Im Grenzland der Geschichte
Für Historiker Serhii Plokhy ist die Ukraine geprägt von der Entstehung und Überwindung von Grenzen. Sein wichtigstes Buch, eine Gesamtschau der ukrainischen Geschichte, ist jetzt auf Deutsch erschienen.
Von Fabian Baumann, 12.09.2022
Das muss man erst einmal schaffen: Wladimir Putin entfesselte im Februar einen brutalen Angriffskrieg, um endgültig zu beweisen, dass die Unabhängigkeit der Ukraine ein Unfall der Geschichte gewesen sei – und rief das Land gerade damit zum ersten Mal so richtig ins westeuropäische Bewusstsein.
Dennoch dreht sich die Debatte um den Krieg und seine Hintergründe weiterhin meistens um Russland, sein politisches System, seine Gewaltgeschichte. Im Gegensatz zur ukrainischen Geschichte hat die russische einen festen Platz im westeuropäischen Bewusstsein. Schriftsteller Dostojewski, Revolutionär Lenin und der vergangene Woche verstorbene Staatschef Gorbatschow – das sind Namen, die man auch in der Schweiz kennt. Schewtschenko, Hruschewskyj, Krawtschuk? Eher nicht. Das Wenige, das Westeuropäer über die ukrainische Geschichte wissen, ist oft hart an der Grenze zum Mythos.
Wie gross hierzulande der Nachholbedarf ist, lässt sich auch an den Bücherregalen ablesen. Während die Überblickswerke zur russischen Geschichte kaum zu zählen sind, haben deutschsprachige Leser im Grunde nur zwei Optionen zur ukrainischen: Kerstin Jobsts Reclam-Band, der demnächst in einer aktualisierten Fassung erscheint; und die «Kleine Geschichte der Ukraine» des Schweizer Historikers Andreas Kappeler, von der unterdessen die achte Auflage vorliegt.
Seit Februar versuchen die Sachbuchverlage, der Schieflage ein wenig entgegenzuwirken. Gleich vier Biografien des ukrainischen Präsidenten Selenski sind 2022 schon auf Deutsch erschienen, hastig verfasst und übersetzt. Mehr historische Tiefe bietet der Verlag Hoffmann und Campe mit der ukrainischen Geschichte des amerikanischen Historikers Serhii Plokhy (gesprochen Plochij – mit Betonung auf der zweiten Silbe).
Der 65-jährige Harvard-Professor ist wohl der weltweit bekannteste Historiker der Ukraine – und die Verbreitung historischen Wissens über die Ukraine gewissermassen seine offizielle Mission. Plokhys Lehrstuhl wurde während des Kalten Krieges mit Unterstützung der ukrainischen Diaspora begründet. In einer Zeit, als der amerikanische Blick nach Osten sich einseitig auf Moskau fokussierte, schuf das Harvard Institute of Ukrainian Studies eine Nische für die Erforschung eines fast vergessenen Landes. In Plokhy, der in der Sowjetukraine aufwuchs, fand das Institut 2007 eine ideale Besetzung.
Mit einer fast unglaublichen Produktivität hat er seither ein gutes Dutzend Bücher veröffentlicht. Sein Themenspektrum reicht von den frühneuzeitlichen Kosaken über die Kubakrise bis zum Zerfall der Sowjetunion.
Das nun auf Deutsch herausgekommene Buch mit dem Titel «Das Tor Europas» ist Plokhys Hauptwerk, seine Gesamtschau der ukrainischen Geschichte aus der Vogelperspektive. Auf Englisch ist das Buch bereits 2015 erschienen; seither hat der Autor ein zusätzliches Kapitel von der Entwicklung der Euromaidan-Proteste 2013/2014 bis zur russischen Invasion im Februar 2022 hinzugefügt.
Plokhy strukturiert sein umfangreiches Buch mithilfe eines simplen, aber wirkungsvollen Kniffs: Er greift auf die Etymologie des Landesnamens zurück. Das Wort Ukraine ist nämlich mit dem altostslawischen Begriff für Grenzland verwandt – und Plokhy nimmt diese Wortgeschichte ernst, spielt sie als zentrale Denkfigur seines Textes durch. Das historische Hauptmerkmal des Landes ist für ihn die «Fähigkeit der ukrainischen Gesellschaft, innere und äussere Grenzen zu überschreiten und die durch sie geschaffenen Identitäten zu verarbeiten». Die Entstehung und Überwindung von Grenzen ist das Leitmotiv seines Buchs.
