Kaum Arbeit und wenig Perspektiven: Jugendliche auf einem Pferdekarren in der Nähe von Sidi Bouzid.

Tunesien ist müde

Seit 2011 haben die Tunesier auf eine bessere, demokratische Zukunft gehofft. Jetzt wurde eine Verfassung angenommen, die in die Autokratie führen könnte. Was ist da schiefgelaufen? Eine Reise nach Sidi Bouzid, wo die Revolution begann.

Von Karin A. Wenger (Text) und Philipp Breu (Bilder), 01.09.2022

Synthetische Stimme
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Das schwarze Metalltor mit der goldenen Schrift rostet vor sich hin. «Museum der Revolution» steht auf Französisch und Arabisch in solch zarten Linien geschrieben, als sollten die Wörter keine grosse Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das Tor ist verschlossen, und ein Blick über die angrenzende Mauer fällt in ein braches Feld mit überwachsenem Bauschutt.

Das Tor steht im Zentrum von Sidi Bouzid, einem Ort, den bis zum 17. Dezember 2010 kaum jemand kannte. Dann überschüttete sich der Gemüse­händler Mohamed Bouazizi, 26, mit Benzin und zündete sich direkt vor der Gemeinde­verwaltung an, ganz in der Nähe des schwarzen Tors. Nur 28 Tage dauerte es danach, bis der Herrscher Zine al-Abidine Ben Ali nach 23 Jahren Diktatur ins Exil flüchtete. Seither gilt die Stadt im Landes­inneren von Tunesien als Ursprung der Proteste, die in den arabischen Ländern ausbrachen.

Tunesien wandelte sich in der Folge als einziger Staat hin zu einer Demokratie.

Zweihundert Meter weiter die Hauptstrasse von Sidi Bouzid entlang sitzt der Anwalt Khaled Aouainia, 51, in seinem Büro. Er ist ein Idealist, seine Vorbilder sind Lenin, Mao Zedong und der ägyptische Nationalist Gamal Abdel Nasser. Schon als Jura­student kämpfte er gegen das Regime von Ben Ali, später verteidigte er politische Gefangene. Heute stapeln sich in seinem Schrank Papier­mappen mit Details zu Korruptions­fällen.

Als sich der Gemüse­händler Bouazizi anzündete, vergass Aouainia die Angst vor der Polizei, die damals alle in Tunesien einte. Mitten in einer Menschen­menge vor der Gemeinde­verwaltung in Sidi Bouzid hielt er eine wütende Rede, in der er dem Regime vorwarf, die Region zu vernachlässigen und schuld an der wirtschaftlichen Misere zu sein. Auf seinem Smart­phone zeigt er das Video der Rede, die via Facebook und den Sender al-Jazeera die Welt erreichte und in Tunesien dazu beitrug, dass landesweit Proteste ausbrachen. «Arbeit, Freiheit, Würde», fordert er mit lauter Stimme. Es ist der Slogan, den die Demonstranten später auf den Strassen im ganzen Land brüllten.

Als Khaled Aouainia an diesem Vormittag Mitte August 2022 von den Jahren nach der Revolution erzählt, greift er sich ans Herz und krümmt sich nach vorne: Er beschreibt, wie er 2019 einen Herz­infarkt erlebte, als er in seinem Wohn­zimmer sass und den Politikern im Fernsehen zuhörte. «Ich habe es einfach nicht mehr ertragen: die Inkompetenz, die Korruption, die Ungerechtigkeit», sagt er. Würde er heute nochmals eine Rede schreiben, klänge sie ähnlich wie damals, sagt er. Doch vortragen müsste sie jemand anderes: «Ich bin zu müde.»

Khaled Aouainia in seinem Anwaltsbüro in Sidi Bouzid.
Akten zu Korruptionsfällen in einem der Schränke des Anwalts Khaled Aouainia.
Khaled Aouainia zeigt den Film, der ihn bekannt gemacht hat, als er 2010 in Sidi Bouzid seine Kritik am Land öffentlich geäussert hat.

Viele Menschen in Tunesien sind desillusioniert. 70 Prozent glauben mittlerweile, dass die Wirtschaft unter einer Demokratie schwach sei – unter besser Ausgebildeten ist dieser Anteil sogar noch etwas höher. Und zwei Drittel finden, demokratische Systeme seien voller Probleme.

