Wenn Pottwale «Mutter» klicken
Nichtmenschliche Lebewesen verfügen über Sinneswahrnehmungen, die wir gerade erst zu verstehen beginnen. Was würden sie uns sagen, wenn wir sie verstehen könnten?
Von Elizabeth Kolbert (Text), Tobias Haberkorn (Übersetzung) und Rop van Mierlo (Illustration), 10.09.2022
Eines Abends vor fast sechzig Jahren arbeitete der Biologe Roger Payne in seinem Labor an der Tufts University bei Boston, als im Radio von einem Wal berichtet wurde, der in der Nähe gestrandet war. Die Märznacht war kalt und nass, doch Payne beschloss, ans Meer zu fahren und sich das Tier anzusehen. Als er ankam, musste er feststellen, dass der Wal geschändet worden war. Zwei Passanten hatten ihre Initialen in seine Flanken geritzt, seine Fluken waren abgehackt worden und jemand – vielleicht derselbe Angreifer – hatte ihm einen Zigarrenstummel in sein Blasloch gesteckt. Lange stand Roger Payne im Regen und starrte auf den Kadaver. Bis zu diesem Tag hatte er Motten studiert. Jetzt, so beschloss er, würde er sich den Walen widmen.
Vor diesem Kadaver hatte Payne noch nie einen Wal gesehen. Er wusste auch nicht, wo man Wale beobachten konnte. Ein Bekannter empfahl ihm, auf die Bermuda-Inseln zu reisen. Dort begegnete Payne einem Ingenieur, der für die US-Marine mithilfe von Unterwassermikrofonen sowjetische U-Boote ausspähte. Während er nach feindlichen U-Booten lauschte, waren ihm noch andere Unterwassergeräusche aufgefallen. Er spielte Payne einige davon vor. «Was ich da hörte, hat mich umgehauen», erzählte Payne später.
Payne liess sich eine Kopie des Tonbands machen. Der Ingenieur war zu dem Schluss gekommen, dass die Geräusche von Buckelwalen stammen mussten. Das Spektrum der aufgenommenen Töne reichte von einem klagenden Heulen, das an den Klang eines Schofarhorns – ein Naturhorn aus dem Vorderen Orient – erinnerte, bis zu hohen, quiekenden Schreien, wie Ferkel sie ausstossen. Payne war wie hypnotisiert von den Klängen, Hunderte Male hörte er das Tonband durch. Schliesslich begriff er, dass das, was er da vernahm, eine Struktur hatte.
Mit Hilfe eines Klangspektrografen entwickelte er eine Notationstechnik, um die Stimmen auf dem Band zu transkribieren. Jahrelang arbeitete er an der Transkription, doch am Ende bewahrheitete sich gemäss seiner Notation, was er immer vermutet hatte: Die Buckelwale führten ihr Heulen, Schreien und Grunzen stets in der gleichen Abfolge aus – A, B, C, D, E und niemals A, B, D, C, E. Der Aufsatz, in dem er seine Entdeckung beschrieb, erschien 1971 im Magazin «Science». »Buckelwale (Megaptera novaeangliae) geben in sieben- bis dreissigminütigen Sequenzen schöne und abwechslungsreiche Tonfolgen von sich, bevor sie dieselben Tonfolgen in grosser Präzision wiederholen», schrieb er. Jede Sequenz, folgerte Payne, sei ein «Gesang».
Während er an seinem Artikel schrieb, sorgte er dafür, dass die Gesänge der Buckelwale als Langspielplatte veröffentlicht wurden. Das Album stand mehrere Wochen in den Top 200 der Charts und verkaufte sich über hunderttausend Mal. Für ein «Werk ohne Musiker, ohne Texte, ohne tanzbare Beats und eigentlich auch ohne Sänger» ein bemerkenswerter Erfolg, fand ein Kritiker und fügte hinzu: «Buckelwale besitzen keine Stimmbänder; sie erzeugen Töne, indem sie Luft durch ihre Nasenhöhlen ausstossen.»
Die Buckelwale inspirierten viele menschliche Interpreten. Folksängerin Judy Collins fügte einige der Rufe in ihr Album «Whales and Nightingales» ein, Folksänger Pete Seeger schrieb den «Song of the World’s Last Whale», und die New Yorker Philharmoniker spielten «And God Created Great Whales», ein von Alan Hovhaness komponiertes Stück.
