Serie «Mord in Hongkong» – Teil 3

Und die Schweiz schweigt

Zunächst wird der Tod von Diplomaten­gattin Ursula Ernst mit Nachdruck aufgeklärt. Doch plötzlich verliert selbst die Schweiz das Interesse an dem Fall. «Mord in Hongkong», 3. und letzter Teil.

Von Ernst Herb (Text) und Gregory Gilbert-Lodge (Illustration), 14.09.2022

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Vorgelesen von Dominique Barth
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Der Tod von Diplomaten­gattin Ursula Margareta Ernst fiel in eine Zeit, in der sich die Schweiz geopolitisch auf äusserst dünnem Eis bewegte. Sie starb bei den Unruhen von Hongkong, sechs Jahre nachdem die Schweiz volle diplomatische Beziehungen mit Peking aufgenommen hatte.

Fritz Ernst, der Kanzleichef des Schweizer Konsulats, und seine Ehefrau Ursula Margareta waren an jenem verhängnis­vollen Donnerstag­nachmittag des 11. Oktober 1956 in einem Taxi mitten zwischen die Fronten des Kalten Krieges geraten. «Wir begaben uns nach Kowloon, um im Sha Tin Hotel unseren Lunch zu nehmen und später auf der Rückfahrt noch einige Kommissionen zu machen», schrieb Diplomat Ernst in einem Bericht über den tragischen Tod seiner Frau zuhanden seiner Vorgesetzten in Bern.

Was an jenem Tag auf der vierspurigen Tai Po Road, Ecke Kweilin Road, im Detail vorgefallen ist, versucht diese Serie anhand der Akten im Bundes­archiv, Presse­berichten von damals und aktueller Aussagen von Zeit­zeugen zu rekonstruieren. Sicher ist, dass die spätere juristische und diplomatische Aufarbeitung des «Unfalls F. Ernst» durch die angespannte und wirre geopolitische Lage erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht wurde. Und dass in Bern der Wille zur Aufklärung der Geschehnisse angesichts der welt­politischen Verhältnisse auffallend schnell nachliess.

Serie «Mord in Hongkong»

Die Taxifahrt eines Schweizer Diplomaten­paars endet in einer Tragödie. Was geschah an diesem Oktober­tag im Jahr 1956 wirklich? Ein historischer Kriminal­fall aus Hongkong. Zur Übersicht.

«Das chinesisch-schweizerische Verhältnis war besser als die chinesischen Beziehungen zu den meisten anderen westlichen Staaten», schreibt Ariane Knüsel in ihrer Doktor­arbeit von 2019 zum Thema. Die chinesische Botschaft in Bern habe in den 1950er- und 1960er-Jahren als Hub für Wirtschaft, Politik und Spionage im Westen gedient.

Die offene Haltung gegenüber dem kommunistischen China wurde von der Schweizer Öffentlichkeit zwar nicht durchgehend mitgetragen. In Bern zum Beispiel lief zeitweise eine Kampagne, die lokale Läden dazu aufrief, keine Waren an Chinesen zu verkaufen. Doch das hielt die Schweizer Export­industrie nicht ab, über den Frei­hafen Hongkong mit «Rot­china» blühende Geschäfts­beziehungen zu unterhalten und strategisch wichtige Güter wie Werkzeug­maschinen oder Chemikalien zu liefern.

Bern hielt sich vor allem von dem Koordinations­ausschuss für multi­laterale Ausfuhr­kontrollen fern, dem «Coordinating Commitee for Multilateral Export Controls». Das Cocom war 1949 von den USA ins Leben gerufen worden. Es sollte verhindern, dass Länder wie China, die unter sowjetischem Einfluss standen, Zugang zu moderner Technologie erhielten.

Chruschtschow prangert Personen­kult an

1956 hatte das diplomatische und politische Bern angesichts der sich rasant verändernden Lage erhebliche Mühe, mit den geopolitischen Entwicklungen Schritt zu halten. Die Welt­lage war so undurchsichtig, dass selbst erfahrene Diplomaten Schwierigkeiten hatten, sich darin zurecht­zufinden. «Ich kam zum Schluss, dass viele Einschätzungen dieser Länder rasch überholt sind und schluss­endlich Unwahrheiten sind», schrieb Agostino Soldati, der damalige Leiter der Schweizer Beobachtungs­mission bei den Vereinten Nationen, Mitte 1957 nach einer Asienreise.

