«Wir haben uns an den Gedanken gewöhnt, dass Eigentum unangreifbar ist»
Privatbesitz gilt als heilig – aber jetzt werden Oligarchenjachten beschlagnahmt. Ist das juristisch okay? Und was hat Kapitalismus mit Recht zu tun? Ein Gespräch mit der Rechtsprofessorin Katharina Pistor.
Von Daniel Binswanger, 19.08.2022
Dass es ein Vorteil ist, wenn man juristisch gut beraten wird, ist eine Erfahrung, die wir alle immer wieder machen. Unsere Lebensverhältnisse werden nicht nur von der Politik, sondern auch vom Recht bestimmt. Es entscheidet sehr weitgehend über Macht- und über Vermögensverteilung, über Gewinnchancen und Verlust. Die deutsche Juristin Katharina Pistor ist Rechtsprofessorin an der Columbia Law School in New York. Sie hat den «Code des Kapitals» geschrieben, ein sehr gelehrtes Werk mit einer brisanten Botschaft: Die Rechtsordnung dient nicht bloss dem Schutze des Wirtschaftssystems. Sie bildet den eigentlichen Kern des heutigen Kapitalismus. Die Republik hat Katharina Pistor in Leukerbad, wo sie zu Gast war am Literaturfestival, zum Gespräch getroffen.
In «Der Code des Kapitals» vertreten Sie eine überraschende These: Kapital wird geschaffen durch Rechtskonstrukte, durch bestimmte Codierungen des Rechts. In der ökonomischen Theorie heisst es, Kapital besteht aus Gütern, etwa aus Produktionsmitteln, Immobilien. Sie behaupten: Kapital besteht nicht aus den konkreten Dingen, die man besitzen kann, sondern aus bestimmten Rechtsmodulen.
Die ökonomische Theorie lehrt, dass es zwei Produktionsfaktoren gibt, Kapital und Arbeit. Ich versuche nun, den Faktor Kapital genauer zu bestimmen und zu fragen, auf welche Weise das Kapital konstituiert wird. Nur wenn ich die Produktionsmittel kontrolliere, also zum Beispiel bestimmen kann, welche Dinge in den Produktionsprozess hineingehen oder unter welchen Bedingungen ich mit Arbeitnehmern einen Vertrag abschliesse, bilden diese Produktionsmittel Kapital. Dazu muss ich aber eine bestimmte Rechtsposition haben. Ich muss über diese Mittel verfügen, in der Regel als Eigentum. Aber Eigentum ist eine Rechtsfigur, nicht etwas Naturgegebenes, das von selbst da ist.
Ein Beispiel?
Ich kann zum Beispiel ein Unternehmen gründen: Dieses Unternehmen wird bevorzugt eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung sein. Beschränkte Haftung ist jedoch eine spezifische Rechtsform. Wenn es darum geht, Kapital in eine wirtschaftliche Tätigkeit zu investieren, über dieses Kapital die Kontrolle zu haben, aber gleichzeitig meine persönlichen Risiken nicht zu gross werden zu lassen, dann bietet sich eine solche Gesellschaft als Rechtsform an. Die gewünschte Kontrolle wird rechtlich hergestellt. Wir wenden ja keine physische Gewalt an – so sollte es jedenfalls sein –, sondern wir stützen uns auf rechtliche Konventionen, die durch die Staatsgewalt gestützt und nötigenfalls auch mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden können. Zum Schutz des Eigentums und seiner Verwertung als Kapital mussten komplexe Rechtsformen – ich nenne sie Module – geschaffen werden, die wir immer wieder neu an die wirtschaftlichen Entwicklungen angepasst haben.
Katharina Pistor hat in Freiburg im Breisgau sowie in Hamburg Rechtswissenschaften studiert und ist heute Edwin B. Parker Professor of Comparative Law und Direktorin des Center on Global Legal Transformation an der Law School der Columbia University in New York. Ihr Buch «Der Code des Kapitals. Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft» ist in deutscher Übersetzung im November 2020 bei Suhrkamp erschienen. Die englische Ausgabe «The Code of Capital. How the Law Creates Wealth and Inequality» wurde 2019 von der «Financial Times» in der Sparte Wirtschaft auf die Liste der besten Bücher des Jahres gesetzt.
Sie thematisieren in Ihrem Buch die immensen und immer grösser werdenden Vermögensunterschiede in den heutigen Demokratien. Und Sie geben für diese Entwicklung einen erstaunlich schlichten Grund an: Die Reichen können sich die besseren Anwälte leisten.
