Ab in die Vagina
Das Kunsthaus Zürich zeigt eine grosse Niki-de-Saint-Phalle-Ausstellung. Die Pionierin feministischer Kunst bleibt für den patriarchalischen Blick eine grosse Herausforderung.
Von Antje Stahl, 03.09.2022
Nun ist es also so weit. Herr Christoph Becker verlässt das Kunsthaus Zürich. In wenigen Wochen, am 1. Oktober, wird Ann Demeester den Direktorinnenposten übernehmen. Einige trauern darüber. Andere, Entschuldigung, begrüssen den Wechsel wohl eher.
Der Erweiterungsbau von David Chipperfield, für den Becker so gekämpft hat, wird einfach nicht von allen geliebt. Und dann war da die Sache mit der Bührle-Sammlung, die nicht nur in der Schweiz für furchtbare Schlagzeilen sorgte. Ausserdem sei es nach einem Vierteljahrhundert, fast so lange war Becker im Amt, nun wirklich an der Zeit, «frischen Wind» in die Bude zu bringen. Sicherheitshalber zeigt das Kunsthaus aber schon jetzt: Niki de Saint Phalle.
Als «frisch» beschreibt jedenfalls Christoph Becker, der die Einzelausstellung zu seinem Abschied kuratiert hat, das Werk von Niki de Saint Phalle bei der Medienkonferenz am Donnerstagvormittag. Manchmal weiss man selbst in einem Museum nicht, ob von Kunst oder nicht doch von Gemüse die Rede ist.
Niki de Saint Phalle war ja eigentlich sehr gut darin, allerlei Gebrauchsgegenstände und eben auch Lebensmittel in ihren Arbeiten zu verwursten. Eine lange Reihe von Reliefs hängt an den Wänden im Obergeschoss des Trakts der Gebrüder Pfister, in denen sehr viel Spielzeug, Flaschen und Dosen, Eier, Schuhe, Puppen, Blumen und Haare in Gips und Maschendraht eingebunden sind. Auf einige von ihnen schoss de Saint Phalle mit einem Gewehr. Die Farbbeutel, die sie unter dem Gips versteckte, platzten dabei, und die Farbe floss oder spritzte über das Relief. Das eine oder andere Mal könnte man dabei wohl auch an Blut denken. Rotes oder blaues, je nachdem.
In der Ausstellung laufen Ausschnitte aus Dokumentarfilmen, die die Künstlerin bei den sogenannten Schiessaktionen zeigen. Bei einer in Kalifornien trägt sie einen beigen Anzug mit schwarzem Kragen (der auch in der Ausstellung zu sehen ist). Ein grosses Gipsrelief steht mitten in den Hügeln von Malibu und ein paar Damen und Herren in schönen Klamotten haben auf Stühlen Platz davor genommen. Jedes Mal, wenn ein Schuss fällt, schrecken sie auf. Huch. Schöner konnte man das feine Kunstpublikum Anfang der 1960er-Jahre wahrscheinlich kaum vorführen.
Es gibt auch Fotos, die Niki de Saint Phalle wie eine Amazone inszenieren: Anlässlich der 800-Jahr-Feier der Pariser Notre-Dame posiert sie 1963 mit ihrer Schiessarbeit «Cathédrale (Notre-Dame)» vor dem Gebäude. Die Flinte hält sie sicher in den Händen, und der Blick ist fest auf die Kamera gerichtet. Sogar Rauch steigt zwischen ihrem kleinen und dem grossen Gotteshaus auf.
Viele Leute lieben diese ikonischen Bilder. Für den Ausstellungskatalog wurden eine Reihe von Künstlerinnen und Kuratorinnen angefragt, Texte über Niki de Saint Phalle zu liefern. Bice Curiger, Monster Chetwynd, Shana Moulton – sie alle verehren die Frau an der Waffe: «Die Filmaufnahmen, bei denen man dich auf weisse Gipsbilder schiessen sieht, haben uns schon als Mädchen begeistert, geprägt und zu Postfeministinnen heranwachsen lassen. Du in diesem coolen, weissen Overall: einfach legendär!», schreibt das Künstlerinnenkollektiv Mickry 3 über ihre «Königin». Wahrscheinlich wäre es nicht postfeministisch, solche Katalogbeiträge als Papierverschwendung zu bezeichnen, deshalb lassen wir das lieber.