Entsprechend nichtssagend fielen denn auch die damals von der Schweizer Botschaft in Peking verfassten Berichte über Chinas Innen- und Aussen­politik aus. Auch China erlebte die wohl grössten Erschütterungen, seit die Volks­republik sieben Jahre zuvor ausgerufen wurde.

Der Hintergrund: Am 25. Februar 1956 hatte Nikita Chruschtschow in einer Geheim­rede die Schreckens­herrschaft Stalins und den von ihm kultivierten Personen­kult gebrandmarkt. Die Rede des Minister­präsidenten der Sowjet­union schlug ein wie eine Bombe und sollte einen Bruch des kommunistischen Lagers einleiten. Sie trug massgeblich dazu bei, dass sich im Herbst desselben Jahres das Volk in Ungarn gegen die kommunistische Regierung erhob.

Zum historischen Kontext

Kolonie Hongkong

Hongkong war von 1843 bis 1997 eine Kolonie Gross­britanniens. Das Gebiet umfasste nicht nur Hong Kong Island und Kowloon auf dem Festland, sondern ab 1898 auch die New Territories. Diese Bezeichnung meint weitere Inseln, vor allem aber das ländliche Hinterland von Kowloon, das strategisch wichtig war für die Briten. Durch die hügelige Landschaft liess sich Hongkong besser gegen allfällige Angriffe schützen, gleichzeitig diente sie als Wasser­reservoir für die Stadt.

Die Zeit als britische Kolonie wurde einmal unterbrochen: Japan griff Hongkong im Zweiten Weltkrieg zeitgleich mit Pearl Harbor an, wegen der Datums­grenze am 7. und nicht am 8. Dezember 1941. Hongkong wurde fast vier Jahre lang von den Japanern besetzt. Als diese am 15. August 1945 kapitulierten, ging Hongkong mitsamt den New Territories an Gross­britannien zurück.

Chinesischer Bürgerkrieg

Von 1927 bis 1949 wütete der Chinesische Bürger­krieg, unterbrochen nur zur Zeit der japanischen Besetzung respektive während des Zweiten Welt­krieges. Darin kämpften um die politische Vorherrschaft zum einen die Kommunistische Partei Chinas, angeführt von Mao Zedong, und zum anderen der rechte Flügel der Kuomintang (Nationalistische Partei Chinas) unter Chiang Kai-shek. Am 1. Oktober 1949 wurde die Volks­republik China ausgerufen, Mao kam mit seiner Kommunistischen Partei an die Macht. Die Verlierer, die Kuomintang unter Chiang Kai-shek, zogen sich nach Taiwan zurück und gründeten die Republik China. Deren Autonomie wird von der Volks­republik nicht anerkannt, sie wird nach wie vor als abtrünniger Teil Chinas betrachtet (Ein-China-Politik). Immer weniger Staaten unterhalten heute mit Taiwan diplomatische Beziehungen.

Während des Bürger­kriegs flohen viele Chinesinnen beider Seiten in die sichere Kolonie Hongkong.

Double Ten Riots

1956 kommt es in Hongkong zu Unruhen zwischen den Parteien des chinesischen Bürger­kriegs. Hongkong erlaubt beiden Seiten Kund­gebungen zu ihren jeweiligen National­feiertagen; am 1. Oktober feiert die Volksrepublik China und am 10. Oktober die Republik China (Taiwan). Die Spannungen entladen sich am 10. Oktober in gewaltsamen Auseinander­setzungen, die zwei Tage andauern.

Beginn der Dekolonisation

Die britische Regierung ist durch den Ausgang der Suez­krise von 1956 geschwächt, die Dekolonisation ist international auf dem Vormarsch. Den Forderungen der Volks­republik China kann der Gouverneur von Hongkong, Alexander Grantham, immer weniger entgegenhalten, auch in Hongkong wächst der Unmut gegenüber den Besatzern.

Ost-West-Konflikt

Anders als Gross­britannien (und die Schweiz) erkannten die USA die Volks­republik China bis 1979 nicht an; während des Korea­krieges (1950–1953) war sie zudem gegnerische Kriegs­partei. Für die USA – wie für viele weitere westliche Länder – war weiterhin die auf Taiwan beschränkte Republik Chinas legitime Vertreterin. Damit geriet Hongkong geografisch und politisch mitten in das Spannungs­feld des Kalten Krieges.

