Zu allem bereit: Die alljährliche Harvest Home Parade in Cheviot-Westwood, einer Vorort­gegend in Cincinnati, Ohio (2019).

Demokratie unter dem Hammer

Der Supreme Court der USA lässt mittler­weile jegliche Hemmungen fallen und kippt eine liberale Errungenschaft nach der anderen. Diesen Herbst könnte er nun einen Grundpfeiler jeder Demokratie zerstören: faire und freie Wahlen.

Von Annika Brockschmidt (Text) und Jens Schwarz/Institute (Bilder), 29.07.2022

Es war heiss, im Juni 2022 in Washington DC. Aber nicht deshalb schien der Monat nicht enden zu wollen, bevor der Oberste Gerichtshof in die Sommer­pause verschwand. Sondern, weil der nun von einer rechts-reaktionären Mehrheit dominierte Supreme Court der amerikanischen Bevölkerung in der zweiten Junihälfte ein Erdbeben nach dem anderen bescherte.

Dabei lief sich das Gericht erst gerade warm – der nächste massive Angriff auf die Demokratie zeichnet sich bereits ab.

Schlagzeilen hatte im Juni vor allem das Urteil im Fall «Dobbs v. Jackson Women’s Health Organisation» gemacht, das aus der Feder des extremen Abtreibungs­gegners Samuel Alito stammt. Damit schafften Alito und vier seiner rechten Richter­kollegen das verfassungs­rechtlich geschützte Recht auf Abtreibung ab, das 1973 im Grundsatzurteil «Roe v. Wade» entschieden und 1992 in «Planned Parenthood v. Casey» bestätigt worden war.

Eine Entscheidung, deren Radikalität nicht genug betont werden kann: Das amerikanische Rechts­system baut auf Präzedenz­urteilen auf, die nur in ausser­ordentlichen Ausnahme­fällen gekippt werden können – wenn eine breite Beweislage vorliegt und ersichtlich ist, dass es sich bei der früheren Entscheidung um eine falsche gehandelt hat. So sollen die Stabilität und Objektivität des Gerichts garantiert werden.

«Jedes Baby ist ein Segen»: Anti-Abtreibungs-Kampagne bei Knoxville, Tennessee (2020).

Doch die rechten Richter, die die Mehrheit am Obersten Gerichtshof stellen, geben sich nicht einmal die Mühe, ihre ideologische Agenda zu verbergen. Sie hängen dem sogenannten «Originalismus» an – einer «juristischen Pseudo­philosophie», wie es Andrew L. Seidel ausdrückt. Seidel ist Jurist und Supreme-Court-Experte. Für ihn ist der Originalismus ein intellektueller smokescreen – ein Vorwand für das Gericht, um zu den Urteilen zu kommen, die es haben will.

Zur Autorin

Annika Brockschmidt ist studierte Historikerin und Konflikt­forscherin und arbeitet als Journalistin, Autorin und Podcasterin. 2021 erschien ihr Buch «Amerikas Gottes­krieger: Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet».

Nach Lesart des Originalismus muss die Verfassung so interpretiert werden, wie sie von den Verfassern und ihren Zeitgenossinnen im Jahr 1787 gemeint war. Das sind schlechte Nachrichten für alle, die keine weissen, land­besitzenden Männer sind. Dabei wird der Originalismus auch nicht konsequent angewendet, weshalb es sich dabei nicht um eine ernst­zunehmende juristische Philosophie handelt.

Das hält den Obersten Gerichtshof aber nicht davon ab, sich darauf zu stützen. In seinem letzten Gerichts­jahr hat er dank seiner neuen 6-zu-3-Super­mehrheit alle Hemmungen verloren: Seine jüngsten Urteile gefährden die Trennung von Kirche und Staat, die Existenz strenger Waffengesetze, den administrativen Staat, seine Behörden und deren Handlungs­spielraum, was beispiels­weise den Umwelt­schutz betrifft, die Miranda Rights (gemäss denen ein Angeschuldigter bei der ersten Einvernahme informiert werden muss, dass er die Aussage verweigern kann) und das Recht, gegen exzessive Gewalt­anwendung von Border Patrol Agents vorzugehen.

«Checks and Balances» würden wegfallen

Doch das alles ist erst der Anfang – und am Ende könnte potenziell der Tod der amerikanischen Demokratie stehen. Die Rechts­reaktionären haben im Gericht endlich die Mehrheit – und zwar eine, bei der sie selbst die Stimme des konservativen John Roberts nicht mehr benötigen, der zwar ähnliche Ziele verfolgt, aber – wie im Dobbs-Fall – eher für eine zunehmende Aushöhlung einiger Freiheits- und Bürger­rechte ist, anstatt sie komplett abschaffen zu wollen.

