Über Verstorbene soll man nicht schlecht reden. Und wenn sie keine netten Menschen waren?
Trauer erträgt wenig Ehrlichkeit.
Von Jana Avanzini (Text) und Julia Plath (Illustration), 07.09.2022
Susanne war 21 Jahre alt, als sie ihren Ex kennenlernte. Er war interessant, er war in der Stadt bekannt und um einiges älter als sie. Er war aber auch verheiratet, mit kleinen Kindern.
Sie liess sich trotzdem darauf ein, und die beiden führten eine leidenschaftliche Beziehung. Freunde wussten Bescheid, sie fuhren gemeinsam in den Urlaub, immer wieder versprach er ihr, seine Frau zu verlassen. Sich als Erste von ihm zu lösen, schaffte Susanne nicht. Und wenn sie es tatsächlich versuchte, setzte er alles in Bewegung, sie wieder von sich zu überzeugen.
Erst nach sechs Jahren Hin und Her fand Susanne die Kraft und wählte den einzigen Weg, den sie bisher noch nicht gegangen war, um die Beziehung zu beenden: Sie rief seine Frau an und erzählte ihr alles. Susanne trennte sich von dem Mann, doch der Kontakt brach nie komplett ab. Immer wieder liefen sie und ihr Ex-Freund sich beruflich über den Weg. Beim letzten Treffen stritten sie sich einmal mehr. 25 Jahre waren vergangen, seit sie zusammengekommen waren, doch noch immer brachte er sie zur Weissglut.
Wenige Monate später starb er, überraschend. Als Susanne es erfuhr, fühlte sie weder Trauer noch Betroffenheit. Vielmehr erschrak sie über sich selbst: Endlich würde sie keine Energie mehr für diesen Menschen aufwenden müssen, dachte sie bloss. Heute sagt sie im Gespräch mit mir: «Er war ein charismatischer Mensch, aber auch ein Arsch, ein verdammter Egomane, der die Leute kleingehalten hat.»
Susanne heisst eigentlich anders. Ihre Gedanken über den gestorbenen Ex-Freund öffentlich zu äussern, wäre ihr unangenehm, deswegen lassen wir sie anonym zu Wort kommen. «Man kann solche Gedanken engsten Freunden anvertrauen, doch schon da schluckt das Gegenüber schwer.»
Wer sagt schon die Wahrheit über die Toten?
Wer schon einmal negative Worte über einen Toten geäussert und auf die schlechten Seiten des Verstorbenen aufmerksam gemacht hat, kennt das: Man erntet entrüstete Blicke oder wird höflich ignoriert. Selten wird man vielleicht auch erleichtert dafür gelobt. Alltäglich jedenfalls ist es nicht, wenn man auch Dinge ausspricht, die man an einem Verstorbenen problematisch fand. Schon gar nicht auf Trauerfeiern, an Beisetzungen oder spontan in den Momenten, in denen man vom Tod eines Menschen erfährt oder jemandem über den Tod berichtet.
Stattdessen nennt man lieber ein paar gute Dinge, die einem zum Toten einfallen. Was nicht zu Wort kommt, sind die Sünden, die schlechten Seiten des Verstorbenen. Man hat dabei die Würde der Toten im Hinterkopf oder auch die Ehrfurcht vor den Toten, ohne genau sagen zu können, was das heute heisst. Man will Respekt erweisen, es geht um Taktgefühl, um Anstand und Konventionen. Es geht um Pietät. So nannte man in der Antike das pflichtbewusste und demütige Verhalten Menschen und Göttern gegenüber. Heute steht Pietät meist für die Ehrfurcht vor den Toten.
De mortuis nihil nisi bene, heisst es im Lateinischen: Von den Toten (soll man) nicht ausser auf gute Weise (sprechen). Doch weshalb folgen wir dieser Regel? Und profitiert tatsächlich irgendjemand davon, oder vergeben wir uns damit auch eine Chance?