So gelingt Plokhy der Balanceakt, die Ukraine als eigenständigen historischen Raum zu präsentieren, ohne das falsche Bild eines seit jeher abgeschlossenen Landes zu zeichnen. Bisweilen sei die Ukraine ein Bollwerk westlicher Mächte gegen östliche gewesen, schreibt er: etwa als die mittelalterlichen Eroberungszüge der Mongolen hier zum Erliegen kamen. Zu anderen Zeiten war es umgekehrt: Der Roten Armee gelang es nicht zuletzt auf ukrainischem Territorium, Hitlers Unternehmen Barbarossa auszubremsen. Meist aber war die Ukraine für Plokhy ein offenes Tor in beide Richtungen, eine «Brücke zwischen Europa und Eurasien».
Innere Grenzen, äussere Grenzen
Die ursprünglichste und vielleicht wichtigste Grenze teilt die Ukraine in zwei Naturräume: die hügeligen, parkähnlichen Landschaften im Norden und die weiten Steppen des Südens und Südostens.
Im Mittelalter wurde diese Grenze überlagert von jener zwischen sesshaften christlichen Bauern und muslimischen Nomaden. Im 19. Jahrhundert entstand daraus schliesslich eine Grenze zwischen Landwirtschafts- und Industriezone und – weil in den Industriestädten des Südostens viele zugewanderte Bauern die russische Sprache annahmen – auch zunehmend zwischen dem Ukrainischen und dem Russischen.
Auch in Ost-West-Richtung gab es prägende historische Grenzen: die religiöse zwischen der orthodoxen Kirche und der im 16. Jahrhundert von den Polen begründeten griechisch-katholischen; die imperiale zwischen Russland und dem Habsburgerreich; schliesslich diejenige aus der Zeit zwischen den Weltkriegen, sie trennte die Sowjetunion und Polen.
Geschickt zeigt Plokhy auf, wie diese sich überlagernden ökologischen, religiösen und politischen Grenzen zur heutigen regionalen Diversität der Ukraine führten. Dieser Regionalismus, schreibt er, mache das Land zwar schwer regierbar, habe aber auch dazu beigetragen, dass kein Politiker seit der Unabhängigkeit eine Alleinherrschaft errichten konnte:
Einer der Hauptgründe dafür, dass der Ukraine als Demokratie Erfolg beschieden war, bestand in ihrer regionalen Vielfalt – einem Erbe sowohl der ferneren als auch der jüngeren Geschichte, das sich in politische, wirtschaftliche und kulturelle Differenzen übertrug, die im Parlament formuliert und durch Verhandlungen auf dem politischen Parkett beigelegt wurden.
Die Entwicklung ukrainischer Aussengrenzen war nicht weniger komplex. Ab dem 9. Jahrhundert war Kiew das Zentrum des ersten ostslawischen Staatswesens, der sogenannten Kiewer Rus, die sowohl russische als auch ukrainische Historiker traditionell als Ursprung der eigenen Nation betrachten. Für Plokhy erübrigt sich die Streitfrage: Die mittelalterliche Rus sei ebenso wenig ukrainisch oder russisch im modernen Sinn gewesen, wie sich das Karolingerreich im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung eindeutig als französisch oder deutsch bezeichnen lasse. Die mittelalterlichen Kiewer Fürsten waren es auch, die den byzantinischen christlichen Glauben annahmen und so die religiöse Verbindung zwischen der Ukraine und Russland schufen, auf die sich Putins Regime bis heute beruft.
Doch solche Bezüge auf die gemeinsame Geschichte sind höchst selektiv. Spätere Ereignisse trugen zur langfristigen Trennung der beiden Länder bei. Die mongolische Herrschaft auf dem Gebiet der heutigen Ukraine währte nur gut hundert Jahre (von Mitte des 13. bis Mitte des 14. Jahrhunderts), und ab dem Spätmittelalter brachten litauische und polnische Fürsten europäische Kultureinflüsse in die Ukraine, die Moskau nicht erreichten. Anders als Russland war die polnisch regierte Ukraine in der frühen Neuzeit fest in die europäische Staatenwelt eingebunden. Die Grenze zwischen Polen und Litauen im polnisch-litauischen Ständestaat sollte später zur ukrainisch-belarussischen Grenze werden.
Immer wieder zeigt Plokhy anschaulich, wie die Ukrainer gerade in Grenzgebieten ihre «einzigartige ‹Grenzidentität› und ihr besonderes Ethos» formten.