Man könnte nun annehmen, dass das Gericht nach der Welle der Empörung, mit der grosse Teile der Öffentlichkeit auf die jüngsten Urteile reagiert haben, erst einmal den Ball flach halten würde. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die rechte Mehrheit am Obersten Gerichtshof sieht keinen Grund, einige besonders kontroverse Entscheidungen aus strategischen Gründen hinaus­zuzögern, jetzt, wo sie über das entsprechende Stimm­gewicht verfügt.

So hat der Supreme Court bekannt gegeben, dass er im Herbst den Fall «Moore v. Harper» anhören wird. Das ist deswegen so signifikant, weil das Gericht sich aussuchen kann, welche Fälle es hört. Bedeutet: Es nimmt für gewöhnlich keine Fälle an, bei denen völlig klar ist, wie die Entscheidung ausfallen wird. Das Timing spiele hier eine entscheidende Rolle, sagt die Jura­professorin Melissa Murray von der New York University zum Radiosender NPR: «Das Gericht nimmt nur Fälle an, von denen es denkt, dass sie entschieden werden müssen, weil es eine aktive Debatte oder unter­schiedliche Urteile von verschiedenen Berufungs­gerichten gibt.»

Vordergründig ist der Fall «Moore v. Harper» ein Redistricting-Fall, der sich mit der Neuziehung von Wahlbezirks­grenzen beschäftigt. Konkret geht es um die Grenzen, die die republikanische Legislative in North Carolina nach dem Zensus 2020 neu gezogen hat. Der Supreme Court des Bundes­staates hatte die Karte zurück­gewiesen, da sie zugunsten der Republikaner erstellt worden war. In einem hart umkämpften Staat wie North Carolina wäre das auf Jahre hin ein massiver Vorteil.

Fachkundschaft: Nach dem Besuch der Waffen­messe im Sharonville Convention Center, Cincinnati, Ohio (2020).
Bollwerk gegen den Kommunismus: Auf dem Parkplatz des Bojangles Coliseum in Charlotte, North Carolina (2020).

Doch der Fall «Moore v. Harper» hat Auswirkungen, die weit über North Carolina hinaus­gehen könnten: Die Klägerinnen vertreten in ihrer Argumentation eine Form der sogenannten «Independent State Legislature Theory», also der Theorie von der unabhängigen Bundesstaats­legislative. Diese besagt, dass eine Wahl in einem Bundes­staat ganz der Kontrolle der Legislative des entsprechenden Bundes­staats unter­liegen soll.

Nicht nur wider­spricht der Kern dieser Theorie der Grundidee des Föderalismus. Auch würde damit die Idee der «Checks and Balances» wegfallen, die zurzeit noch sicherstellt, dass eine ausser Rand und Band geratene Legislative in die Schranken gewiesen werden kann. So etwa, als einige Republikaner unter Trumps Führung 2020 nach der Wahl Bidens forderten, den Wähler­willen zu missachten und eigene Wahlfrauen aufzustellen. Oder wenn jetzt versucht wird, extrem parteiische Wahl­gesetze und Wahl­bezirks­grenzen durch­zudrücken. Eingreifen kann dann beispiels­weise der Gouverneur oder der Oberste Gerichtshof des Bundesstaates.

Juraprofessorin Kate Shaw von der Cardozo School of Law und Co-Host des Podcasts «Strict Scrutiny» fasst die Auswirkungen der «Independent State Legislature Theory» folgendermassen zusammen: «Das würde bedeuten, dass staatliche Gerichte machtlos wären, wenn Parlamente der Bundes­staaten in einer Weise handeln, die nach den Verfassungen der Bundes­staaten offenkundig rechts­widrig ist – wenn sie beispiels­weise das Wahlrecht oder das Recht auf freie und faire Wahlen verletzen, das viele Verfassungen ausdrücklich garantieren. Die Theorie, zumindest die stärkste Form davon, würde den Gesetz­geberinnen der Bundes­staaten bei bundes­weiten Wahlen einen Blanko­scheck ausstellen.»

Mehr Macht für die weisse, konservative, christliche Minderheit

Das hätte fatale Folgen, denn die Republikaner kontrollieren 30 der Legislativen auf Bundesstaats­ebene, die Demokraten nur 17 (drei weitere sind geteilt). In der Mehrheit der Bundes­staaten könnte dann keine Demokratin mehr eine Wahl gewinnen.

Für Supreme-Court-Experte Andrew L. Seidel ist klar: «Dieser Supreme Court ist betrunken von seiner Macht. Die strukturellen Kontrollen seiner Macht durch gleich­berechtigte Regierungs­zweige haben sich während der Regierungs­zeit von Trump als unzureichend erwiesen. Die konservativen Richter haben systematisch Kontroll­mechanismen ausser Kraft gesetzt, dazu gehört die Aushöhlung des Voting Rights Acts, die Erlaubnis der parteiischen Ziehung von Wahlbezirksgrenzen.»