Vielleicht auch deshalb haben die Tunesier am 25. Juli mit fast 95 Prozent Ja-Stimmen eine neue Verfassung angenommen, die der aktuelle Präsident Kaïs Saïed weitgehend selbst geschrieben hatte. Unterstützerinnen sprechen von einem Präsidial­system, das effizienter Entscheide hervorbringt als das fragmentierte Parlament. Kritiker hingegen warnen vor einer Diktatur. Der 64-jährige Saïed, der vor einem Jahr das Parlament auflöste und seither per Dekret regiert, verfügt neu über weitreichende Macht: Er kann die Regierung und Richterinnen ernennen oder entlassen, ein Verfahren zur Amts­enthebung fehlt.

Das Verfassungs­referendum war für Saïed Erfolg, aber auch Blamage: Weniger als ein Drittel der Tunesier gingen überhaupt zur Urne. Vom Elan, mit dem der parteilose Jurist 2019 gewählt wurde, ist wenig übrig.

Wieso setzen Menschen, die vor etwas mehr als einem Jahrzehnt einen Diktator vertrieben, ihre Hoffnung auf einen einzigen Mann, der sie mit seiner Verfassung zurück in eine Autokratie führen könnte? Und wieso bleibt der grosse Rest der Wahl fern? Ist die Demokratie im einstigen Vorzeige­land bereits am Ende?

Wer Tunesiens Probleme verstehen will, ist im Landes­inneren am richtigen Ort. In dieser Region haben sich die Menschen nach der Revolution besonders viel erhofft und wurden deshalb vielleicht besonders enttäuscht.

Willkommen in der Provinz Sidi Bouzid.

Hier wohnen:

  • Khaled Aouainia, 51. Als Anwalt kämpft er gegen Korruption, was viele Tunesier als eines der grössten Probleme des Landes sehen. Er stimmte der neuen Verfassung zu.

  • Nedia, 46, die eigentlich anders heisst. Die Feld­arbeiterin in einem kleinen Dorf ausserhalb von Sidi Bouzid kann von ihrem Tages­lohn immer weniger Essen kaufen wegen der Wirtschafts­krise. Sie vermisst das Leben während der Ben-Ali-Ära. Die Abstimmung war ihr egal.

  • Wassim Jdey, 31. Trotz Universitäts­diplom ist er arbeitslos – wie viele in Tunesien. Er boykottierte die Wahl.

  • Mouadh Gammoudi, 26. Als Aktivist aus der Zivil­gesellschaft versucht er zu kompensieren, worin der Staat versagt. Er wollte Nein stimmen, schrieb dann aber Ja auf den Zettel.

  • Mohamed Hedi Mnasri, 62. Er ist Sprecher der muslimisch-konservativen Ennahda-Partei in Sidi Bouzid. Die Partei, die seit 2011 an allen Regierungen beteiligt war, ist für viele das pure Feind­bild und schuld an der Misere. Er boykottierte die Wahl.

Die Provinz Sidi Bouzid bildet zusammen mit Kasserine und Kairouan den ärmsten Teil des Landes. Obwohl es hier natürliche Ressourcen wie Phosphat gibt und Feld­arbeiterinnen viele Tonnen Oliven, Erdbeeren oder Mandeln ernten, fliesst in den Dörfern wenig Wasser, in Cafés sitzen Männer tagelang auf Plastik­stühlen rum, und Junge finden wenig, was sie in der Heimat hält.

Es ist kein Zufall, dass der Schrei nach Jobs, Freiheit und Würde hier begann. Die zentral­westliche Region wurde seit der französischen Kolonial­zeit vernachlässigt. Und daran haben auch die zehn verschiedenen Regierungen kaum etwas geändert, die Tunesien seit 2011 hatte.

Männer in Sidi Bouzid sitzen abends in einem Café. Tunesien hat eine sehr ausgeprägte Cafékultur. An fast jeder Ecke gibt es Cafés, die auch als «öffentliche Wohnzimmer» dienen.
An der Fassade der Post in Sidi Bouzid wurde das Porträt von Mohamed Bouazizi angebracht.