So konnte etwa im 16. Jahrhundert nur dank der Pufferzone zwischen dem muslimischen Krim-Khanat und dem polnischen König im Norden eine Grenzgesellschaft entstehen, die später zum Inbegriff der Ukraine werden sollte: die Kosaken. Ursprünglich waren sie freie Bauern, Fischer, Banditen und entlaufene Leibeigene, die sich in den Weiten der Steppe dem Zugriff ihrer Feudalherren entzogen. Doch mit der Zeit entwickelten sie eine gemeinsame Kultur: eine Verbindung aus nomadischen Traditionen, ständiger Bereitschaft zur Rebellion und christlich-orthodoxer Militanz. Diese Eigenschaften machten die Kosaken zu gefürchteten Soldaten, die von den benachbarten Staaten gerne rekrutiert, aber nie so richtig kontrolliert wurden – und die noch im aktuellen Krieg der ukrainischen Armee als mythisierte patriotische Inspiration dienen.
Das 16. Jahrhundert ist auch die Zeit, in der das heutige Staatsgebiet der Ukraine zum innovativen religiösen Zentrum wird. Ukrainische Gottesmänner nahmen Impulse der westeuropäischen Reformation und Gegenreformation auf und hauchten dem östlichen Christentum neues Leben ein. In dieser Konstellation gelang es den Kosaken im 17. Jahrhundert, durch geschicktes Manövrieren zwischen den angrenzenden Grossmächten – Polen-Litauen, Moskau und dem Osmanischen Reich – einen eigenen Machtbereich zu erschaffen. Diese frühe Form eines ukrainischen Staats war jedoch kurzlebig: Schon 1654 brachte ein Bündnis mit dem russischen Zaren grosse Teile des Kosakengebiets in den Orbit Moskaus, das in der Folge die kosakischen Freiheiten zunehmend beschnitt.
Die Moderne kam deshalb in Gestalt imperialer Herrschaft in die Ukraine – wie in so viele Länder ausserhalb Westeuropas.
Für die russischen Zaren war das Gebiet vor allem wirtschaftlich von Bedeutung. Seine Getreidefelder und Kohlevorkommen gaben den Anstoss für den Bau von Eisenbahnen und Minen und für das rasante Wachstum von Städten wie Odessa oder Jusiwka (heute Donezk). Ukrainische Intellektuelle hingegen wollten dem einfachen Volk eine andere Form von Moderne bringen: eine eigene Nationalkultur und eine Schulbildung in ukrainischer Sprache. Auf dieses erste Aufflackern des ukrainischen Nationalismus reagierte der imperiale Staat mit Verboten und Repression. Der Dichter und Maler Taras Schewtschenko etwa – als Leibeigener geboren und heute als Nationalpoet bekannt – wurde zum Militärdienst gezwungen und mit einem Schreibverbot belegt.
Doch nicht die gesamte Ukraine gehörte zum Zarenreich: Die Westukraine war seit 1772 österreichisch. Dies, so Plokhy, gab der ukrainischen Nationalbewegung die Möglichkeit, sich «zweigleisig» zu entwickeln. Die Habsburger brachten der Ukraine im späten 19. Jahrhundert den Parlamentarismus und eine gewisse Rechtsstaatlichkeit. Vieles, was in Russland unmöglich war, ging in Österreich. So konnten ukrainische Nationalisten dort Parteien gründen und Schulen einrichten, Intellektuelle aus Kiew druckten ihre Schriften in Lwiw oder unterrichteten an der dortigen Universität. Unter ihnen war etwa der Historiker Mychajlo Hruschewskyj, der 1917 zum Vorsitzenden des revolutionären Parlaments der Ukraine (Zentralna Rada) gewählt werden sollte.
In der Zwischenkriegszeit erneuerte sich das Muster zweier unterschiedlicher Staatsmodelle auf ukrainischem Territorium. Während sich viele ukrainische Kulturschaffende im Osten des Landes mit dem Sowjetkommunismus zu arrangieren wussten, entwickelte sich in der nun zu Polen gehörenden Westukraine ein radikalerer, bisweilen terroristischer Nationalismus. Im Zweiten Weltkrieg annektierte die Sowjetunion die westukrainischen Gebiete und kämpfte auch nach Kriegsende noch jahrelang gegen nationalistische Guerillas. Aus der sowjetischen Propaganda dieser Zeit stammt das Zerrbild der angeblich durchgehend rechtsextremen Ukrainer, wie es Putins Propaganda bis heute verbreitet.