Niki de Saint Phalle brachte in ihren Werken ja tatsächlich unermüdlich Sujets zum Vorschein, die zu einer Zeit, in der männliche Künstler die Kunstszene beherrschten, kaum darstellungswürdig erschienen. Allen voran Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft. In zahlreichen figürlichen Reliefs tauchen Frauenfiguren auf – in Hochzeitskleidern, mit Schädeln, Körpern, Kindern im Leib. Überall lauern Monster, Spinnen oder Schlangen.
«L’accouchement rose», «Die rosa Geburt» (1964) ist eine Art Höllentor in Form einer weiblichen Gestalt, verwachsen durch Gestrüpp mit Kinder- und Tierpuppen. In einem von Saint Phalles Kinderbüchern droht eine Schlange auf einer Zeichnung, eine Zunge zwischen die Beine eines nackten Mädchens zu stecken, Papa wird von einem langbeinigen schwarzen Tier quasi gleich verschlungen.
Im Kunsthaus Zürich werden diese Arbeiten mit Niki de Saint Phalles Lebensgeschichte verknüpft. Es gibt unzählige Selbstauskünfte in Form von Wandzitaten und einige hauseigene Erklärtexte, die darüber informieren, von welcher Gewalt das Leben von Niki, geboren 1930 als Catherine Marie-Agnès Fal de Saint Phalle in einem Vorort von Paris, geprägt war. Niemand kommt deshalb drum rum, ihre Kunst als deren Ausdruck zu lesen.
Einer ihrer wichtigsten Filme «Daddy» (1973) kann im Kunsthaus «aufgrund seiner Länge» zwar gar nicht gezeigt werden. Er soll sich aber auf jeden Fall ins Gedächtnis einschreiben als «autobiografisches Psychodrama und eine unbarmherzige Abrechnung mit dem Vater, der sie als Heranwachsende missbrauchte». Ihre Mutter aus den USA wird als «Komplizin» vorgestellt und an anderer Stelle durch die Worte ihrer Tochter demontiert:
Ich würde nicht wie du werden, Mutter. Du warst nicht die grosse Heilige, die du vorgabst zu sein. Ich erinnere mich sehr gut an einige deiner Liebhaber, als ich ein Teenager war. Da gab es einen rothaarigen attraktiven Journalisten, den ich besonders hasste. Für dich musste alles versteckt sein. Ich wollte zeigen. Ich wollte alles zeigen. Mein Herz, meine Gefühle. Grün. Rot. Gelb. Blau. Violett. Hass, Liebe, Lachen, Angst, Zärtlichkeit.
Fast neigt man dazu, die Ausstellungsmacherinnen selbst für Psychologen zu halten. Niki de Saint Phalle sei eine «komplexe Persönlichkeit» gewesen, steht da, die «wahrgenommen, respektiert, gefürchtet und geliebt» werden wollte. Und dabei war sie, aller Achtung, «ohne Attitüde und Arroganz, ebenso emotional wie kühl berechnend, fordernd und schmeichelnd, präzise und versponnen». Man wüsste gerne, über welchen Künstler der Nouveaux Réalistes, zu deren Gruppe de Saint Phalle als einzige Frau zählte, so etwas jemals geschrieben würde. Aber gut.
Je weiter man durch die Ausstellung läuft, desto raumgreifender und nicht zuletzt öffentlicher werden ihre Arbeiten: Da warten Modelle des fantastischen Tarotgartens, der Ende der 1970er in der Toskana für Kinder (und Erwachsene) erschlossen wurde. Und «Miss Helvetia!». Als die Schweizer Eidgenossenschaft ihren 700. Geburtstag feierte, entwarf de Saint Phalle eine Matrone in Tracht mit Streifen und Blumenmuster. Sie hält einen Speer und das weisse Flaggenkreuz auf rotem Grund in den Händen. In der Schau hängt ein Holzschnitt an der Wand, in dem Elektronik dafür sorgt, dass Miss Helvetia sich in ihre Einzelteile zerlegt und niedliche Kühe zum Vorschein kommen. De Saint Phalles Verhältnis zur Schweiz, aus der ihr Lebenspartner Jean Tinguely kam, in der sie viel ausstellte und auch verkaufte, war eben auch von den allerschönsten Klischees geprägt.
Beeindruckend auch ihre Beiträge zu Kampagnen gegen Aids (ein Zeichentrickfilm aus dem Jahr 1996), gegen Umweltzerstörung, Waffengewalt und für das Recht auf Abtreibung (alle aus dem Jahr 2001). Selbst bei ihrem politischen Protest sollen allerdings persönliche Schicksalsschläge die Kunst erklären: Einige ihrer Weggefährten starben an einer HIV-Erkrankung. Der psychoanalytische Kurzschluss wirkt angesichts der medialen Wirkung der Aids-Kampagne (die im französischen Fernsehen lief) glücklicherweise aber nur wie eine Fussnote.