Was ist schiefgelaufen seit der Revolution? Eine Annäherung in fünf Akten.

1. Die Wirtschaftskrise

Die aktuelle Wirtschaftskrise Tunesiens trifft Menschen wie die Feld­arbeiterin Nedia, 46, besonders hart. An Sommer­tagen wie diesem Mitte August steht sie um drei Uhr morgens auf, bereitet Frühstück für ihren Mann und die drei Kinder vor, und steht danach ab fünf Uhr auf dem Feld im kleinen Dorf Ennasr, wo sie Mandeln von Bäumen schlägt. Die Sonne brennt auf ihren Strohhut, auf den staubigen Boden und die Kakteen an den Wegrändern.

Das staatliche Machtzentrum in Tunis fühlt sich hier weiter weg an als vier Stunden Autofahrt. Nedias Leben hat wenig zu tun mit schicken Läden in der Stadt oder den für Touristen heraus­geputzten Gässchen in der Medina, der Altstadt. Die Verfassung ist für viele Menschen in der Region Sidi Bouzid ein Bündel Papier, über dessen kryptische Sätze sich Intellektuelle streiten.

Was hier zählt: genug zu essen auf dem Tisch. Nedia hat immer öfter zu wenig. Zwar erhält sie während der Ernte etwas mehr Geld, zwischen 25 und 40 Dinar pro Tag. Doch die Ernte­zeit der Mandeln dauert nur gut zwei Wochen, die der Oliven etwa drei. Während des Rests des Jahres verdient sie 15 Dinar pro Tag, umgerechnet 4.50 Schweizer Franken, den Mindest­lohn in Tunesien.

Sie könne auf dem Markt kaum mehr Früchte kaufen, 7 Dinar koste eine Wasser­melone mittlerweile, mehr als doppelt so viel wie früher. Seit der Revolution sei alles teurer geworden. Zucker und Couscous findet sie auf dem Markt oft gar nicht mehr.

Tunesien steckt in der schlimmsten Wirtschafts­krise seit der Unabhängigkeit im Jahr 1956. Die auf Tourismus angewiesene Wirtschaft litt stark unter mehreren islamistischen Terror­anschlägen und später unter der Corona-Pandemie. Im Juli betrug die Inflation 8,2 Prozent, die tunesische Währung hat seit der Revolution gegenüber dem Dollar massiv an Wert verloren: 1 Dollar kostete im Juli 2011 etwa 1,4 Dinar, heute um die 3,2 Dinar. Dem Staat droht der Bankrott.

Fadhel Kaboub analysiert die Probleme der tunesischen Wirtschaft seit über zwei Jahrzehnten. Der Tunesier lehrt als Wirtschafts­professor an der Denison-Universität in Ohio und ist Präsident des unabhängigen Thinktanks Global Institute for Sustainable Prosperity. Er sagt, Tunesien sei wie viele post­koloniale Entwicklungs­länder gefangen in einer Falle aus fehlender Ernährungs- und Energie­souveränität. Das Land fokussiere seit den 1970er-Jahren darauf, billige Agrarprodukte sowie Rohstoffe zu exportieren, während teure Energie und Industrie­güter importiert werden. Dadurch entstehe ein Handels­defizit, was den Wert des Dinars gegenüber dem Euro oder Dollar weiter abschwäche. Als Folge würden Produkte aus dem Ausland noch teurer.

Kaboub mahnte schon 2011, dass dieses Wirtschafts­modell geändert werden müsse, da es die Ungleichheit und die Schulden­krise kreierte, die unter anderem Nähr­boden für die Revolution waren. «Es gab im letzten Jahrzehnt politische Reformen, aber nie welche in der Wirtschaft», sagt er. Keine Partei habe je eine Alternative präsentiert.

Ein Wandgemälde in Sidi Bouzid feiert die Rolle der Frauen für die Freiheit in Tunesien.
Frauen ernten Mandeln auf einem Gut in der Nähe von Maknassy etwas ausserhalb von Sidi Bouzid. Bei der Ernte von Oliven und Mandeln verdienen Feldarbeiterinnen mehr als sonst, allerdings dauert sie nicht länger als drei Wochen.