Was damit gemeint wird, ist nicht ganz so simpel, aber im Grundsatz trifft es zu: Meine Möglichkeiten zur Kapital- und Vermögensbildung hängen von meiner Rechtsposition ab. Wenn ich diese möglichst stark machen kann, ist das ein entscheidender Vorteil. Sehr viele privatrechtliche Fragen werden heute in grossen Wirtschaftskanzleien ausgehandelt und kommen gar nie vor Gericht. Viele Fragen der Kapitalzuteilung werden durch die Rechtspraxis entschieden und tauchen auf dem Radar der Öffentlichkeit oder der politischen Entscheidungsträger gar nicht auf. Wer die besseren Anwälte hat, kann seine Interessen deshalb auch besser geltend machen – und alle anderen haben das Nachsehen.
Sie stellen die These auf, dass Eigentum nur dann zu Kapital im vollen Sinn werden kann, wenn das Recht, das dieses Kapital in eine bestimmte juristische Form giesst, bestimmte Eigenschaften hat. Welche?
Es geht immer um den Schutz von Vermögenswerten – Vermögenswerte, die ich in der Vergangenheit angesammelt habe, über die ich in der Gegenwart verfügen will und die mir in der Zukunft die Möglichkeit eröffnen sollen, noch grössere Vermögenswerte zu schaffen. Es geht immer um die Bewahrung und Vermehrung von Werten. Um dies zu ermöglichen, muss das Kapital bestimmte rechtliche Attribute besitzen. Erst durch diese werden Güter im eigentlichen Sinn zu Kapital. An erster Stelle zu nennen ist die Priorität. Recht stellt eine Rangordnung zwischen Besitzansprüchen auf, Rangordnungen zwischen Zugriffsrechten.
Wenn ein Gut mein Eigentum ist, beispielsweise ein Grundstück, dann habe ich doch ganz klar das prioritäre Verfügungsrecht? Was gibt es da gross zu regeln?
Sicherlich, Eigentum ist Verfügungsrecht. Aber bleiben wir beim Beispiel des Grundstücks, das Sie besitzen: Damit dieses Grundstück Kapital darstellt, müssen Sie aus seinem Wert Gewinn ziehen. Das kann geschehen, indem Sie es bewirtschaften, verpachten – oder mit einer Hypothek belasten und den besicherten Kredit investieren. Spätestens jetzt stellen sich potenziell sehr komplexe Prioritätsfragen. Wer hat wann unter welchen Bedingungen den Zugriff auf Ihr Grundstück, wenn Sie den Kredit nicht mehr bedienen können?
Prioritätsrechte werden wichtig, sollte ich Konkurs machen?
Der Härtetest ist immer der Konkurs. Wenn ein Schuldner zu wenig liquide Mittel hat, um alle seine Kredite zu bedienen, dann kommen seine Gläubiger und wollen ihr Geld eintreiben. Wenn nun einer sagt, ich habe eine Hypothek auf dem Grundstück, müssen alle anderen zur Seite stehen, der Bodenbesitz wird versteigert, und der Hypothekengläubiger bekommt als Erster den Zuschlag von dem Geld, das durch den Kauf erzielt worden ist. Alle anderen, die keine Kreditsicherung haben, müssen sich mit den Krümeln abfinden, die übrig bleiben. Das bedeutet: Ein Kreditvertrag ist schön und gut. Wenn ich aber einen besicherten Vertrag mit einem Schuldner abschliesse, habe ich viel bessere Rechte. Die Priorität bestimmt die Sicherheit meiner Ansprüche. Wenn es um die Wurst geht, ist das entscheidend.
Und das ist dann auch eine entscheidende Stellschraube für Vermögensbildung?
Natürlich. Wenn ich weiss, ich habe einen besicherten Kredit vergeben und alle anderen müssen zur Seite treten, während ich mir mein Geld aus der Konkursmasse rausholen kann, habe ich eine gewisse Garantie, dass mein Anspruch auch erfüllt wird. Priorität ist ein entscheidendes Attribut für Kapitalbildung.
Was sind die anderen Rechtsattribute?