Ein eigenständiger historischer Raum
Plokhy ist kein vollkommen neutraler Beobachter der Geschichte seines Geburtslandes. Natürlich hat er Sympathien für ukrainische Unabhängigkeitsbestrebungen, und zu Recht betont er das grosse Leid, das russischer Imperialismus, Sowjetkommunismus und die genozidale Besetzung durch die Nazis über die ukrainische Bevölkerung brachten. Doch sein Buch hat Platz für Zwischentöne. Trotz der enormen sowjetischen Gewalt in der Ukraine – zuvorderst die menschengemachte Hungersnot Holodomor und die stalinistischen Repressionen der 1930er-Jahre – charakterisiert der Harvard-Historiker den Kommunismus nicht nur als koloniale Unterdrückung.
Denn auch wenn der Kreml die Ukraine an der kurzen Leine hielt, tat er dies nicht nur durch Repression, sondern er setzte auch Anreize, die jahrzehntelang eine relative Stabilität der sowjetukrainischen Gesellschaft garantierten. Die Schulbildung und die Kultur in ukrainischer Sprache wurden insbesondere in den 1920ern stark gefördert, und Karrierebürokraten aus der Ukraine konnten in Moskau eine Zeit lang gross rauskommen: Wie Plokhy aufzeigt, waren Nikita Chruschtschow und Leonid Breschnew – beide in der Ostukraine aufgewachsen – nur die Spitze des Eisbergs. Dass es mit Leonid Krawtschuk letztlich ein sowjetischer Bürokrat war, der die Ukraine 1991 in die Unabhängigkeit führte, war sinnbildlich für eine Gesellschaft, die weder alles Ukrainische zu unterdrücken versuchte noch dazu in der Lage gewesen wäre.
Auch aus ukrainischer Sicht schmerzhafte Themen spricht Plokhy an, etwa die Gewalttaten ukrainischer Kosaken, die Pogrome der Revolutionszeit und die Kollaboration mancher Ukrainer mit den Nazis. Einzig der Antisemitismus ukrainischer Nationalisten in der Zwischenkriegszeit wird kaum behandelt – ein Punkt, der Lesern geholfen hätte, heutige Kontroversen zur Erinnerung an den Nationalistenführer Stepan Bandera (1909–1959) besser einzuordnen.
Überhaupt hält sich Plokhy mit eindeutigen Urteilen zu politisch umstrittenen Themen zurück. In der Frage, ob der Holodomor als Genozid einzustufen sei, verweist er etwa auf die unter Historikerinnen noch laufende Debatte. Gegen dieses Vorgehen ist zwar aus wissenschaftlicher Sicht nichts einzuwenden, doch in einer Zeit, da geschichtspolitische Akteure lautstark ihre einseitigen Versionen vermarkten, hätten sich manche Leser vielleicht mehr Orientierung versprochen.
Wie die meisten Überblicksdarstellungen ist Plokhys Buch in erster Linie eine politische Geschichte. Zwar misst er auch gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen grosse Bedeutung zu, aber vor allem insofern, als sie die Formierung oder den Niedergang von Staaten und Imperien auf ukrainischem Gebiet begünstigten. Dementsprechend lernt die Leserinnenschaft Fürsten und Kirchenführer kennen, nationalistische Politiker und kommunistische Kommissare. Plokhy beschreibt zwar detailreich, wie sich die Lebensbedingungen einfacher Leute veränderten, diese bleiben aber meist eine anonyme Masse. Frauen kommen nur am Rand vor. Das Buch beantwortet zuvorderst die Frage, unter welchen Bedingungen die Ukraine zu einem eigenständigen politischen und kulturellen Raum werden konnte. Dieser Eigenständigkeit wollte Wladimir Putin mit seinem Angriff ein Ende setzen – doch er hat unterschätzt, wie tief verankert sie im Bewusstsein der ukrainischen Bevölkerung ist.
Denn die Ukraine, so viel dürfte nach der Lektüre dieses Buches jedem Leser klar sein, ist kein Anhängsel Russlands. Trotz einiger historischer Gemeinsamkeiten hat sie eine andere, eigenständige Geschichte, die sich nicht zuletzt in einer pluralistischen politischen Kultur niederschlägt. Mit fünfhundert Seiten dichter Prosa ist «Das Tor Europas» kein Lesestoff, den man mal eben an einem lauen Spätsommerabend verschlingt. Doch wer Serhii Plokhy in jenes Grenzland der europäischen Geschichte folgt, das sich seit Februar schlichtweg nicht mehr ignorieren lässt, wird einen faszinierenden historischen Raum jenseits von Putins imperialen Mythen entdecken.
Fabian Baumann ist Osteuropahistoriker und derzeit als Postdoc.Mobility-Stipendiat des Schweizerischen Nationalfonds an der University of Chicago tätig. Sein Buch über den ukrainischen und russischen Nationalismus im späten Zarenreich erscheint 2023 bei der Cornell University Press.