«Wir hofften nach der Revolution auf Jobs für unsere Kinder und ein besseres Leben», sagt Feld­arbeiterin Nedia. Doch das Gegenteil sei passiert. Einer ihrer Söhne arbeitet an der Maschine, die Mandeln schält, um seine Bücher fürs Gymnasium zu bezahlen. Ihre Tochter, 22, die ein Praktikum als Pflegerin macht, werde neben der Universität auch auf dem Feld arbeiten. Ob sie nach dem Abschluss eine Stelle findet? Inshallah, so Gott will.

Während Nedia die Wasser­leitungen für die Felder aufdreht, läuft in den Häusern in ihrem Dorf Ennasr oft nichts aus den Hähnen. Sie arbeitet ohne Vertrag und ohne Sozial­versicherung, wie schätzungsweise 40 Prozent der Arbeiter in Tunesien. «Soll so das Leben in einer Demokratie sein?», fragt sie. Niemand kümmere sich um ihre Rechte. Den Landbesitzer, ein Gross­investor, der in einer der gut entwickelten Küsten­städte lebe, habe sie während 13 Jahren Arbeit kein einziges Mal gesehen.

Eines der Wahlversprechen von Präsident Kaïs Saïed ist, den vernachlässigten Regionen mehr Mitsprache zu geben. Dafür will er eine zweite Parlaments­kammer einführen, die aus Vertretern lokaler und regionaler Versammlungen besteht. Wie genau das neue System funktionieren wird, ist allerdings noch unklar.

Nedia glaubt Saïed nicht. Sie habe bisher an jeder Abstimmung teil­genommen, doch am 25. Juli sah sie keinen Sinn darin. «Es ändert sich sowieso nichts, ausser, dass alles teurer wird. Ich wünschte, wir könnten zurück in die Zeit von Ben Ali», sagt sie. Damals habe sie sich Essen leisten können und weniger Angst vor Dieb­stählen gehabt, weil die Menschen die Gesetze respektiert hätten. Zudem hätten die Beamten viel zuverlässiger gearbeitet.

Dieser Nostalgie begegnet Wirtschafts­experte Fadhel Kaboub derzeit oft. Rein ökonomisch betrachtet hätten Arbeiter in den 1990er-Jahren tatsächlich bessere Chancen gehabt, das Leben zu bestreiten, sagt er. Ausländische Unternehmer hätten damals noch mehr investiert, da die politische Lage stabiler war und auch der Tourismus blühte. Doch besonders in den Jahren vor der Revolution sei die Situation ähnlich schlecht gewesen wie heute. «Die vermeintlich gute Zeit ist also eine selektive Erinnerung», sagt er.

2. Die Arbeitslosigkeit

Wer in Tunesien nicht auf dem Feld, als Strassen­verkäuferin, in einem Café, einer Kleider­fabrik oder im Schmuggel arbeitet, hat vielleicht Glück und findet eine Stelle im kleinen Privat­sektor oder beim Staat, dem grössten Arbeitgeber des Landes. Wer Pech hat, und das haben viele, bleibt arbeitslos.

So wie Wassim Jdey, 31, und die Hälfte seiner acht Geschwister, alle mit Universitäts­abschluss. Als Jdey nach seinem Sport­studium keinen Job fand, begann er, sich im Verband der diplomierten Arbeitslosen zu engagieren. Nun führt er ehrenamtlich das Regional­büro in Sidi Bouzid.

15 Prozent der Bevölkerung sind in Tunesien arbeitslos, doppelt so viele sind es bei den Akademikerinnen und unter den Jungen sogar 40 Prozent. Zwischen 2009 und 2019 wurden in Sidi Bouzid pro 1000 Personen 19 Jobs geschaffen. Das ist die tiefste Zahl in ganz Tunesien.

Wirtschaftsexperte Fadhel Kaboub erklärt, der Arbeits­markt im Land sei nie für gut Ausgebildete ausgelegt gewesen. Das Wirtschafts­modell basiere auf Jobs im Tieflohn­sektor. Und so gingen viele Menschen wie Wassim Jdey im Sommer 2021, als Präsident Saïed das Parlament absetzte, wieder auf die Strasse und riefen: «Arbeit, Freiheit, Würde.» Ein Jahr später boykottierte Jdey die Abstimmung über die Verfassung, da er, wie viele andere, den Prozess nicht legitimieren wollte.