Als die Nasa 1977 die Raumschiffe Voyager 1 und 2 losschickte, um die Weiten des Sonnensystems zu erkunden, waren die Gesänge der Buckelwale an Bord. Die Behörde stattete jedes Raumschiff mit einer «Goldenen Schallplatte» aus, die mithilfe einer beigelegten Abtastnadel von jedem Ausserirdischen abgespielt werden kann. Die Aufnahme enthält Grussworte in 55 Sprachen («Die Kinder des Planeten Erde sagen Hallo!», lauten sie auf Deutsch), aber auch eine Sequenz von Paynes Walgesängen.
Als die Voyager-Sonden damals starteten, vermochte niemand zu sagen, ob die Buckelwale mit ihren Geräuschen etwas Bestimmtes mitteilen wollten oder ob ihre Töne keine nähere Bedeutung hatten. Heute fliegt die Tonspur mehr als fünfzehn Milliarden Kilometer von der Erde entfernt durchs All –und wir Menschen haben die Walgesänge noch immer nicht entschlüsselt.
Doch manche geben die Hoffnung nicht auf.
Was sehen die Augen der Jakobsmuschel?
Stellen Sie sich bitte Folgendes vor: Sie befinden sich mit einer Eule, einer Fledermaus, einer Maus, einer Spinne, einer Mücke und einer Klapperschlange im selben Raum. Plötzlich erlöschen alle Lichter. Anstatt sofort Ihr Telefon zu zücken und einen Kammerjäger oder eine Wildhüterin zu rufen, nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um die Situation zu erfassen.
Die Fledermaus hat keine Probleme, sich zurechtzufinden; sie orientiert sich durch Echoortung. Die Eule hat ein so gutes Gehör, dass sie die Maus in der Dunkelheit finden kann. Dasselbe gilt für die Klapperschlange, welche die Körperwärme des Nagetiers wahrnimmt. Auch die Spinne lässt sich von der Dunkelheit nicht beeindrucken, denn sie erfasst die Welt durch Vibrationen. Die Mücke folgt dem Kohlendioxid, das Sie ausstossen, und setzt sich auf Ihr Schienbein. Sie dagegen treten blind vor Dunkelheit auf die Klapperschlange.
Ed Yong, Wissenschaftsautor für das Magazin «The Atlantic», stellt eine Version dieses Gedankenexperiments an den Anfang seines Buches «Die erstaunlichen Sinne der Tiere: Erkundungen einer unermesslichen Welt». Bei ihm kommen auch ein Rotkehlchen, ein Elefant und eine Hummel vor, allerdings nicht die potenziell tödliche Begegnung mit der Schlange. Yong fragt sich, was Tiere uns wohl sagen würden, wenn sie dazu in der Lage wären, er fragt also nach ihren Sinneswahrnehmungen. Der Mensch, so betont Yong, sieht die Welt auf eine spezifische Art und Weise. Andere Arten sehen die Welt mit anderen Augen, und viele sehen sie überhaupt nicht. Das kleine Gedankenexperiment ruft uns in Erinnerung, dass unsere eigene Weltwahrnehmung als Menschen trotz all unserer Intelligenz bloss eine unter Abermillionen ist.
Nehmen wir die Jakobsmuschel. Was an der Fischtheke im Supermarkt verkauft wird, ist nur der Muskel, mit dem die Jakobsmuschel ihre Schale öffnet und schliesst; das ganze Tier ähnelt einem Spiegelei. Einige Muschelarten haben Dutzende, andere Hunderte Augen. In ihrem Inneren befinden sich Spiegel, die aus winzigen Kristallen bestehen und die das Licht auf die Netzhaut bündeln, das heisst, eigentlich auf die Netzhäute, denn jedes Auge hat zwei davon. Die Augen der Jakobsmuschel sind am Rand ihres Körpers angeordnet wie Stacheln an einem Hundehalsband.
Was sehen diese Muscheln? Das menschliche Gehirn kombiniert die von unseren beiden Augen gesammelten Informationen zu einem einzigen Bild. Mit Dutzenden (oder Hunderten) von Augen stehen Jakobsmuscheln vor ganz anderen Herausforderungen. Aber sie haben nicht viel Hirnschmalz, das sie dafür einsetzen könnten (eigentlich haben sie gar kein Gehirn). Um herauszufinden, was Muscheln mit ihrer grossen Menge an Augen machen, entwickelte Daniel Speiser, Biologe an der Universität von South Carolina, ein Experiment, das er Scallop TV nannte, Jakobsmuschel-TV. Er schnallte die Tiere auf kleine Podeste, platzierte sie vor einem Computermonitor und liess sie Bilder von schwebenden Partikeln betrachten. Jakobsmuscheln sind Filtrierer; sie ernähren sich von Plankton, das sie aus dem Wasser filtern. Speiser stellte fest, dass die Muscheln ihre Schalen öffneten, wenn die computergenerierten Partikel gross genug waren und sich langsam genug bewegten. «Es ist wild und unheimlich, wenn man sieht, wie sie sich alle gleichzeitig öffnen und schliessen», erzählt er.