Wichtig ist auch, was ich Dauerhaftigkeit nenne. Dauerhaftigkeit bedeutet: Ich kann verschiedene Vermögenswerte voneinander rechtlich abtrennen und damit vor dem Zugriff von Gläubigern besser schützen. Nehmen Sie zum Beispiel eine GmbH. Wenn ich die Eigentümerin einer GmbH bin – und inzwischen kann ich eine GmbH als One-Woman-Betrieb gründen –, sind die Vermögenswerte, die ich in die GmbH tue, meinen persönlichen Gläubigern entzogen. Sie können zwar meinen Anteil an der GmbH nachher benutzen, um die Gesellschaft zu liquidieren und doch noch Zugriff auf das Geschäftsvermögen zu bekommen, aber das ist sehr hürdenreich. Umgekehrt können auch die Gläubiger der GmbH nicht auf mein Privatvermögen zurückgreifen, weil ich eben nur beschränkte Haftung habe.
Aber beschränkte Haftung ist doch auch wichtig, weil erst mit dieser Rechtsform die Bereitschaft entsteht, grosse Risiken einzugehen. Nicht umsonst wird doch gesagt: Die Erfindung der Gesellschaft mit beschränkter Haftung war entscheidend für die Entstehung des modernen Kapitalismus.
Es führt aber auch dazu, dass einer GmbH oder einer Aktiengesellschaft das Gesellschaftsvermögen selber gehört. Wir behandeln diese Firmen ja wie juristische Personen. Sie können ihre eigenen Verträge abschliessen, sie können im eigenen Namen klagen und verklagt werden. Es bilden sich grosse Vermögensmassen ganz unabhängig vom Vermögen der Aktionäre. Die Aktionäre haben davon insofern etwas, als sie Dividenden bekommen oder ihre Anteile mit Gewinn an andere weiterverkaufen. Damit kodifiziert man eine Trennung von Vermögenswerten – auch wenn sie de facto in der Hand ein und derselben natürlichen Person sind.
Und auf diese Weise kann auch der Fortbestand von Vermögen gesichert werden, weil Gläubiger im Konkursfall immer nur auf einen Teil der Vermögenswerte zugreifen können.
Das ist inzwischen in der Welt der strukturierten Finanzierungen, der structured finance, zu einer komplexen Wissenschaft geworden. Selbst normale Konzerne bilden immer kleinere Töpfe – das heisst, sie gründen zum Beispiel eine Vielzahl formell unabhängiger Tochterfirmen –, die ihr eigenes Kapital aufnehmen und die voneinander rechtlich abgeschirmt sind.
Auch die Rechtsform des Trusts wird häufig benutzt, um die Dauerhaftigkeit von Kapital zu verbessern.
Der Common Law Trust spielt eine überragende Rolle, obwohl er in Zivilrechtssystemen eigentlich gar nicht existiert. In der Schweiz zum Beispiel ist er lediglich durch die Hintertür eingeführt worden. Es gibt nämlich ein internationales Abkommen, das den Trust kodifiziert, und es gibt ein paar wenige Länder, die dieses Abkommen ratifiziert haben. Dazu gehört auch die Schweiz.
Das heisst, wir wenden in der Schweiz die Trust-Gesetzgebung an?
Ja, aufgrund des internationalen Abkommens. Der Trust ist die genialste Erfindung für Kapitalbildung. Man kann seine Einführung in das englische Recht zurückverfolgen bis ins elfte, zwölfte Jahrhundert. Trusts erlauben es, Vermögenspositionen zu verschieben und beliebigen Personen zuzuordnen, ohne dabei den formalen Regeln des Eigentumsrechts zu folgen. Das Eigentumsrecht verlangt eine Form der Publizität, eine Aussenwirkung, damit es alle wissen, wenn eine Eigentumsverschiebung stattfindet. Wenn ich mein Eigentum an einem Grundstück übertragen will, muss ich das ins Grundbuch eintragen, das ist bis heute so. Wenn ich einen Vermögenswert verpfänden will, muss ich das Pfand physisch übergeben – jedenfalls war das ursprünglich so. Die Idee ist immer, dass sichtbar wird, wer Zugriff hat auf den Vermögenswert. Der Trust jedoch macht das Gegenteil: Er erlaubt, Vermögenswerte zu verschieben, ohne dass es sichtbar wird. Die Übertragung wird lediglich in einem privaten Vertrag festgehalten, ist aber trotzdem gerichtlich einklagbar.
Was ist der Vorteil? Warum hat man dieses Rechtsmodul überhaupt erfunden?