Wassim Jdey, 31, sitzt in einem Café in Sidi Bouzid. Trotz Universitäts­diplom ist er arbeitslos. Er boykottierte die Wahl.
Zwei Jugendliche in einem Café in Tunis machen das, was die meisten in ihrem Alter nach der Schule machen: Sie schlagen die Zeit tot. Unter Jugendlichen beträgt die Arbeitslosen­quote um die 40 Prozent.

Die Zukunft von jungen Männern in Tunesien ist ohne Job quasi blockiert. Wassim Jdey sagt, er hätte gerne eine Familie, aber wenn er eine Frau kennen­lerne, denke er automatisch: «Das hat keinen Sinn, ich kann weder eine Hochzeit noch eine Wohnung bezahlen.» Weg aus seiner Heimat möchte er eigentlich nicht, doch seit kurzem bewirbt er sich auf Jobs als Sport­lehrer in den Golf­monarchien und in Kanada. Und so verliert Tunesien immer mehr kluge Köpfe.

Manche, die keinen legalen Weg raus finden, riskieren ihr Leben: In den vergangenen zwei Jahren versuchten so viele Tunesier wie nie seit 2011 übers Mittel­meer nach Europa zu gelangen. Wassim Jdey sagt, in seinem Heimat­dorf ausserhalb von Sidi Bouzid seien in den vergangenen Wochen über 30 Leute abgereist.

3. Die Zivil­gesellschaft

Das Vakuum in seiner Heimat zu füllen und den Jungen etwas zu geben, was sie hält, ist das Ziel von Mouadh Gammoudi, 26. Er träumte von einer kulturellen Revolution, wollte verkrustete Traditionen, Gesellschafts­modelle und die Mentalität gegenüber Frauen verändern. Und merkte rasch, dass dies deutlich länger dauert, als einen Diktator zu stürzen.

Gammoudi, der im Ort Maknassy aufwuchs, bemerkte schon als Jugendlicher bei Ausflügen in die Küsten­städte, dass er in einer vernachlässigten Region wohnt. Der Alltag ist monoton, für Kinder gibt es wenig Angebote. Als Mouadh Gammoudi mit 18 Jahren nach Tunis zog, um Architektur zu studieren, realisierte er, wie sich das Leben auch anfühlen könnte.

Mit 19 sah er zum ersten Mal einen Kino­film und dachte: Das ist das Medium, das in meiner Heimat fehlt. Vielleicht sei Kino die einfachste Form der Kunst, um Menschen etwas zu vermitteln, sagt er. Mit Freunden gründete er einen Kultur­verein, der seit 2017 in vier Dörfern der Region Sidi Bouzid ein Film­festival organisiert.

Beispielsweise im Dorf El Ghris, das aus mehreren in der Landschaft verteilten Häuser­gruppen besteht. Der Kino­saal ist eine kleine Halle neben der Strasse, konstruiert aus Metall­stangen und Schilf. An Orten wie diesem zeigten die Freunde arabische Dokumentar­filme über Probleme von Bauern, Wasser­mangel oder soziale Proteste. Nach den Filmen debattierten sie mit den Zuschauerinnen über den Inhalt.

Aktivisten wie Gammoudi und seine Freunde gibt es in Tunesien unzählige. Sie werden oft als Rückgrat der Demokratie beschrieben, weil sie dort einen Beitrag leisten, wo der Staat Lücken hinterlässt. Doch ihre Mittel sind begrenzt. Zurzeit nutzt ein Anwohner den Kinosaal als Café, denn um Filme zu zeigen, fehlt dem Kulturverein das Geld.

Mouadh Gammoudi, Gründer eines Kulturvereins, vor einer der Hütten in El Ghris, die normalerweise als Kino genutzt werden.