Biologe Speiser glaubt, dass die Augen der Jakobsmuscheln unabhängig voneinander funktionieren, wie Bewegungsmelder. Wenn ein Auge etwas potenziell Verzehrbares wahrnimmt, sendet es ein Signal zur Erkundung. Wenn Speiser recht hat, dann haben Jakobsmuscheln zwar viele, komplexe Augen. Über das, was wir «Sehvermögen» nennen, verfügen sie aber nicht. Yong nennt die Wahrnehmung der Muscheln ein «Sehen ohne Szenen».
«Die erstaunlichen Sinne der Tiere» ist ein Buch voller seltsamer Kreaturen und Experimente wie das Scallop TV. Hafenrobben zum Beispiel haben einen Pinsel aus vibrationsempfindlichen Schnurrhaaren, die von ihrer Schnauze und den Augenbrauen abstehen. Um festzustellen, wie empfindlich diese Haare sind, trainierte ein Team von Meeresbiologen an der Universität Rostock zwei Seehunde darauf, einem Miniatur-U-Boot zu folgen. Dann verbanden sie den Tieren die Augen und stopften ihnen die Ohren zu.
Ein anderes Beispiel: Um zu verstehen, wie Motten Fledermäusen ausweichen, schnitten Wissenschaftler der Boise State University in Idaho einigen Motten die Schwänze ab und statteten andere mit künstlichen Flügelverlängerungen aus. Oder dieses Experiment: Um das Schmerzempfinden von Einsiedlerkrebsen zu untersuchen, versetzten ihnen zwei Forscher in Belfast Elektroschocks, und um Selbiges bei Tintenfischen zu betrachten, schnitten Biologen der San Francisco State University sie mit Skalpellen auf. Als ich die Geschichte von Kathy las, eines Grossen Tümmlers, die rebellierte, als ihr Forscher eine schalldämpfende Maske aufsetzten, jubelte ich ihr still zu.
Kommunikation nicht nur durch den Raum, sondern auch durch die Zeit
Der schwarze Geistermesserfisch ist, wie sein Name vermuten lässt, ein Nachtjäger. Durch Zündung eines speziellen Organs in seinem Schwanz erzeugt er ein elektrisches Feld, das ihn wie eine Aura umgibt. Dies erlaubt dem Fisch, mithilfe von Rezeptoren in seiner Haut alles in seiner Nähe aufzuspüren, was Elektrizität leitet, einschliesslich anderer Organismen. Autor Ed Yong lässt sich von einem Forscher erklären, dass diese Art der Wahrnehmung, die als aktive Elektroortung bezeichnet wird, mit dem Empfinden von Wärme und Kälte vergleichbar sei. Ein anderer behauptet, es sei eine Art Tastvermögen, nur ohne physisches Anfassen. Doch kein Mensch kann wirklich sagen, mit welcher menschlichen Empfindung die Sensorik des Fischs vergleichbar ist. Malcolm MacIver, Professor für biomedizinische Technik an der Northwestern University in Illinois, bringt diese Tatsache mit einer Frage auf den Punkt: «Wer könnte beurteilen, wie die Fische fühlen?»
Die berühmteste Formulierung dieser Frage stammt aus dem 1974 erschienenen Aufsatz «What Is It Like to Be a Bat?» des Philosophen Thomas Nagel. Fledermäuse, schreibt Nagel, sind nah genug mit Menschen verwandt, dass wir sie dazu für fähig halten können, was wir als Erfahrung bezeichnen. Aber wie könnten wir in ihre pelzigen kleinen Köpfe schlüpfen? Die Schwierigkeit liegt nicht nur darin, dass es keine Sprache gibt, in der sie uns etwas mitteilen könnten. Ihre «Umwelt» ist auch noch eine völlig andere als unsere.