Ein historischer Grund war das englische Erbrecht, das die Primogenitur hochhielt. Das bedeutete, dass immer der erste Sohn den gesamten Familienbesitz bekam. Wenn ein zweitgeborener Sohn oder eine Tochter auch einen Anteil an den Ländereien bekommen sollte, konnte das nicht im Testament festgelegt werden, das war rechtlich nicht möglich. Deshalb schuf man Trusts. Ein Erblasser konnte einen Teil seines Landes in einen Trust einbringen und, sagen wir mal, einen jüngeren Cousin zum Trustee machen, der die Ländereien dann zugunsten anderer Familienmitglieder – weiterer Söhne oder Töchter – verwaltete. Dieses Land war dann nicht mehr Teil der Erbmasse. Es wurde in den Trust überführt.
Und nach diesem Prinzip funktionieren Trusts auch heute noch?
Heute sind Trusts insbesondere beliebt als Instrumente zur Steuervermeidung, weil man eben Vermögenswerte in den Schoss des Trusts überführen kann und deshalb nicht mehr versteuern muss beziehungsweise nur zu geringeren Steuersätzen. Aber auch für die Finanzindustrie sind Trusts wichtig. Weite Teile des Schattenbank-Systems, also etwa die special purpose vehicles, die Hypotheken verbriefen oder Derivate herausgeben, beruhen auf der Rechtsform des Trusts. Das hat den Vorteil, dass die Finanzhäuser, die solche Trusts auflegen, wenn überhaupt nur indirekt haftbar sind für die derart abgetrennten Geschäftstätigkeiten und dass diese Vehikel deshalb ausserhalb der Bilanzen geführt werden können. Es hat aber auch Vorteile für die Investoren, die solche Wertpapiere kaufen.
Weshalb?
Wenn Sie zum Beispiel verbriefte Hypotheken aufkaufen, die von einem special purpose vehicle aufgelegt wurden, dann müssen Sie sich um die Bonität des Mutterhauses keine Gedanken machen. Selbst wenn die Bank, die diesen Trust geschaffen hat, bankrottgeht, betrifft Sie das nicht, weil das special purpose vehicle nicht zum Bankvermögen gehört und nicht in der Konkursmasse wäre. Investoren müssen dann nur die Titel, in die sie investieren, genau analysieren und nicht die ganze Bank. Sie können ihre Risiken besser einschätzen, mindestens in der Theorie. Das jedenfalls ist die Grundidee, die häufig allerdings doch nicht stimmt, etwa weil die Bank Kredite garantiert oder Liquiditätshilfen leistet.
In Ihrem Buch nennen Sie noch einen anderen Grund für die Erfindung des Trusts: Die englischen Adligen überschrieben Grundbesitz in Trusts, belasteten ihn aber gleichzeitig mit Hypotheken. Damit war ihr Boden dann vor dem etwaigen Zugriff der Gläubiger geschützt.
In der Tat. Man muss aber auch die Vorgeschichte sehen: Bodenbesitz wurde in England erst spät überhaupt privatisiert, durch die sogenannte Einhegungsbewegung im 16. und 17. Jahrhundert. Davor gab es im englischen Feudalsystem gar kein Eigentum an Grund und Boden im heutigen Sinn. Adlige, die über Ländereien verfügten, hatten keinen Eigentumstitel an dem Land, sondern nur bestimmte Nutzungsrechte an dem Boden, was miteinschloss, dass sie dieses Land mit den commoners – den Bauern und den Pächtern – teilen mussten. Die Landlords hatten auch nicht das Recht, ihren Boden zu verkaufen. Die enclosures oder zu Deutsch eben die Einhegungsbewegung führte dann aber dazu, dass die Landlords den Boden einzuhegen begannen und alle anderen Benutzer aussperrten. Das führte zu heftigen Konflikten, die sowohl mit physischer Gewalt als auch vor den Gerichten ausgetragen wurden und zunächst grosse Rechtsunsicherheit schufen. Letztlich jedoch, im Laufe einer sich über etwa hundert Jahre hinziehenden Konfrontation, setzten sich die Landlords durch: Der Boden wurde zu ihrem Privateigentum, das gesetzlich auch entsprechend abgesichert wurde.
Man sollte eigentlich doch meinen, dass der Boden, den ich bestelle, eine urwüchsige Form des Eigentums ist. Und Sie sagen: Dass überhaupt private Parzellen abgegrenzt werden konnten, war das Ergebnis eines langen juristischen Kampfes.
Erst im 17. Jahrhundert war das private Eigentumsrecht an Boden definitiv etabliert und juristisch festgezurrt. Erst da wurde Grundbesitz im eigentlichen Sinn zu Kapital. Inzwischen war allerdings die wirtschaftliche Entwicklung vorangeschritten. Die Landlords sagten nun: Wir wollen nicht nur Landwirtschaft betreiben, sondern in Industrie und Handel einsteigen. Dazu brauchten sie liquides Kapital, was bedeutete: Sie belasteten ihren Grundbesitz mit Hypotheken. In dieser Phase wurde es deshalb nötig, die Bodenbesitzer vor etwaigem Bodenverlust zu beschützen, für den Fall, dass sie ihre Schulden nicht bedienen konnten. Jetzt ging es nicht mehr darum, Grundbesitz in Kapital zu verwandeln. Es ging darum, das bestehende Kapital vor fremdem Zugriff zu schützen.
Wie ging man vor?
Es wurden häufig spezielle Familientrusts geschaffen – das nannte sich im Englischen ein entail, ein Konstrukt, das den Gläubigern das Zugriffsrecht auf Grundbesitz höchstens in Höhe von 50 Prozent des Bodens ermöglichte. Das führte dazu, dass der Grundbesitz in England weitgehend in den Händen von etwa 8000 adligen Familien konzentriert blieb, selbst als diese das gar nicht mehr finanzieren konnten und am Tropf der Gläubiger hingen. Das wurde natürlich immer ineffizienter, und in den 1870er-Jahren, in der grossen Wirtschaftskrise, brach das System zusammen. Zu Beginn der 1880er-Jahre wurden dann zwei wichtige Gesetze erlassen: der «Conveyancing and Law of Property Act» von 1881 und der «Settled Land Act» von 1882. Darin war festgeschrieben, dass auch die Nutzniesser der Familientrusts wie normale Eigentümer behandelt werden sollten und deshalb für ihre Schulden im vollen Umfang aufkommen mussten. Das hat dazu geführt, dass 20 Prozent des englischen Grundbesitzes innerhalb von nur zehn Jahren an neue Eigentümerinnen gingen. Die neue Rechtsordnung führte zur spektakulärsten Neuzuordnung von Eigentum in England, seit im 16. Jahrhundert die katholische Kirche aus dem Land verdrängt wurde.
Und wir schaffen heute mit der Aufspaltung von Grosskonzernen in Tochtergesellschaften oder mit den Trusts als Vehikel der globalen Finanzindustrie wieder etwas ganz Ähnliches: juristische Module, um Vermögensbestände zu schützen?
Multinationale Konzerne, Equity-Fonds, Unternehmen, Investoren sind immer auf der Suche nach rechtlichen Strukturen, die ihre Verlustrisiken verkleinern. Deshalb muss das Kapital in verschiedene Töpfe getan werden, und diese Töpfe können Trusts sein, special purpose vehicles, wie das heute genannt wird, oder es können auch Aktiengesellschaften, GmbHs oder Stiftungen sein, je nachdem, was man gerade macht. Wichtig ist, dass es verschiedene Töpfe sind. Solche Strukturen kann man heutzutage relativ frei kreieren – was nicht immer so war. Früher brauchte man mindestens fünf Aktionäre, um eine Aktiengesellschaft zu gründen oder selbst für eine GmbH. Das New Yorker Recht von 1811 zum Beispiel begrenzte die Gültigkeit der Gründungsurkunde eines neuen Unternehmens auf 20 Jahre. Dann musste neu überprüft werden, ob die Firma ihre Geschäfte weiterführen kann. Auch durfte ein Unternehmen nicht mehr als eine Höchstsumme an Kapital haben – während andere Rechtsordnungen Mindestkapitaleinlagen festlegten. Das alles gibt es heute fast nicht mehr. Je nach Rechtsordnung bestehen noch gewisse Rahmenbedingungen für Firmengründungen, aber mit der Hilfe eines Brokers kann ich mir über Nacht in der Jurisdiktion meiner Wahl ein paar GmbHs gründen lassen, über die ich als Hauptaktionärin dann auch frei verfügen und wo ich Vermögenswerte hineintun oder herausnehmen kann. Das sogenannte jurisdiction shopping, also die praktisch freie Wahl des Sitzes für meine Unternehmen, schafft grosse Gestaltungsmöglichkeiten.
Besteht nicht der Verdacht, dass dasselbe geschieht wie mit dem Grundbesitz im England? Dass das Gesetz weitgehend dem Zweck dient, die heutigen «Landlords» zu schützen?
Man sieht in der Geschichte immer wieder denselben Prozess: Es geht stets von Neuem um «Einhegung», um die Absicherung von Vermögenswerten und Besitzansprüchen. Die erste Einhegung galt dem Land, das durch Zäune und Hecken in Parzellen unterteilt wurde. Die zweite Einhegung galt dem Wissen, das durch die Entwicklung und weltweite Durchsetzung des Patentrechts oder Copyrights vollzogen wurde. Die dritte Einhegung, die heute geschieht, betrifft unsere Daten, über welche die grossen Tech-Konzerne inzwischen sehr weitgehende Verfügungsrechte haben.
Sind solche Schutzmechanismen ökonomisch effizient?
Das ist die Frage. Es wird natürlich als ökonomisch effizient verkauft, weil so getan wird, als ginge es nur darum, begrenzte Güter – also zum Beispiel Investitionsmittel – möglichst optimal zuzuordnen. Diese Funktion zu erfüllen, soll ja das Wesen sein von Marktwirtschaft. Dem ist jedoch entgegenzuhalten: Die Güter werden nicht einfach zugeordnet, sondern es werden mit diesen Rechtsinstitutionen bestimmte Güter beziehungsweise das Kapital überhaupt erst geschaffen. Deswegen spreche ich von minting capital, von Kapital, das durch Recht überhaupt erst «gemünzt» und geschaffen wird. Ich kann diese Rechtsinstitutionen zum einen benutzen, um Strategien zur Risikovermeidung umzusetzen, wozu auch das Risiko gehört, dass man besteuert wird oder dass Gläubiger an meine Assets rankommen. Ich kann zum anderen aber durch rechtliche Codierung auch neue Vermögenswerte schaffen. Wenn ich eine Aktiengesellschaft gründe, kann ich Aktien emittieren. Diese Aktien kann ich dann nehmen und damit ein anderes Unternehmen kaufen, als ob ich mein eigenes Geld produziert hätte. Natürlich klappt das nur, solange es einen Markt gibt, meine Aktientitel eine Käuferin finden. Aber dennoch: Ich kann Rechtsinstitutionen benutzen, nicht nur um Vermögenswerte, die ich durch wirkliche Produktion geschaffen habe, zu schützen, sondern um neues Kapital zu schöpfen.
Und es sind im Grunde dieselben Instrumente, die schon die englischen Landlords benutzten?
Wenn man sich die Entwicklung des Kapitalismus ansieht, dann hat alles mit Grundbesitz angefangen. Heutzutage geht es vor allem um Unternehmen, Kredite und immaterielle Güter, also Finanzwerte und intellectual property rights. Immaterielle Güter existieren ausserhalb des Rechts allerdings gar nicht. Gold können Sie vielleicht im Tresor haben, aber ein Zahlungsanspruch, der rechtlich durchsetzbar und vielleicht besichert ist mit einem anderen Zahlungsanspruch oder mit einem Aktienpaket, ist ein blosses Konstrukt des Rechts – und dieses Konstrukt wird benutzt als Kapital, das heisst, um noch mehr Güter zu schaffen.
Das klingt ein bisschen, als hätte diese Form des Kapitals eine fiktive Qualität.
Fiktiv ist es nicht, sondern sehr real. Aber was nur durch Rechtstitel gesichert ist, ist fragil. Es beruht darauf, dass wir alle daran glauben, dass es sich auch wirklich um Werte handelt. Das heutige System kann damit zwar enorme Werte schaffen, aber in Krisensituationen – einer Schuldenkrise, einer Börsenkrise – können sich diese immateriellen Werte auch blitzschnell in Luft auflösen. Deshalb gibt es neben der Priorität und der Dauerhaftigkeit ein drittes Rechtsattribut, das entscheidend ist: die Konvertibilität. Die Konvertibilität stellt sicher, dass immer dann, wenn die Dinge zu wackeln beginnen, die Möglichkeit besteht, diese Titel so schnell wie möglich in staatliches Geld umzuwandeln. Wenn beispielsweise der Wert von Finanztiteln, die ich geschaffen habe, abzustürzen droht.
Konvertibilität bedeutet also, dass ich mein Eigentum jederzeit in nützlicher Frist in Zentralbankgeld umtauschen kann?
Die Wandelbarkeit in staatliches Geld ist entscheidend, weil staatliches Geld seinen Nominalwert nicht verliert. Geld kann zwar seinen Realwert verlieren, das entdecken wir in den heutigen Zeiten der Inflation gerade wieder. Aber auch der gesicherte Nominalwert ist wichtig. Selbst wenn in einer Wirtschaftskrise quer durch alle Asset-Klassen ein starker Preiszerfall stattfindet, bleibt der Nominalwert von Geld erhalten, weil da die Staaten mit ihrer Wirtschafts- und Fiskalmacht dahinterstehen. Wenn ich in Zeiten der Krise meine Assets schnell genug in Geld umwandeln kann, habe ich die Gewinne, die ich bisher gemacht habe, erst einmal gesichert. Dann warte ich die Krise ab, und wenn sie vorüber ist, investiere ich mein Geld von neuem. Die Fähigkeit, geschützt durch einen Abschwung zu kommen, ist ein Attribut von Kapital. Für Landbesitz war die Dauerhaftigkeit wichtig. Für Finanzkapital ist die Konvertibilität zentral. Schliesslich gibt es noch ein viertes, essenzielles Attribut: die Universalität. Damit ist gemeint, dass rechtliche Ansprüche auch wirklich verbindlich sind und zur Not mit staatlichen Zwangsmitteln durchgesetzt werden können.
Die Universalität wirft auch die Frage der internationalen Durchsetzbarkeit auf. Rechtsansprüche waren ursprünglich häufig auf ein Staatsgebiet beschränkt.
Sie hat insofern eine internationale Dimension, als es zunehmend möglich geworden ist, dass ich eine Rechtsposition, die ich unter einer bestimmten Rechtsordnung geschaffen habe, sagen wir mal, unter englischem oder New Yorker Recht, auch in der Schweiz durchsetzen kann.
Weil die globalisierte Wirtschaft darauf angewiesen ist?
Viele Leute denken, Globalisierung bedeute, dass wir uns ausserhalb des Staates und deshalb häufig auch in rechtsfreien Räumen bewegen. Andere argumentieren, für die Globalisierung bräuchten wir eine Art globalen Staat oder jedenfalls globales Recht und supranationale Instanzen, die dieses durchsetzen. De facto ist eine globalisierte Finanz- und Wirtschaftsordnung aber auch dann möglich, wenn nur eine einzige nationale Rechtsordnung ihre Institutionen zur Verfügung stellt, um die Rechtsmodule zu garantieren, von denen wir gesprochen haben. Bedingung ist lediglich, dass alle anderen Rechtsordnungen diese Module anerkennen und ihre eigene Zwangsgewalt zur Verfügung stellen, um diese ihrerseits durchzusetzen. Das ist dann nicht ein supranationales, sondern ein hegemoniales Modell. Eine einzige Rechtsordnung reicht – solange alle anderen sagen: Was ihr macht, ist für uns verbindlich.
Und was wird in der heutigen Welt jetzt umgesetzt?
Tatsächlich gibt es heute nicht eine, sondern zwei Rechtsordnungen, die dominieren.
Wir sind also ziemlich nahe am hegemonialen Modell?
England wie auch die USA – und dort vor allem das Recht des Staates New York für Finanzinstrumente und des Staates Delaware für Gesellschaftsrecht – sind sehr dominant. In den USA bilden die Bundesstaaten die massgeblichen Rechtsgebiete, deshalb der Staat New York. Und dann ist eben auch das englische Recht sehr wichtig. Gemäss diesen beiden Rechtsordnungen wird in der globalen Wirtschaft das Kapital codiert. Und in allen anderen Ländern versuchen die Anwälte, diese beiden Rechtsordnungen nachzuvollziehen oder ihren Mandanten einfach zu sagen: Wählt für euer Unternehmen englisches Recht oder amerikanisches Recht. Ich kann ja hier aktiv sein, mein Unternehmen aber in Delaware inkorporieren. Oder in London. Oder ich kann auch in London tätig sein und mich in der Schweiz inkorporieren, zum Beispiel, um bestimmte Finanzregulierungen zu umgehen. Da wir diese Trennung geschaffen haben zwischen faktischer Tätigkeit und Unternehmensstandort – eben weil Beständigkeit im Recht codiert und die Trennung von verschiedenen Vermögenswerten ermöglicht wurde –, sind solche Modelle anerkannt, obwohl es sich nur um rechtliche Arbitrage handelt.
Aktuell haben wir eine Änderung des Rechts auf breiter Front: die Sanktionen gegen russische Oligarchen. Dass man Vermögen von Diktatoren einfriert, kommt gelegentlich vor, selbst in der Schweiz. Aber dass nun Privatbesitz im grossen Stil beschlagnahmt wird von Geschäftsleuten, die einem bestimmten Staatsoberhaupt nahestehen, ist ungewöhnlich. Da werden Eigentumsrechte, die sonst konsequent verteidigt werden, plötzlich gekippt. Was sagen Sie dazu?