In den Anfängen des Feminismus galt ja noch die Regel: Das Private ist politisch. Deshalb darf man sich wahrscheinlich nicht wundern, dass eine Person wie Niki de Saint Phalle mit ihrem Werk kurzgeschlossen wird. In Norwegen, wo in zwei Wochen die nächste grosse Niki-Retrospektive im Henie Onstad Kunstsenter öffnet, wird sie als «Pionierin der Kunst und des Feminismus» bewundert, die «stereotype Rollenbilder von Frauen herausgefordert» habe mithilfe ihrer «ästhetischen Praxis» und eben: «Selbstinszenierung». Die Frage, die sich monografische Schauen jedoch immer noch gefallen lassen müssen, ist, was sie in ihrer Verehrung möglicherweise verpassen.
Im Kunsthaus Zürich, das erwartet man, wird auch «Hon» gezeigt. Hon, schwedisch für «sie», war eine liegende Riesenskulptur mit gespreizten Beinen, die 1966 im Moderna Museet in Stockholm errichtet wurde. Sie war rund 25 Meter lang, 9 Meter breit und 6 Meter hoch. Die Besucherinnen spazierten durch ihre Vulva – ein grosses Loch – in einen mehrgeschossigen Bauch. In die, wie soll man sagen, Gebärmutter, wurden Kunstwerke gestellt, die sich wie Maschinen bewegten, eine davon sollte Glasflaschen zertrümmern aus einer Milchbar, an der sich die Besucher bedienten.
Auch hier läuft ein Dokumentarfilm in Schwarz-Weiss, der den Aufbau «der grössten Hure der Welt» (Zitat Niki de Saint Phalle) einfängt. De Saint Phalle bemalt darin die Körperhülle, sie klettert auf Leitern, um mit ihrem Pinsel die Knie und den hohen schwangeren Bauch zu erreichen. Jean Tinguely, Per Olof Ultvedt und Rico Weber kümmern sich um das Innenleben und statten das Gefäss mit ihren Kunstmaschinen und gefälschten Gemälden von Starkünstlern wie Yves Klein, Francis Bacon und Wassily Kandinsky aus. Ein «Mann im Stuhl» aus Holz von Ultvedt vollführt mechanische Bewegungen und wird beim Fernsehgucken massiert.
Wer die jüngste Forschung zu diesem Projekt kennt, muss unweigerlich an eine «Male Factory» – eine männliche Fabrik denken. Der Traum des Patriarchats richtete sich ja seit Ewigkeiten auf den Wunsch, zu gebären. Kunst wurde gerne als Frucht des männlichen Genius und der Schöpfung interpretiert. Und das Begehren, das die Vulva auslöste mit ihrer dunklen Höhle, wurde mehr als einmal in Szene gesetzt, sehr prominent von Gustave Courbet natürlich mit seinem Gemälde «Der Ursprung der Welt» (1866). Das Kunsthaus Zürich ignoriert diese Seite der Produktion aber lieber und zitiert stattdessen wieder de Saint Phalle, die beglaubigt, dass es «nichts Pornografisches» an «Hon» gegeben habe, «auch wenn sie durch ihr Geschlechtsteil betreten wurde».
Während der Medienbesichtigung richtet trotzdem jeder Typ seine Kamera zwischen die gespreizten Beine eines Gipsmodells der Schwangeren, das auf einem Sockel und unter einer Glasvitrine liegt. Man könnte das als performativen Widerspruch verstehen – gute Kunst zwingt ihre Betrachter nun einmal dazu, sich selbst zu entlarven. Das Problem ist nur, dass der Kurator und Noch-Direktor Christoph Becker auf der besagten Medienkonferenz so unfassbar begeistert über diese «hinreissende Idee» ist, eine begehbare Skulptur zu schaffen und diese nach der Laufzeit der Ausstellung sogar wieder zu zerstören, dass er voller Enthusiasmus ausruft: «Das war ein Akt der Entäusserung», «eine Urerfahrung für die Museumsbesucher», «da konnte man reingehen!» Und stellen Sie sich vor: «Da war was! Nicht einfach eine Höhle.» Die Worte Vagina, Vulva oder – Gott bewahre – Scheide nimmt er selbstverständlich nicht in den Mund, das wäre auch wirklich zu schön gewesen.