Man könnte versuchen, sich vorzustellen, schreibt Nagel, «dass man sehr schlecht sieht und die Umgebung durch ein System hochfrequenter Echosignale wahrnimmt», oder dass man «Schwimmhäute an den Armen hat, die es einem ermöglichen, in der Dämmerung zu fliegen und Insekten mit dem Mund zu fangen». Doch das würde nicht viel helfen. «Wenn ich versuche, mir vorzustellen, wie es für die Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein, bin ich auf die Mittel meines Verstandes angewiesen. Und diese Mittel reichen nicht aus», schreibt Nagel. Deshalb würden Menschen die Antwort auf diese Frage niemals finden, folgert er. Denn sie liege «jenseits unserer Vorstellungskraft».
Ed Yongs Antwort auf Nagel, den er ausführlich zitiert, ist ein «Ja, aber». Wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein (oder für einen Messerfisch, ein Messerfisch zu sein), werden wir tatsächlich nie herausbekommen. Doch wir können einiges über Echoortung, Elektroortung und andere Verfahren lernen, die Tiere nutzen, um ihre Umgebung zu erfassen. Und diese Erfahrung kann unser Bewusstsein weiten. Yong hat mit Christopher Clark gesprochen, einem Forscher der Cornell University im US-Bundesstaat New York, der in den Siebzigerjahren mit Roger Payne zusammenarbeitete und nach Walen lauschte. Walgesänge liegen am anderen Ende des Spektrums als Fledermausrufe; sie sind sehr niederfrequent und können grosse Distanzen zurücklegen. Wenn Wale durch ihre Gesänge miteinander kommunizieren, tun sie dies nicht nur durch den Raum, sondern auch durch die Zeit.
Ein Ruf eines Buckelwals in der Nähe der Bermudas würde zwanzig Minuten brauchen, um einen Buckelwal zu erreichen, der vor der Atlantikküste von Nova Scotia schwimmt. Wenn der kanadische Wal sofort antwortet, würde es vierzig Minuten dauern, bis der Bermuda-Wal die Antwort auf seinen eigenen Ruf vernimmt. Um sich vorzustellen, wie es ist, ein Wal zu sein, «muss man sein Denken auf ganz andere Dimensionen ausdehnen», sagt Forscher Clark.
Man braucht nicht verstehen, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein, um zu verstehen, was die Lebensweise stören kann. Yong besuchte zusammen mit dem Biologen Jesse Barber von der Boise State University nachts den Grand Teton National Park im US-Bundesstaat Wyoming. Barber ist besorgt über das, was heute als «sensorische Verschmutzung» bekannt geworden ist. «Selbst in den Tetons erhellen jetzt Lichter die Dunkelheit. Insekten werden von den Lichtern angezogen, Fledermäuse von den Insekten, und, so die Sorge, Eulen picken die Fledermäuse ab. Um diese Hypothese zu testen, verbringen Barber und seine Studenten die Nacht damit, Fledermäuse auf dem Parkplatz eines Campingplatzes zu markieren. Der Parkplatz, beklagt Barber, ist «beleuchtet wie ein Einkaufszentrum, weil niemand an die Folgen für Tiere gedacht hat».
Yong möchte, dass wir mehr über solche Auswirkungen nachdenken, die ganze Ökosysteme aus dem Gleichgewicht bringen können. Als Beispiel nennt er den im Westen der Vereinigten Staaten und in Zentralmexiko beheimateten Woodhouse-Häher. Die Vögel sind wichtig für das Überleben der Piñon-Kiefern, weil sie deren Samen verbreiten. Sie fühlen sich jedoch durch den Lärm von Kompressoren gestört und meiden daher Orte, an denen Erdgas gefördert wird. Die Forscher fanden heraus, dass dort, wo die Woodhousehäher noch Ruhe finden, viermal häufiger Piñon-Kiefern nachwachsen als in lauten Gebieten, in denen die Vögel nicht mehr vorkommen.
«In jahrhundertelanger Arbeit haben die Menschen viel über die sensorischen Welten anderer Arten gelernt», schreibt Ed Yong. «Aber in einem Bruchteil der Zeit haben wir diese Welten auf den Kopf gestellt.»
Wann können wir die Klicks von Pottwalen entschlüsseln?
Im September 2015 verbrachte der britische Dokumentarfilmer Tom Mustill gemeinsam mit einer Freundin den Urlaub in Kalifornien. Die beiden beschlossen, in der Bucht von Monterey eine Kajaktour zu unternehmen. Das Ziel des Ausflugs war, Wale aus nächster Nähe zu sehen – aber Mustill und Charlotte Kinloch bekamen mehr zu sehen, als sie sich gewünscht hatten.