Verstorbene können sich nicht mehr wehren, heisst es oft. Sie können nicht mehr mit ihren Sünden konfrontiert werden, können sich nicht mehr erklären und keine Abbitte mehr leisten. Ist das tatsächlich der Grund, weshalb wir nicht schlecht über die Toten sprechen?
Vielleicht geht es auch um eine tief verwurzelte oder anerzogene Ehrfurcht vor dem Tod im Allgemeinen, die wir auf den oder die Verstorbene übertragen, ohne uns im konkreten Fall zu fragen, weshalb wir das tun. Das, was man meint, wenn man von «Respekt vor den Toten» spricht.
Aber muss sich das beissen, Respekt und Ehrlichkeit?
Kritik respektvoll äussern – das ist auch ohne Todesfall eine Kunst
Eigentlich nicht, sagt Birgit Jeggle-Merz, Professorin für Liturgiewissenschaft an der Universität Luzern. Ehrlich Kritik zu äussern, sei jedoch allgemein eine schwierige Thematik. «Wie oft konfrontieren wir jemanden ehrlich mit Kritik? Respektvoll, aber doch in Klartext – das ist gar nicht so einfach.» Kritik, sagt die Professorin, sei etwas Positives, das Veränderung ins Positive zum Ziel habe. Doch komme sie oft nicht so an, sondern gehe mit Enttäuschungen und Verletzungen einher.
Die will man, gerade wenn eine Situation sowieso schon schmerzhaft ist, möglichst vermeiden. Niemand will trauernde Menschen aufregen und verletzen, wenn sie sich doch gerade am Bedürfnis festhalten scheinen zu wollen, das Gute zu betonen, auch – oder gerade – in Fällen, in denen man dieses Gute erst lange suchen muss.
Zudem neigen Menschen dazu, Erinnerungen schönzureden und so verstorbene Menschen zu verklären. «In der Trauer sind Menschen manchmal unvernünftig», sagt die Bestatterin Linda Romano. Es sei nicht selten, dass Hinterbliebene ein wenig den Realitätsbezug verlören. Diese Tendenz sei besonders gross, wenn die Verstorbenen eher jung waren. «Es ist Balsam für die Seele, das zu vergolden, was verloren ist. Und dementsprechend ganz natürlich», sagt Romano.
Die schlechten Seiten zu verdrängen und zu verschweigen, passt gut dazu. Lieber das Schlechte im Inneren vergraben und es nicht mehr berühren – besonders die Generation nach dem Zweiten Weltkrieg hielt das so. Warum aber wiegt der Respekt gegenüber den Toten schwerer als gegenüber den Lebenden? Es ist ja nicht so, als könnten sich die Lebenden wehren, wenn hinter ihren Rücken schlecht über sie gesprochen, gepostet, kommentiert oder gelästert wird.
Vielleicht, weil wir uns noch immer vor der Macht dieser Menschen fürchten. Oder vielleicht, weil der Tod ein so empfindliches Thema ist, dass wir Respekt mit der Hemmung verwechseln, gegen Konventionen zu verstossen.
Konventionen sind oft das Letzte, was übrig bleibt, gerade wenn man unsicher ist, wie man sich verhalten soll. Man will nichts falsch machen, niemanden vor den Kopf stossen. Also verhält man sich so wie die anderen, kopiert ihre Gesten und Worte. Und hier kommt noch ein anderer Faktor ins Spiel: Wir haben keine Übung mit dem Tod.
Vom kollektiven zum privaten Ereignis
«Der Tod ist keine Normalität», sagt Birgit Jeggle-Merz. «Jedenfalls nicht mehr. Wer ist denn heute schon mal beim Sterben eines Menschen dabei?» Viele Menschen hielten heute Distanz zum Sterben oder sie wüssten gar nicht mehr, dass es möglich wäre, den Tod und die Verstorbenen näher bei sich zu haben. Sie wüssten damit auch nicht, dass man sich damit Gutes tun könnte.