In China selbst mobilisierte die Abrechnung mit Stalin Wider­stand gegen das zunehmend selbst­herrliche Auftreten von Staats­oberhaupt Mao Zedong. Dieser hatte Mitte 1955 über die Köpfe anderer Kader der herrschenden Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) hinweg die brutale Zwangs­kollektivierung beschleunigt und damit der Flucht­welle Auftrieb gegeben, die bis nach Hongkong schwappte.

Am 8. Nationalkongress der KPCh im September 1956 wurde zwar vorderhand die kollektivistische Führung des Landes gestärkt, indem Deng Xiaoping zum General­sekretär der Partei ernannt wurde. Doch in diesen kritischen Wochen geriet das inner­parteiliche Macht­gefüge in Bewegung und auch die inner­chinesischen Verhältnisse.

Dabei spielte eine Person aus Hongkong eine gewichtige Rolle, der linke Journalist Cao Zhuren. Chinas Premier Zhou Enlai sandte ihn vier Monate nach Chruschtschows Rede nach Taiwan. Er sollte dort Chiang Kai-shek ein Friedens­angebot machen, dem ehemaligen Präsidenten Chinas und Gegen­spieler Mao Zedongs, der 1949 auf die Insel geflohen war.

Das stand in starkem Kontrast zum Jahr zuvor, als die chinesische Volks­befreiungs­armee mit schwerer Artillerie vorgelagerte Inseln Taiwans beschoss, was zeit­weise als Beginn einer Invasion des gesamten Eilands verstanden wurde. Im Gegen­zug für eine Wieder­vereinigung der zwei China sollte Ex-Präsident Chiang Kai-shek Regierungs­chef der Provinz Taiwan bleiben und eine «angemessene Position» in China erhalten, wie der Historiker Chen Jian im Buch «Mao’s China and the Cold War» schreibt.

Bekanntlich ging Chiang nicht auf Zhous Vorschlag ein. Das Vertrauen der USA in ihren Verbündeten Chiang war dennoch gering. In Akten aus den Jahren 1952 bis 1954, die das US-Aussen­ministerium inzwischen freigegeben hat, wird die Befürchtung geäussert, Chiang könnte mit den Kommunisten wie bereits wiederholt in den drei Jahrzehnten zuvor ein Zweck­bündnis schliessen. Chiang selbst hielt bis zu seinem Tod 19 Jahre später am Ziel einer Wieder­vereinigung der zwei China fest. Wäre diese Wieder­vereinigung erfolgt, so hätte das nicht nur das baldige Ende Hongkongs als Kolonie bedeutet, sondern auch den Einfluss Washingtons in der Region Asien-Pazifik massiv beschnitten.

Das Krisen­management war komplett gelähmt

Das British Empire, Macht­haber in Hongkong, sollte derweil 8000 Kilometer westlich einen anderen territorialen Verlust erleiden: am Suez­kanal. Die Suez­krise fiel zugleich mitten in die heisseste Phase der US-Präsidentschafts­wahlen, in denen der demokratische Heraus­forderer Adlai Stevenson junior dem republikanischen Amts­inhaber Dwight D. Eisen­hower Schwäche gegenüber dem Kommunis­mus vorwarf. Eine seiner Reden endete mit der Anschuldigung, Eisen­hower gehe «mit dem kommunistischen Russ­land und Ägypten ins Bett».

Nachdem Eisenhower im November 1956 wiedergewählt worden war, zwang er London zu einem demütigen Rück­zug aus der Suezkanal­zone. In den Augen Washingtons war der Kolonialismus ein längst überholtes System. Die Suez­krise habe die Schwäche Gross­britanniens voll zum Vorschein gebracht, was auch das Ende ihres Status als globale Gross­macht bedeutete, schreibt der führende ägyptische Journalist Mohamed H. Heikal im Buch «Cutting the Lion’s Tail» (1986) dazu.

Das machte Washington mit seinem atomaren Schutz­schild noch mehr zum Sicherheits­garanten Hongkongs. Was ein Grund dafür war, dass die Kolonial­regierung im offiziellen Bericht über die Double Ten Riots den politischen Charakter der Unruhen, die Rolle der vom US-Geheim­dienst CIA finanzierten Hongkonger Medien oder auch der Gewerkschaft herunter­spielte, wie die Historikerin Tracy Steele schreibt.