Während sie paddelten, schoss ein Buckelwal nur wenige Meter neben ihrem Boot aus dem Wasser. (Mustill verglich dieses Erlebnis später mit dem Start eines Spaceshuttles.) Der Wal, der dreissig Tonnen wog, hätte sie beinahe erschlagen. Die beiden Kajakfahrerinnen wurden mitsamt ihrem Boot unter Wasser gerissen. Mustill dachte, er sei zerfetzt worden und fühle nur deshalb keinen Schmerz, weil er unter Schock stand. Doch er und seine Freundin kamen unversehrt an die Wasseroberfläche zurück. Sie schafften es ans Ufer, wo ihnen der Kajakverleiher eine kostenlose heisse Schokolade servierte.
Mustill setzte seinen Urlaub fort, zu dem auch ein Campingausflug an den Küstenstreifen Big Sur südlich von San Francisco gehörte. Als sein Handy nach einer Weile wieder Empfang hatte, erfuhr er, dass ein Passagier eines nahen Bootes seine Begegnung mit dem Wal gefilmt hatte und dass das Video auf Youtube viral gegangen war. Als Mustill nach London zurückkehrte, war es bereits vier Millionen Mal angesehen worden. Die Geschichte wurde auf der ganzen Welt aufgegriffen. «Baleia de 40 toneladas quase esmaga casal de canoístas» (Vierzig-Tonnen-Wal zermalmt beinahe zwei Kajakfahrer), berichtete die kapverdische Zeitung «Expresso das Ilhas». «Wieso bin ich nicht tot?», lautete die Schlagzeile in der «Daily Mail».
Infolge seines neu erlangten Ruhms wurde Mustill, wie er selber sagte, «ein Blitzableiter für Walfans». Jeder, so schien es, hatte eine Geschichte über Wale auf Lager. Viele handelten von artenübergreifender Nähe. Ein Mitglied der britischen Marine erzählte ihm, wie Wale vor seinem U-Boot für ihn gesungen hatten. Eine Buchverlegerin berichtete, dass ein schwangerer Delfin – sowohl Delfine als auch Tümmler gehören zur Gruppe der Zahnwale – ihr bedeutet hatte, sie sei ebenfalls schwanger, was sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste. Eine Wissenschaftlerin erzählte, wie sie in einer mexikanischen Lagune einem Grauwal in die Augen sah, der sich ihr näherte und sie seine riesige Zunge reiben liess.
Mustill kam über sein Erlebnis nicht hinweg. Ein Walforscher erklärte ihm, dass er nur deshalb überlebt habe, weil der Buckelwal, als er ihn und seine Freundin bemerkte, seinen Körper absichtlich gedreht hatte, um sie nicht zu erschlagen. Mustill beschloss, einen Dokumentarfilm zu drehen: «The Whale Detective». Und inzwischen hat er auch ein Buch geschrieben: «How to Speak Whale: A Voyage Into the Future of Animal Communication».
Wie Yong interessiert sich Mustill für die Sinneswahrnehmungen der Tiere. Aber er möchte über ein blosses Verständnis der tierischen Umwelt hinauskommen und einen Austausch über das erreichen, was man im weitesten Sinne als «Ideen» bezeichnen kann. Zu Beginn des Buches besucht er Payne, der inzwischen 87 Jahre als ist. Warum, fragt Mustill ihn, singen Wale? Was bedeutet ihr Gesang? «Das würde ich selbst gerne wissen», antwortet er.
Mustill gibt nicht auf. Er studiert die neuesten Forschungsergebnisse zur tierischen Kommunikation. Inzwischen weiss man, dass viele Tierarten über hochkomplexe Systeme zur Übermittlung von Informationen verfügen – so komplex, dass sie wahrscheinlich die Bezeichnung «Sprache» verdienen, obwohl der Mensch diese meist für sich selbst reserviert. Schimpansen im Budongo-Wald in Uganda beispielsweise verfügen über ein Repertoire von mindestens 58 Gesten, die sie ähnlich wie wir zu «Wörtern» kombinieren. Präriehunde im amerikanischen Westen machen mit bestimmten Schreien auf andere Raubtiere aufmerksam und scheinen in der Lage zu sein, Beschreibungen in diese Schreie einzubauen: Ein grosses Tier wird mit einem bestimmten Ruf bezeichnet, ein kleineres mit einem anderen. Rotscheitelsäbler, niedliche, braun-weisse Vögel, die in Australien beheimatet sind, reagieren unterschiedlich, wenn Elemente ihrer Rufe in ungewohnter Reihenfolge abgespielt werden, so wie wir verdutzt reagieren würden, wenn man uns eine Schokoladenmilch anstelle einer Milchschokolade anböte.