«Ich bin überzeugt, dass Abschiednehmen viel leichter ist, wenn man sieht, wie das Leben aus einem Menschen weicht, wie die Haut, die Gesichtszüge sich verändern. Die wenigsten haben noch Erfahrung damit», sagt Professorin Jeggle-Merz. Sie wolle damit bestimmt nicht sagen, dass es früher besser gewesen sei. Doch es sei hilfreich, wenn man wisse, wie jemand stirbt. Wie man ein Kinn hochbinde, wie man einen Toten wasche, das hätten unsere Grosseltern noch gewusst. Solche Rituale könnten enorm hilfreich für die Trauerarbeit sein.
Unser Umgang mit den Toten heute dagegen ist nicht nur verkrampft, sondern vor allem sehr distanziert. Hinter der Glasscheibe in sterilen Räumen bleiben uns die Toten fern. Kollektives Trauern findet immer weniger statt, nicht erst seit Corona. Es wird, da sind sich die Expertinnen, mit denen die Republik geredet hat, einig, beinahe nur noch in Einrichtungen wie Heimen und Spitälern gestorben. Die Toten werden in Aufbahrungsräume bei Friedhöfen oder in Spitälern gebracht, die Beisetzung findet immer öfter im engsten Familienkreis statt.
«Natürlich hat ein Abschied im kleinen Kreis seine schönen Seiten. Es macht auch vieles einfacher. Doch man lässt die Gesellschaft, das Dorf, Vereine oder Bekannte dabei aussen vor – viele Menschen machen genau deswegen lange keine Erfahrungen mit dem Tod», sagt Linda Romano. Man verwehre einer ganzen Reihe an Menschen die Möglichkeit zur Trauerarbeit.
Denn natürlich trauern nicht nur Angehörige um Verstorbene, sondern auch Menschen, die nur oberflächlich, gelegentlich oder vor Jahren in Kontakt mit dem Verstorbenen standen. Kaum jemand nimmt sich heute bewusst die Zeit, um entfernte Bekannte oder oberflächliche Bekanntschaften zu betrauern.
Mit diesem Verlust des Todes im Alltäglichen geht auch der Verlust des Sprechens über die Toten einher. Wir hängen in der Luft zwischen alten, oft kirchlichen Ritualen, die aus der Zeit gefallen scheinen, und den Möglichkeiten, das Andenken von Toten neu zu begehen. Wir hängen in der Luft zwischen dem gemurmelten «Mein Beileid», das so fremd und antiquiert im eigenen Mund liegt, und eigenen Worten, die sich zu hart anhören, zu ausgelutscht, zu wenig tief oder feierlich scheinen.
Das Endgültige, das der Tod an sich hat, macht diese Momente unvergesslicher, jeder Kommentar und jedes Wort wird scheinbar grösser und wichtiger. «Das letzte Erinnern an einen Menschen erhält durch die Endgültigkeit eine riesige Bedeutung – es sind die letzten Bilder, die man gemeinsam erlebt», sagt Birgit Jeggle-Merz.
Ironischerweise sagt man deshalb lieber gar nichts als das Falsche. Wir gewöhnen uns daran, noch stiller Abschied zu nehmen.
Das Dilemma: Das Private verlangt das Persönliche
Dass in den letzten Jahrzehnten (auch in der Kirche) häufiger die Biografien Verstorbener zur Trauerfeier gehören, macht dieses Dilemma noch präsenter. Oft versuchen Rednerinnen persönlich und individuell zu werden, bleiben aber in netten Floskeln gefangen. «Ein geschätzter Kollege», «ein geliebter Vater», «ein Genussmensch» – so heisst es dann. Was aber, wenn bei einer Beerdigung ein Verstorbener als Genussmensch gefeiert wird, obwohl alle wissen, dass er wegen des Übermasses an Essen, Trinken oder Rauchen starb? «Das ist unangenehm, ganz bestimmt», so Jeggle-Merz, «dabei wäre es bestimmt möglich, anzuhängen, dass der Verstorbene aber auch die Schattenseiten dieses Genusses erleben musste.»