Für ein anderes Projekt hingegen gibt es finanzielle Hilfe von der EU: Gammoudis Organisation lehrt Jugendlichen, Kurz­filme zu produzieren. «Wir wollen ihnen einen Raum geben, um ihre Realität und ihre Sorgen auszudrücken», sagt er. Dabei entstehen Filme wie «Dorf der Männer», in dem eine Jugendliche aus Ennasr beschreibt, dass die Männer alles dürften, während sie als Frau sich ständig eingeschränkt fühle.

Der Film gab zu reden im Dorf. Die Leute hätten von der jungen Frau wissen wollen, wieso sie so etwas sage, erzählt Gammoudi. Auch er selbst wurde schon beschimpft. Islamisten hätten ihn ungläubig und sittenlos genannt, weil er Mädchen und Knaben zusammenbringe.

Die Religion ist für die tunesische Gesellschaft im Vergleich mit anderen islamischen Ländern weniger wichtig. Trotzdem brachte sie nach 2011 eine Konflikt­linie hervor, die Politik und Bevölkerung polarisiert. Das säkular-bürgerliche Lager steht dem muslimisch geprägten gegenüber, das die religiöse Identität Tunesiens betont, die vom alten Regime unterdrückt wurde.

Gammoudi sagt, er habe das Gefühl, dass sich die Mentalität der Menschen ändere – jedoch nur langsam. Vielleicht zu langsam für ihn selbst. Mit Freunden und seiner Familie diskutiert er derzeit oft: Bleiben oder gehen? Es ist ihm zu eng in Maknassy, wo jeder weiss, wenn er mit einer jungen Frau einen Kaffee trinken geht, und wo er keine Shorts tragen kann, weil sich das nicht gehört als Sohn eines Politikers. «Die Menschen hier respektieren meine Freiheit nicht», sagt er.

4. Die Korruption

Derweil preist Präsident Kaïs Saïed für alle Probleme im Land eine grosse Lösung an: den Kampf gegen die Korruption. Viele Tunesierinnen loben ihn als Mann, der endlich hart gegen die korrupte Elite durchgreife. Seit letzten Sommer, als Saïed den Abgeordneten ihre Immunität entzog, belegte er Politikerinnen mit Reise­verboten und entliess Richter. Er ersetzte mehrere Provinz­gouverneure und Leiter von Behörden, auch in Sidi Bouzid.

«Korruption ist wie Krebs», sagt der Anwalt Khaled Aouainia, der damals die bekannte Rede in Sidi Bouzid hielt. «Und Tunesien braucht eine Chemo­therapie.» In seiner jahrelangen Arbeit erlebte er, wie schwierig die Korruption zu bekämpfen ist. Schon zweimal stand sein Büro unter Polizeischutz, weil bei ihm eingebrochen wurde.

Aouainia, der alte Sneakers und ein schlichtes Hemd trägt, sagt, die Klienten bevorzugten immer öfter Anwälte, die gute Kontakte zu Richtern haben, statt solche mit Expertise. Auch er sei schon gebeten worden, Verfahren durch Bestechungs­gelder zu lösen, aber er habe immer abgelehnt. «Schaut», sagt er wie als Beweis, er kaufe viele Kleider secondhand und teile sich das Auto mit seiner Frau.

Die Korruption in Tunesien ist historisch stark gewachsen unter Ben Ali und seiner Frau Leïla, die ihrer Familie ein Imperium aufbaute. «Seit der Revolution ist es nur noch schlimmer geworden», sagt Aouainia. Statt einiger korrupter Familien seien nun überall Diebe, vom Chef einer Behörde über die Politikerin bis zum Strassen­polizisten. «Demokratie ist etwas für eine Gesellschaft ohne Korruption», findet er.

5. Die Wahl zwischen schlecht und schlechter

Für besonders übel halten viele in Tunesien die muslimisch-konservative Ennahda, die grösste Partei des Landes. Nach der Revolution kamen ihre Vertreter aus dem Gefängnis oder dem Exil im Ausland. Die Partei hat zwar nie allein regiert, war aber an allen Regierungen seit 2011 wesentlich beteiligt. Aouainia wirft ihren Vertretern Korruption und Inkompetenz vor: «Diebe können keine Demokratie führen. Ich unterstütze Saïed nicht, aber ich bin froh, dass er diese Politiker absetzte, die mir so viel Schmerzen zufügten.» Deshalb habe er Ja gestimmt.