Den Ausstellungskatalog bestückte Becker mit vielen, eher informativen Texten: «Die grösste und spektakulärste aller Nanas (…) entstand 1966 im Moderna Museet in Stockholm, dessen Leiter Pontus Hultén, de Saint Phalles wichtigster Förderer, angeregt hatte, eine begehbare Skulptur zu schaffen», schreibt er über «Hon». Nun gibt es aber leider auch darüber Streit, warum dieser ach so wichtige Pontus Hultén (und ebenso Jean Tinguely) seit eh und je wie ein kreativer Urheber verkauft wird. Im Kunsthaus Zürich wird kein Wort darüber verloren. Selbst Cathérine Hug, Kuratorin im Kunsthaus Zürich, die einen tollen (und den einzigen kritischen) Essay über die «(Ent-)Sexualisierung des nackten Körpers als Strategie der Selbstermächtigung» für den Katalog verfasst hat, thematisiert das nicht.
Eigentlich sollten damals in Stockholm noch weitere Künstler in die Ausstellung integriert werden, unter anderen der Bildhauer und Pop-Artist Claes Oldenburg. Da Hultén ihm aber versprach, direkt im Anschluss eine Einzelausstellung zu bekommen, zog er sich in die obere Etage zurück und beobachtete durch Fenster, die die Ausstellungsräume im Moderna Museet verbinden, mit Freude, wie die «Cunt» (dt. Fotze) entstand und ganz besonders, wie sie auseinandergerissen wurde, damit er seinen Soloauftritt haben konnte. In Oldenburgs Worten:
Ich, ein leidenschaftlicher Anti-Amerikaner, denke, es ist gut, die Fotze zu akzeptieren und sie näher zu studieren, einen Eingang, einen Ausgang. In den kleinsten Magazinen Schwedens wird der Fokus auf die Fotze gerichtet. In den USA ist immer etwas im Weg, die Fotze ist verstellt. Von meinem Studio im Moderna Museet schaue ich direkt auf Hons Fotze. (…) Ich wünschte, dass die, die sie in Gänze gesehen haben, sehen könnten, wie sie auseinandergenommen wird. Drei Monate: Geburt/Leben/Tod. (…) Ihren Badeanzug mochte ich nicht.
Die Kunsthistorikerin Annika Öhrner beschreibt die Zerstörung der Skulptur denn auch als Massaker, an dem nichts mehr vieldeutig war wie noch bei den Schiessaktionen und -bildern. «Handwerker brechen Hons gigantischen Körper auseinander, der Museumsdirektor übernimmt die Führung mit einem Gasbrenner in der Hand, um ihren Kopf zu beseitigen.» Der Kopf ging denn auch in die Sammlung des Museums über, andere Teile wurden wie Steine der Berliner Mauer verschenkt oder verkauft. Das heisst: Von Zerstörung kann auch nicht wirklich die Rede sein.
Die Überreste mögen zwar nicht beweisen, dass «Hon» objektiviert wurde (nicht mehr als jeder Kunstgegenstand eine Objektivierung darstellt); aber sehr viele Leute wollten ein Andenken an die begehbare Schwangere behalten, ein Stückchen von ihrer provokanten Wirkung abgreifen. Ähnliches gilt vermutlich auch für Museumsdirektoren, die mit einer letzten Ausstellung ja auch immer ihr eigenes Denkmal setzen?
Am Ende der Schau im Kunsthaus Zürich steht ein grosser Totenkopf, vergoldet mit buntem Spiegelglas. Hinter seiner linken Schläfe schenkt eine geöffnete Tür Einblick in den «Meditation Room» (1990), der mit blauen Kacheln ausgelegt ist. Leider darf man ihn nicht betreten.
Um die Ecke, vor der wirklich hinterletzten Wand der Ausstellung, hängt dann allerdings ein Mann kopfüber von der Decke. Handelt es sich bei dem Strichmännchen aus bemaltem Polyester «Le Pendu», «Der Gehängte» (1988) womöglich um eine Metapher für das Schicksal von einflussreichen Männern in diesen Zeiten?
Am Ende würde dann jedenfalls der Humor siegen. Vielen Dank dafür.
In einer früheren Version haben wir die Ausstellung im Gebäude von Karl Moser verortet, korrekt ist sie im von den Gebrüdern Pfister erstellten Trakt zu sehen. Die Stelle ist korrigiert.
«Niki de Saint Phalle». Kunsthaus Zürich, bis 8. Januar 2023.