Sie erinnert sich an eine Trauerfeier für einen Mann, der seiner Frau Gewalt angetan und seine Kinder aus dem Haus getrieben hatte. Im Vorgespräch mit den Angehörigen für die Rede sei das alles thematisiert worden. «Ich war sehr unsicher, wie viel ich wovon ausdrücken darf. Hier war es teilweise fast einfacher, zu sagen, dass der Verstorbene seiner Familie auch Schmerzen zugefügt hat. Doch durfte ich vor den Kindern auch sagen, er sei ein liebenswürdiger Mann gewesen?» Sie habe schliesslich versucht, die verschiedenen Seiten des Toten anklingen zu lassen.
Oft ist von Versöhnung am Ende eines Lebens die Rede. «Aber versöhnen heisst nicht ‹Schwamm drüber›», sagt Jeggle-Merz. Unter Versöhnung nach dem Tod einer Person verstehe sie: «Das Böse, das du mir angetan hast, wirkt nicht mehr. Du bist so gewesen, und es tut mir leid, dass du so gewesen bist.» Sie würde behaupten: Kein Mensch war nur böse. Kenne man die Geschichte der Leute, würden Verhaltensweisen oder Taten oft nachvollziehbar. «Der Mensch ist immer auch das Resultat seiner Erfahrungen.»
Dass Menschen, die unter einer verstorbenen Person gelitten hätten, das auch zum Ausdruck bringen dürften, könne aber sehr wichtig für deren Verarbeitung sein, erklärt die Liturgiewissenschaftlerin. «Und dass die Hinterbliebenen – und sei es im Nachhinein – Gerechtigkeit erfahren und spüren, dass auch sie als Lebende wichtig sind.»
Eine Leerstelle, wo früher Kirchentradition war
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Erinnerungskultur für viele stark verändert. Vor allem deshalb, weil sich im Westen immer mehr Menschen von der Kirche und ihren Ritualen entfernen. Gerade in der katholischen Kirchentradition gab es einen Ort, an dem die negativen Aspekte der verstorbenen Person ihren Platz hatten: das Fegefeuer.
«Man musste nicht über die schlimmen Dinge sprechen, die jemand getan hatte, denn es war klar: Der Mensch an sich ist sündhaft, schuldhaft, und dafür hatte man sich das Fegefeuer ausgedacht», sagt Jeggle-Merz. Man wusste, dort würde der Verstorbene alles sühnen müssen, was er im Leben falsch gemacht und verbrochen hatte. Und mit diesem «Wissen» konnte man die Person versöhnt ziehen lassen. «Eigentlich eine faszinierende und hilfreiche Idee», findet Jeggle-Merz.
Heute kennen die meisten von uns keinen strafenden Gott und kein Fegefeuer mehr. Wenn der Glaube an einen Gott besteht, dann meist an einen liebenden. «Und hier, wo das alte System nicht mehr greift, ist es nur verständlich, dass die Fragen nach dem Umgang mit den unschönen Seiten einer Person aufkommen», sagt Jeggle-Merz.
Eine gute Entwicklung wäre, sich von den Vorstellungen möglichst zu verabschieden und es für die Zukunft anders zu machen, sagt Bestatterin Linda Romano: «Wir sollten uns nicht von Normen davon abbringen lassen, was wir im Moment der Trauer brauchen.»
Oft sind diese Normen weniger sinnvoll, als man glaubt. Es kann heilsam sein, wenn wir auch kritisch von unseren Toten sprechen dürfen. Vielleicht könnten wir daraus auch für den Umgang mit denen lernen, die noch nicht gestorben sind – und uns mit der gleichen respektvollen Ehrlichkeit auch schon als Lebende begegnen.
In einer früheren Version dieses Beitrags schrieben wir, dass auch die reformierte Kirche das Fegefeuer kannte. Das ist falsch: Schon Reformator Zwingli bezeichnete das Fegefeuer als nicht existent, da in der Bibel die Belege dafür fehlten. Wir bedanken uns für den Hinweis aus der Verlegerschaft, wir haben die Stelle korrigiert.
Jana Avanzini ist freie Journalistin, Texterin und Theatermacherin.