Diese miteinander kollidierenden Interessen sollten während der Double Ten Riots das Krisen­management der britischen Diplomatie und Verwaltung komplett lähmen. Chinas Premier Zhou Enlai hatte den britischen Geschäfts­träger in Peking am 13. Oktober vorgeladen und kaum verhohlen damit gedroht, China werde in Hongkong einmarschieren, sollte die Kolonial­regierung nicht fähig sein, die Zivil­bevölkerung zu schützen.

Der chinesische Premier­minister forderte von den britischen Kolonial­behörden vor allem ein hartes Durch­greifen gegenüber der Kuomintang, die Partei der Nationalchinesen. Zhou machte diese für die Unruhen in Hongkong verantwortlich und lieferte auch gleich eine ganze Reihe von Namen feindlicher Agenten. «Grossbritannien muss sehr hart sein, sonst gibt es Trouble», drohte Zhou.

Die Kolonial­regierung kam dem in den Wochen und Monaten nach den Double Ten Riots zumindest teilweise nach. Tausende des Aufruhrs Verdächtigte wurden in für sie errichteten Lagern interniert und ab 1957 nach Taiwan deportiert. Und dies, obwohl die Kolonial­regierung zumindest kurz nach den Unruhen nicht ausschloss, dass von Peking gesteuerte Agenten hinter dem Aufstand steckten, um einen Vorwand für Chinas Einmarsch zu schaffen.

Allerdings hatte das international isolierte China damals kein Interesse daran, die Kolonie zu annektieren, wie erst später herauskam. Sie war für seine wirtschaftlichen Interessen und das Sammeln von Informationen über die Welt­lage einfach zu nützlich.

Für Peking sollte sich die Geduld lohnen. 1997 wurde die Kolonie nach Ablauf der 99 Jahre dauernden Pacht von Gross­britannien zurück­gegeben. In den zwei Jahr­zehnten seither haben Kapital und Know-how aus der Kolonie massgeblich zum fulminanten Aufstieg Chinas zu einer wirtschaftlichen Weltmacht beigetragen.

Schweiz erwägt Begnadigungs­gesuch

Doch zurück zum Fall des Diplomaten­paares Ernst. Ihnen sollte es nicht gelingen, unbeschadet aus den Fronten von Kolonialismus und Kaltem Krieg zu entkommen.

Bei der Rekonstruktion der Ereignisse nach dem tragischen Tod von Ursula Margareta Ernst fällt auf, wie stark sich die Haltung der Kolonial­behörden in Hongkong gegen­über dem Schweizer Konsulat und seinem Kanzlei­chef Fritz Ernst im Verlauf der Krisen­bewältigung ändern sollte.

Noch zur Abdankung von «Miss Ursula M. Ernst», so hielt es die «South China Morning Post» fest, hatten Hongkongs Gouverneur Alexander Grantham und seine Gattin einen Trauer­kranz überbringen lassen. Später kippte die Stimmung, wie die veränderte Ton­lage gegenüber Fritz Ernst zeigt.

Anders als über 600 andere durch die Double Ten Riots zu Schaden gekommene Bürgerinnen kam er offenbar nicht in den Genuss materieller Entschädigungen. Mehr noch: Die Kolonial­verwaltung ging am Ende äusserst kleinlich mit dem Witwer um, so etwa bei der akribischen Abrechnung der Behandlungs­kosten von Ursula Margareta Ernst in einem Militär­krankenhaus.

Bemerkenswert ist auch, wie forsch die Hongkonger Kriminal­polizei die Tötung der jungen Schweizerin untersuchte. So wurde Konsul Georges Bonnant unter Androhung einer Geldstrafe von 1000 Hongkong-Dollar (damals mehr als ein Jahreslohn eines Hongkonger Arbeiters) für eine Zeugen­vernehmung vorgeladen. Bonnant berichtete nach Bern, er habe mit Verweis auf seine Immunität als Diplomat abgelehnt.

Fritz Ernst, der nach Aktenlage bereits vernommen wurde, als er noch verletzt im Spital lag, hat mit seinen Aussagen mindestens einen der vier angeblichen Täter schwer belastet, die dann wegen Mordes verurteilt und mit dem Tode bestraft wurden. Im Prozess räumte er während eines Kreuz­verhörs jedoch ein, dass er sich nicht mehr sicher sei, ob der Angeklagte wirklich einer der Aggressoren gewesen sei.

