkäufe, Verkäufe zu Schleuderpreisen, Verkäufe ohne Legitimation unter den Begriff der NS-Raubkunst. Auch bei ‹Fluchtkunst›, ‹Fluchtgut› oder ‹verfolgungsbedingtem Entzug› muss dementsprechend geprüft werden, ob der Handwechsel konfiskatorisch war, und ob es sich daher um NS-Raubkunst handelt, damit gerechte und faire Lösungen erreicht werden.»

Last but not least

Wie viele Fälle in den kommenden Jahren nun neu diskutiert werden müssen, ist damit selbstverständlich noch nicht geklärt. Manche Institutionen, wie etwa das Kunst­haus Zürich, das im Besitz von vier Munch-Gemälden aus der Sammlung Curt Glasers ist, scheinen weiterhin daran festzuhalten, dass ein Erwerb unter so besonderen Umständen als rechtmässig zu betrachten sei.

Zur Begründung verweist das Kunst­haus darauf, dass die Ankäufe in den Jahren 1941 und 1943 «ausserhalb des NS-Macht­bereichs» erfolgt seien und dass zwei Bilder – «Hafen von Lübeck» (1907) und «Bildnis Elsa Glaser» (1913) – nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1946 von seiner Witwe verkauft wurden. Es bestehe zudem auch keine Restitutions­forderung, weil die Glasers ihre bleibende Wert­schätzung des Kunst­hauses bezeugt hätten und dafür sorgten, dass der grösste Teil ihrer Munch-Gemälde-Sammlung in einer öffentlich zugänglichen Sammlung vereinigt blieb.

Curt Glaser wollte für das Gemälde «Musik auf der Karl Johan Strasse» (1889), das sich zum Zeit­punkt des Verkaufs bereits als Leih­gabe im Kunst­haus befand, 15’000 Franken haben. Der damalige Leiter Wilhelm Wartmann wusste, dass «der Sammlungs­fonds beschränkte Mittel aufwies», er wollte «Glasers prekäre Situation» aber auch keineswegs «ausnutzen». Glaser war im Begriff, in die USA auszuwandern. Am Ende zahlte das Kunst­haus 12’000 Franken.

Ist das fair und gerecht? Sind Glaser-Gemälde in Zürich anders zu bewerten als die Zeichnungen in Basel? Jeder Fall ist einzeln zu betrachten. Aber eines ist klar: In den Schweizer Museen befinden sich weiterhin sehr zahlreiche Werke, die auf eine faire Aufarbeitung warten.

Weiterführende Literatur

Für die Recherche lagen der Republik neben den im Text erwähnten noch folgende Publikationen vor: