Make Switzerland great again!
Die aussenpolitische Neutralität erfüllte immer den Zweck, das Schweizervolk zusammenzuhalten. Jetzt wird sie missbraucht, um es zu spalten.
Von Daniel Binswanger, 13.08.2022
Es ist ja keine Überraschung: Bei günstigem Anlass werden frei erfundene Geschichtsmythen in die Öffentlichkeit getragen, zu Glaubensartikeln des wahren Schweizertums hochstilisiert – und dann in der Hoffnung auf Polemik, Polarisierung und parteipolitischen Terraingewinn im Dauerloop bewirtschaftet. Das ist das Einmaleins der nationalkonservativen Identitätspolitik. Nicht ganz neu in diesem Kino, jetzt dafür aber mit Blockbuster-Potenzial: Christoph Blocher lanciert die Neutralitätsinitiative.
Allerdings, leider, leider: Die aktuelle Neutralitätsdebatte hat den mörderischen Hintergrund des Russland-Ukraine-Krieges. Deshalb ist das alles nicht nur halb bemühend und halb schon fast belustigend. Nein, es geht hier ganz konkret um Menschenleben, Kriegsverbrechen, die Völkerrechtsordnung auf dem europäischen Kontinent. Es geht um die Grundlagen unseres Wertefundaments. Und dieses kann nun Schaden nehmen – innenpolitisch wie aussenpolitisch.
Eine Neuausrichtung der Schweizer Aussenpolitik ist jedenfalls angezeigt – auch wenn sie natürlich weit davon entfernt bleibt, mit einer vermeintlich heiligen Tradition der «immerwährenden Neutralität», die es in der von der SVP beschworenen Form ganz einfach nie gegeben hat, in irgendeiner Weise zu «brechen».
Eine ernsthafte Debatte wäre dennoch wichtig – und umso verantwortungsloser sind die jetzt vom Zaun gebrochenen Spiegelfechtereien. Sie zeugen von atemberaubendem Zynismus im Hinblick auf die Schweizer Ukraine-Politik. Vor allem aber: Sie stellen eine neue Eskalationsstufe der nationalkonservativen Propagandastrategie dar.
Nein, die Schweiz bricht mit dem Anschluss an die Sanktionen gegen Russland schon deshalb nicht mit ihren Traditionen, weil Wirtschaftssanktionen keinen Verstoss gegen das Neutralitätsrecht darstellen und weil die Schweizer Neutralitätspolitik sich schon immer durch grosse Flexibilität auszeichnete, häufig sogar unter Missachtung des Neutralitätsrechts.
So hat die Eidgenossenschaft während des Zweiten Weltkriegs bekanntlich im grossen Stil Waffen an Nazideutschland geliefert, Geschäfte, die nur aufgrund der staatlichen Clearingkredite über die Bühne gehen konnten. Die Geschichtswissenschaft streitet seit langen Jahren darüber, inwieweit die Schweizer Kooperation mit dem Nazi-Schreckensregime unentschuldbarer Opportunismus und inwieweit sie – angesichts des von den Achsenmächten fast vollständig besetzten Europa – eine legitime Überlebensstrategie gewesen sei. Diese Debatte kann man führen. Indiskutablen Propaganda-Unsinn stellt hingegen die Behauptung dar, die Schweiz sei nur deshalb so gut durch den Zweiten Weltkrieg gekommen, weil sie sich an die absolute Neutralität gehalten habe.
Wahr ist das Gegenteil: Die Schweizer Neutralität war nicht absolut, sondern in allerhöchstem Masse adaptiv. Aber Hauptsache, man hat ein hübsches Narrativ. Warum nur sind die Geschichtsnostalgiker der Geschichtswissenschaft so spinnefeind?
Auch im Kalten Krieg war die «bündnisfreie» Neutralität der Eidgenossenschaft so eine Sache. Nicht ein einziges Manöver dürfte die Schweizer Armee zu Zeiten der Sowjetunion durchgeführt haben, bei dem die Angreifer nicht die «Russen» waren. Auf geheimer Basis beteiligte sich die Eidgenossenschaft in der Nachkriegszeit bekanntlich an Boykotten gegen den Ostblock und arbeitete mit den westlichen Diensten zusammen. Alles andere wäre letztlich auch schwer nachvollziehbar gewesen. Aber natürlich müssen nun selbst diese unbestreitbaren Fakten von den heutigen Verfechtern der immerwährenden Neutralität mit allen Mitteln verdrängt werden.
In jedem normal funktionierenden Land wäre es undenkbar, dass ausgerechnet Christoph Blocher, der ehemalige Präsident der «Arbeitsgruppe südliches Afrika» (ASA), sich zum Verteidiger der unbefleckten Schweizer Neutralitätsdoktrin aufschwingt. Unter dem Deckmantel der Schweizer Neutralität hat die Eidgenossenschaft von den Sechziger- bis in die Neunzigerjahre hinein nicht nur den Goldhandel mit dem Apartheidregime forciert, sondern den südafrikanischen Unrechtsstaat auch mit Kriegsmaterial versorgt. Unter den beflissensten Akteuren im Geiste einer mehr als beugsamen Auslegung von Neutralität: Christoph Blocher. Die Ems-Patvag im damaligen Besitz von Blocher versah südafrikanische Konzerne mit einer Lizenz zur Herstellung von militärischen Zündsystemen.
Rein rechtlich war diese Lieferung an Südafrika zulässig. Dennoch bleibt es bemerkenswert: Ein rassistisches Gewaltregime mit Kriegsmaterial zu beliefern, war für Blocher völlig okay. Der ukrainischen Demokratie die Möglichkeit zu geben, sich selber zu verteidigen, wäre hingegen das Ende der Welt.
Ob da ideologische Affinitäten eine Rolle spielen? Bekanntlich war Blocher, dessen beherztes Engagement man nur mit grossen Vorbehalten als «neutral» wird bezeichnen können, nicht nur als Waffenlieferant, sondern auch als Propagandist für das südafrikanische Regime aktiv. Die ASA betrieb einen «Informationsdienst», der regelmässig über 3000 Adressen anschrieb. Unter anderem wurde in dem Bulletin dafür geworben, Verständnis zu haben, dass ein «Verbot ehelicher oder ausserehelicher Beziehungen über die Rassenschranken hinweg» in Südafrika weiter aufrechterhalten werde. Die Apartheid-Legitimierungs-Diskurse, die vor nicht einmal vierzig Jahren unter dem Deckmantel der «Neutralität» in unserem Land verbreitet wurden, sind schlicht und einfach ekelerregend. Aber heute soll ausgerechnet Christoph Blocher definieren, worin das wahre Wesen der Schweizer Neutralität liegt.
Gravierend ist die aktuelle Scheindebatte allerdings nicht nur deshalb, weil ihre kaum verhohlene Absicht darin besteht, den russischen Angriffskrieg zu legitimieren oder jedenfalls nicht zu kritisieren, die Wirtschaftsbeziehungen intakt zu lassen, die Oligarchen bei Laune zu halten, auf gar keinen Fall Waffen an die Ukraine zu liefern. Gravierend ist die Instrumentalisierung der Neutralität, weil sie in der Tat – in ihrer jeweils sehr flexiblen, häufig viel zu flexiblen Anwendung – für das helvetische Nationalgefühl entscheidend ist. Bekanntlich konnte die mit zahlreichen Zentrifugalkräften konfrontierte Schweizer «Willensnation» nur auf der Grundlage der Neutralität eine Aussenpolitik verfolgen, die den inneren Zusammenhalt des Landes nicht bedrohte.
Das war schon einer der Hauptgründe für die Neutralität zu Zeiten der Konfessionskriege und zeigte sich exemplarisch im Ersten Weltkrieg, als die Nichtparteinahme verhindern sollte, dass die Romandie, welche sich der französischen Kriegspartei verbunden fühlte, und die Deutschschweiz, deren Sympathien eindeutig dem Deutschen Reich zuneigten, in einen internen Konflikt gerieten. Carl Spitteler hat damals mit seiner berühmten Rede zum Schweizer Standpunkt auf die zentrale Funktion der Neutralität für den nationalen Zusammenhalt verwiesen. Als Deutschschweizer Schriftsteller, der nicht in prodeutsche Kriegsbegeisterung verfiel, zeigte er auf, worin der politische Wert der Neutralität besteht. Sie war Voraussetzung für den Zusammenhalt nach innen.
Desto perverser ist es, dass nun ausgerechnet die Putin-Versteher sich um das Banner der Neutralität zu scharen vorgeben.
Soll das die Wertebasis sein, auf der die Schweizer Gesellschaft sich findet? Die Forderung nach einer solchen Neutralität wird die Schweiz nicht zusammenhalten, sondern noch viel stärker polarisieren. Neutral soll es sein, das humanitäre Völkerrecht zu ignorieren? Die territoriale Integrität der europäischen Staaten zu missachten? Eine europäische Demokratie dem Aggressor schutzlos auszuliefern? Nichts könnte absurder sein.
Die aktuelle Neutralitätsinitiative steht nicht zuletzt deshalb vollkommen quer zur Neutralitätstradition der Eidgenossenschaft, weil sie das Land nicht zusammenhalten, sondern spalten wird. Genau dies dürfte allerdings auch die Absicht sein. Polarisierung ist das Kerngeschäft des Populismus. Indem nun die Neutralität zum neuen Kampffeld gemacht wird, wird eine grundlegende nationale Integrationskraft infrage gestellt.
Auffällig ist jedenfalls, wie stark die Putin-Versteher inzwischen die Hassrhetorik eskalieren. Der PR-Berater Klaus Stöhlker zum Beispiel, nach eigener Aussage bereits seit vielen Jahren als Russland-Lobbyist im Geschäft, scheint kaum mehr Grenzen zu kennen. Schon 2014, nach der Besetzung der Krim, tönte Stöhlker in den Schweizer Medien: «Der jetzige Ukraine-Konflikt wurde eindeutig von der EU ausgelöst (...) Für mich war die Ukraine immer russisches Land.»
So einfach ist das in der schönen Schweiz: Ein PR-Berater im russischen Mandatsverhältnis spricht der Ukraine mal eben schnell das Existenzrecht ab. Den Schweizer Aussenminister hingegen überzieht Stöhlker mit Beleidigungen, die nicht nur leicht delirierend wirken, sondern in einem sehr bemerkenswerten Ton daherkommen.
Was ist das grosse Verbrechen von Ignazio Cassis, ausser dass seine Sympathiebekundungen für Wolodimir Selenski die Schweiz zu Stöhlkers hellem Entsetzen schon «einige hundert Millionen Franken gekostet» haben sollen? Cassis, so schäumt Stöhlker, sei ein «Einwanderer aus Italien, der erst Schweizer wurde, als man ihm den Sitz der FDP im Bundesrat anbot». Das ist natürlich grotesker Bullshit: Cassis, der in der Tat als Italiener auf die Welt kam, wurde 1976 eingebürgert. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass es unter den Putin-Verstehern wieder vollkommen salonfähig ist, politische Gegner als «Ausländer» beziehungsweise «Papierli-Schweizer» zu denunzieren. Von Trump kennen wir solche Ausfälligkeiten, offensichtlich werden wir uns auch hierzulande wieder verstärkt daran gewöhnen müssen: Make Switzerland great again!
Auffällig ist jedenfalls, dass diese Rhetorik Schule macht. In der «Weltwoche», Schweizer Zentralorgan der Russland-Apologetik, wird nun nicht nur aus allen Rohren gegen eine realistische Schweizer Neutralitätspolitik geschossen – sondern es werden die politischen Gegnerinnen als «Flüchtling» verunglimpft. So hat Christoph Mörgeli eine auf die Frau spielende Attacke gegen Sanija Ameti veröffentlicht, die von beschämenden rassistischen Vorurteilen nur so trieft. Mörgelis Hauptvorwurf gegen die Co-Präsidentin der Operation Libero: Sie sei eine Einwanderin, im Ausland geboren und im Alter von drei Jahren in die Schweiz gekommen – und zeige sich weder demütig noch dankbar.
Man hätte glauben können, solche Rhetorik finde sich nur noch in alten Heimatfilmen. Aber nein: Im Rahmen einer Debatte um vermeintliche «Neutralität» feiert der tumbeste Chauvinismus nun unvermutet wieder Urstände.
Was forderte damals Spitteler? Zwei Stichworte dominieren seine Rede: Distanz und Bescheidenheit. Wir bräuchten sie auch heute, um die Frage zu debattieren, auf welcher Wertebasis eine vernünftige Aussen- und Neutralitätspolitik in der aktuellen Weltlage geführt werden muss. Doch mit Spitteler und der Neutralitätstradition, die er repräsentiert, scheinen wir heute leider gebrochen zu haben.
Illustration: Alex Solman