Nach dem Todesurteil kam dann seitens eines Vorgesetzten in Bern die Frage auf, ob Fritz Ernst während des Berufungs­verfahrens nicht auf seine Aussagen «zurück­kommen» sollte. Doch dieser Ball wurde gleich an das Politische Departement in Bern zurückgespielt. «Mein Mitarbeiter lässt mich nach reiflichem Nach­denken wissen, dass er nicht in das laufende Verfahren eingreifen kann; ausser es gibt für Sie dafür zwingende Gründe – was scheinbar nicht der Fall ist», heisst es in einem Brief Bonnants.

Nachdem Hongkongs Gouverneur Grantham eine Begnadigung der zum Tod verurteilten Täter abgelehnt hatte, war für Bern die Sache noch nicht erledigt. In einem Schreiben vom 2. April 1957 an den Schweizer Botschafter in London wird dieser angefragt, ob beim britischen Kronrat bei Monarchin Elisabeth II. als letzter Instanz in solchen Angelegenheiten nicht ein Begnadigungs­gesuch eingereicht werden solle. Es wurde darauf verwiesen, dass damit die für Ernst bestehende Gefahr eines Rache­akts reduziert werden könnte. Konsul Georges Bonnant etwa wies in einem Brief an Bern darauf hin, «dass zwei der wegen Mordes Hingerichteten einer Triaden-Gesellschaft angehörten».

Diese Idee wurde dann aber nicht weiter­verfolgt. Kurz darauf folgte die Hin­richtung der zum Tode Ver­urteilten und die fluchtartige Abreise von Witwer Ernst. Und drei Jahre darauf der mysteriös anmutende Unfall des Taxi­fahrers Li Chun.

Weder Fritz Ernst noch sein Vorgesetzter Georges Bonnant haben gemäss diesen Recherchen persönliche Aufzeichnungen über die damaligen Ereignisse hinterlassen. Einer der Söhne des Ehepaares Ernst, mit dem die Republik gesprochen hat, war damals noch ein Kleinkind und hat keine Erinnerung an jene Tage. In der Familie sei auch später «nicht oder kaum über den Vorfall geredet» worden, sagt er. Auch sind keine Polizisten und Juristen mehr auffindbar, die damals direkt mit dem Fall in Hongkong zu tun hatten.

Damit bleibt trotz erheblichem Aufwand, Recherchen in Archiven und Gesprächen mit Zeit­zeugen in diesem Fall vieles im Dunkeln. Klar scheint bloss, dass die Kolonial­verwaltung die politische Bedeutung der Double Ten Riots wegen der damit verbundenen diplomatischen Verwicklungen mit den zwei China und den USA herunter­gespielt hat. Dasselbe kann von der Volks­republik gesagt werden, die die Unruhen – anders als anfänglich von London befürchtet – aussen­politisch nicht ausgenutzt hat.

Bern geriet mit dem Angriff auf das Diplomaten­paar Fritz und die darauf­folgende stark politisch gefärbte juristische Aufarbeitung zwischen die Fronten des Kalten Krieges. Doch der Bundesrat hatte offenbar kein Interesse daran, dies durch lauten Protest in die Welt hinaus­zutragen.

Und so bleibt wohl für immer ein Geheimnis, wer in den grossen Wirren des geopolitisch heissen Herbstes 1956 für den qual­vollen Tod der jungen Schweizerin Ursula Margareta Ernst in Hongkong verantwortlich war.

Wie lautete doch so treffend der letzte Satz eines Filmklassikers aus den Siebzigern? Die Haupt­figur Jake Gittes, gespielt von Jack Nicholson, empört sich, weil ein politisch heikler Fall unter den Teppich gekehrt werden soll. Da raunt ihm ein abgeklärter Polizist entgegen:

Forget it, Jake, it’s Chinatown.

Aus dem Film «Chinatown» (1974).

Zur weiterführenden Literatur

Chen Jian: «Mao’s China and the Cold War». The University of North Carolina Press, Chapel Hill und London 2001. 416 Seiten.

Mohamed H. Heikal: «Cutting the Lion's Tail. Suez through Egyptian Eyes». 1986. 248 Seiten.