Es gibt Rechtsordnungen wie zum Beispiel die deutsche, die sogar explizit festhalten: Eigentum ist geschützt, aber es muss zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Man darf sich schon fragen: Für welche Zwecke stellt eine Rechtsordnung staatliche Zwangsgewalt zur Anerkennung und Sicherung von Eigentum überhaupt zur Verfügung? Kann jeder sich einfach nehmen, was innerhalb des gesetzlichen Rahmens möglich ist, wie im Selbstbedienungsladen? Oder gibt es Grenzen? Und jetzt sehen wir: Es gibt eben Grenzen, zum Beispiel, wenn gewisse Rechtsinstitute missbraucht werden, um Geld zu waschen und das Vermögen von Leuten zu schützen, die Vertraute eines Staatspräsidenten sind, der gerade einen Vernichtungskrieg gegen sein Nachbarland führt. Da kommt der Gedanke des Allgemeinwohls auf einmal wieder zum Tragen, auch wenn er offiziell weder in der amerikanischen noch in der englischen Rechtsordnung so explizit ausgesprochen wird wie in der deutschen Verfassung. Rechtsordnungen sind letztlich eine gesellschaftliche Entscheidung. Den Einzelnen will man weitgehende Wirtschaftsfreiheit und Rechtssicherheit zugestehen, aber ein Kern von Wechselseitigkeit – dass nicht nur die Gesellschaft dem einzelnen Bürger das Recht garantiert, sondern dass die Rechte des Einzelnen auch dem Gemeinwohl dienen müssen – ist dennoch vorhanden.
Es gibt also so etwas wie einen normativen Kern der Rechtssysteme, der im Normalbetrieb vergessen geht?
Es sind die Grundnormen der Gesellschaft, die im Rechtssystem institutionalisiert werden müssen. Allerdings: Im wirtschaftlichen Bereich haben wir weitestgehend die Anknüpfung an Grundnormen aus dem Recht herausgenommen. Wir haben uns an den Gedanken gewöhnt – er wurde uns ja auch ständig suggeriert –, dass Eigentum eine Position ist, die einen Bestandesschutz hat, der unangreifbar ist, weil sonst die ganze Rechtsordnung sofort über den Haufen geworfen würde. De facto, das zeigt eben auch die Rechtsgeschichte, ist es natürlich viel komplizierter.
Um noch einmal zu den Oligarchen zu kommen: Häufig wird jetzt von den Befürwortern der Sanktionen argumentiert, dass deren Eigentum illegitim sei, weil es in einem korrupten System erwirtschaftet wurde. Kleptokraten, so heisst es, seien nicht zu schützen. Das wirft jedoch die Frage auf: Warum haben wir ihr Eigentum bis jetzt geschützt?
Guter Punkt. Es ist sehr problematisch, sich immer nur dann daran zu erinnern, dass Eigentum etwas ist, das auch den Eigentümer der Gesellschaft gegenüber verpflichtet, wenn sich eine schwere wirtschaftliche oder politische Krise ereignet. Wir müssten generell viel genauer hinschauen und unsere normativen Prinzipien, die aus der Rechtspraxis verdrängt worden sind, allgemein viel entschlossener affirmieren. Russland ist in diesem Zusammenhang sehr erhellend: Natürlich trifft es zu, dass in Russland die Korruption verbreitet ist und dass viele russische Vermögen auf zweifelhaftem Weg entstanden sind. Ich habe mich in den 1990er-Jahren intensiv mit Russland beschäftigt und diese Entwicklung genau verfolgt. Aber bezeichnend war eben auch: Die Russen haben damals blitzschnell vom Westen gelernt. London ist nicht umsonst zu einer Geldwäscheanlage für Oligarchengelder geworden. Die heute denunzierten Kleptokraten haben sich der dort bereitstehenden Rechtsinstrumente bedient, um ihre Vermögen in Sicherheit zu bringen. Es sind dieselben Rechtsinstrumente, deren sich auch das westliche Kapital bedient. Es wäre sicher falsch, die Oligarchen mit dem Verweis auf Rechtssicherheit heute weiter schützen zu wollen. Aber wir sollten uns den Spiegel selber vorhalten und uns fragen: Welche Rolle spielen diese Rechtsmodule in unserer Wirtschaftspraxis?