Dank fortschrittlicher Aufzeichnungstechniken und künstlicher Intelligenz können Forscher im aufstrebenden Gebiet der Bioakustik Tausende von Stunden an Tiergeräuschen herunterladen und die Arbeit des Durchforstens einem Computer überlassen. Dies hat verlockende neue Möglichkeiten eröffnet, darunter die Übersetzung von Tierkommunikationssystemen ins Englische (oder ins Arabische oder ins südafrikanische Xhosa). Sechs Jahre nachdem er fast von einem Buckelwal getötet worden war, begründete Mustill mit einer Gruppe von Wissenschaftlern – unter anderem aus Harvard, vom M.I.T. und aus Oxford – die Cetacean Translation Initiative (Ceti), deren Ziel es ist, die Kommunikation von Walen zu entschlüsseln. Das Team, zu dem unter anderem Roger Payne gehört, arbeitet mit Pottwalen, die, anstatt zu singen, Muster von Klicklauten, sogenannte Codas, von sich geben, vergleichbar mit Morsecodes.
«Ist es zu weit hergeholt, zu glauben, dass wir eines Tages den Pottwalklick für ‹Mutter› entschlüsseln können?», fragt Mustill. «Oder den für ‹Schmerz› und für ‹Hallo›? Wir werden es nur erfahren, wenn wir es versuchen.»
Mustill hofft, dass die Entschlüsselung der Walsprache eine Antwort liefern könnte auf die Frage, wie es ist, ein Wal zu sein. Das Problem, oder vielleicht das Paradoxon, besteht darin, dass wir, um die Gesänge oder Schnalzlaute der Wale zu entschlüsseln, Zugang zu den Erfahrungen haben müssten, auf die diese sich beziehen. Und genau daran hapert es. Der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein war noch deutlicher als Nagel. «Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen», schreibt er in seinen «Philosophischen Untersuchungen».
Mustills Buch «Wie Wale sprechen» wird von dem Glauben getragen, dass Wale uns etwas Verständliches mitzuteilen haben, und von der Hoffnung, dass wir es eines Tages entschlüsseln werden. «Songs of the Humpback Whale», das Album, das Payne 1970 veröffentlichte, trug zum Ende des kommerziellen Walfangs bei, bemerkt Mustill in seinem Buch. Stellen Sie sich vor, wie revolutionär es wäre, wenn wir uns mit Walen über ihr Liebesleben, ihre Sorgen oder ihre Gedanken über die Philosophie der Sprache unterhalten könnten. «Je mehr wir über andere Tiere erfahren und Beweise für ihre vielfältigen Fähigkeiten entdecken, desto mehr interessieren wir uns für sie – und das verändert unsere Art, sie zu behandeln», schreibt Mustill.
Das leuchtet ein, oder ist zumindest einsichtig, dass wir uns nach diesem Prinzip verhalten sollten. Trotzdem werden die Aussichten für nichtmenschliche Arten jedes Jahr schlechter. Unter den Meeressäugern stuft die International Union for Conservation of Nature inzwischen ein Drittel als gefährdet ein. Eine kürzlich von einem europäischen Forscherteam durchgeführte Studie kam zu dem Schluss, dass auch viele Arten, denen es gut zu gehen scheint, die Grauwale etwa, durch den Klimawandel bedroht sind. «Jetzt am Leben zu sein und die Natur zu erforschen, bedeutet, im Licht einer brennenden Bibliothek zu lesen», schreibt Mustill.
Welche Botschaft würden die verbliebenen Wale der Weltmeere an uns richten, wenn sie eine Möglichkeit dazu hätten?
Wie klickt man «Was zum #@ ϟ ⚛︎!»?
Elizabeth Kolbert schreibt seit 1999 für den New Yorker und erhielt 2015 den Pulitzer-Preis für ihr Buch «Das sechste Sterben». Ihr jüngstes Buch heisst «Wir Klimawandler. Wie der Mensch die Zukunft der Natur erschafft». Dieser Beitrag erschien am 6. Juni 2022 unter dem Titel «The Strange and Secret Ways that Animals Perceive the World» im Magazin «The New Yorker».