Auch der Kino-Aktivist Mouadh Gammoudi, der noch wenige Tage vor der Abstimmung Nein auf den Wahl­zettel schreiben wollte, entschied sich schliesslich für die neue Verfassung. Es war für ihn, wie für viele andere auch, eine Wahl zwischen Saïed und Ennahda – und der Präsident erschien ihm als kleineres Übel.

Mohamed Hedi Mnasri, 62, Sprecher der Ennahda-Partei in Sidi Bouzid, bestätigt im Gespräch, dass ein Teil der Wähler für die Verfassung gestimmt hätte, weil sie die Politiker abstrafen wollten. Denn diese hätten es nicht geschafft, die wirtschaftliche Situation zu verbessern. Das Parlament sei zu fragmentiert gewesen, um Kompromisse zu finden.

Trotzdem sei es ungerecht, sagt Mnasri, dass die Ennahda nun als Feindbild dastehe, obwohl sie nie allein regiert habe.

Dass Präsident Saïed die wirtschaftliche Situation des Landes und der Region verändern wird, bezweifelt Mouadh Gammoudi. Bisher habe Saïed nichts geliefert, obschon er seit über einem Jahr allein regiere.

Ein Monument in Sidi Bouzid zu Ehren des verstorbenen Gemüse­händlers Mohamed Bouazizi. Das Monument zeigt den Karren, mit dem er Gemüse verkauft hat. Dahinter das Tor zum inexistenten «Musée de la révolution».
Ansicht des Mittelmeers von Sidi Bou Saïd, einem noblen Villenvorort von Tunis.

Für Gammoudi, den ältesten von drei Söhnen, ist es offensichtlich, dass die neue Verfassung gefährlich ist. Schon früh lernte er, was eine Diktatur bedeutet. Weil seine Eltern unter Ben Ali in der politischen Opposition aktiv waren, durfte er in der Schule nie erzählen, über welche Themen sie am Familien­tisch sprachen. Er schätzt, dass er mittlerweile Filme mit kritischem Inhalt in der Öffentlichkeit zeigen kann. Doch die Meinungs­freiheit in Tunesien sei immer noch eingeschränkt.

Als er vor einigen Wochen einem Uno-Vertreter Wasser­probleme in seiner Heimat Maknassy und Ennasr zeigte, habe ihm die Polizei danach drohend gesagt, das nächste Mal müsse er einen solchen Gast anmelden. Sie hätten ihre Augen überall. «Wir haben Gesetze, aber das sind nur Texte», sagt Gammoudi.

Für ihn gehe der Kampf um die Freiheit weiter, sagt Gammoudi. Und fügt an, was die Tunesierinnen zurzeit oft sagen: Sie befänden sich in einer Übergangs­phase. Es war das Volk, das Saïed 2019 als totalen Politik­aussenseiter wählte. Falls nötig, würden sie ihn wieder los, sind viele überzeugt. Sie hätten schliesslich auch den Diktator Ben Ali vertrieben. Bloss: Die neue Verfassung, die Saïed grosse Macht gibt, wird auch für künftige Präsidenten gelten.

Epilog

Direkt vor dem schwarzen Tor mit der Schrift «Musée de la révolution» steht ein Denkmal in Form einer Schub­karre. Sie erinnert an den Gemüse­verkäufer Mohamed Bouazizi, der durch seine Verzweiflung Tunesien für immer veränderte. Seine Familie hat das Land längst verlassen und lebt nun in Kanada. Irgendjemand hat mit grüner Farbe zwei Daten auf den Sockel geschrieben: 17. 12. 2010, der Tag, als sich Bouazizi anzündete; 13. 10. 2019, der Tag, als Saïed zum Präsidenten gewählt wurde.

Im Frühjahr fand ein Architektur­wettbewerb statt für das «Musée de la révolution», bei dem tunesische Teams ihre Ideen präsentierten. Die Jury bestimmte zwar Platz zwei und drei, doch keinen Gewinner. Die offizielle Begründung: Keines der Projekte sei gut genug.

Wie genau sich die Tunesier eines Tages an ihre Revolution erinnern möchten, steht ihnen also weiterhin offen.

Mitarbeit: Shelby Ben Brahim