Deswegen müssten alle Alarm­glocken schrillen, wenn der Oberste Gerichtshof sich eines Falls mit einer Signal­wirkung wie «Moore v. Harper» annimmt: «Jedes Mal, wenn dieses Gericht einen Fall zu einer wichtigen Frage aufnimmt – insbesondere, wenn es um unsere Demokratie geht – besteht eine sehr reale Gefahr», sagt Seidel. «Das wahr­scheinliche Ergebnis wird sein, dass noch mehr Macht für die schrumpfende weisse, konservative, christliche Minderheit gesichert werden soll, um die Herrschaft dieser Minderheit noch tiefer zu verankern.»

Es gibt eine Lösung für alles: Shelby, North Carolina (2020).

Der Fall «Moore v. Harper» beschäftigt sich zwar mit Kongress­wahlen, nicht mit Präsidentschafts­wahlen. Trotzdem könnte er einen gefährlichen Einfluss auf Letztere haben, sagt Jura­professorin Kate Shaw: «Es ist unwahr­scheinlich, dass das Gericht direkt etwas zu der haar­sträubenden Theorie sagen wird, nach der die Legislativen der Bundes­staaten bereits abgegebene Stimmen verwerfen und einfach direkt die Wahl­frauen für die Präsidentschafts­wahl ernennen können. Aber wenn das Gericht die Klage im Fall «Moore v. Harper» akzeptiert, könnte das die Chancen erhöhen, dass eine bundes­staatliche Legislative versucht, die Wahl­regelungen für Präsidentschafts­wahlen vor der nächsten Wahl zu ändern, um für sich selbst die Macht zu behaupten, Wahl­männer aufzustellen.»

«Diese Doktrin ist der 6. Januar, in ein legales Gewand gekleidet»

Bisher wurde die «Independent State Legislature Theory» vom Obersten Gerichtshof und der breiten Mehrheit amerikanischer Juristinnen als extrem und ahistorisch abgelehnt. «Trotz ihres Namens ist die Theorie oder Doktrin der ‹Independent State Legislature› keines von beiden», sagt Seidel. «Sie ist ein Albtraum, der am äussersten Rand des konservativen Rechts­denkens geboren wurde und diesem helfen würde, die Macht zu ergreifen. Sie ist völlig losgelöst von demokratischen Grundsätzen, dem Text unserer Verfassung und der Rechtsstaatlichkeit.»

Welches Ziel verfolgen diejenigen, die wollen, dass die Gesetz­geber in den Bundes­staaten ungehindert schalten und walten können? «Wahlen zu kippen», sagt Seidel. Das sei auch das Ziel des 6. Januars 2021 gewesen, als ein Mob das Capitol stürmte. «Diese Doktrin ist effektiv der 6. Januar, aber in ein legales Gewand gekleidet.»

Die Folgen für die amerikanische Demokratie hängen davon ab, wie breit oder eng das Urteil im Fall «Moore v. Harper» ausfällt. Ein alptraum­haftes Szenario skizziert Vikram Amar, Dekan der juristischen Fakultät der University of Illinois und Experte für die «Independent State Legislature Theory»: «Eine Legislative könnte ankündigen, dass sie 2024 die Wahl­männer auswählen wird, ohne Rücksicht darauf, was die Wählerinnen wollen. Sie könnte sagen ‹Nun, wir werden die Ansichten der Wähler berücksichtigen, aber am Wahltag um Mitternacht werden wir eine Sitzung ohne die Gouverneurin und ohne irgend­jemand anderes abhalten und entscheiden, wer unserer Meinung nach die Wahl­männer dieses Staates sein sollten›. Das müsste dann respektiert werden, auch wenn, wie es in manchen Bundes­staaten der Fall ist, die Verfassung ausdrücklich sagt, dass das Volk die Wahl­frauen des Präsidenten wählen soll und sonst niemand.»

Wie wahr­scheinlich ist ein Doomsday-Szenario?

Hoffnung, dass die Republikaner sich 2024 auf Bundesstaats­ebene weigern würden, einen solchen «legalen Staats­streich» zu unterstützen, bestehe kaum, sagt Supreme-Court-Experte Seidel. «Die grosse Lüge vom Wahl­betrug ist zum Dogma in der Republikanischen Partei geworden. Jegliche Hoffnung, die darauf basiert, dass Republikanerinnen gutes Urteils­vermögen zeigen oder die Demokratie und ihr Land über ihre Partei stellen, ist eine falsche Hoffnung und eine Beschränkung, die sie durchbrechen werden.»

Das Best-Case-Szenario für den Fall «Moore v. Harper» wäre laut Kate Shaw, dass der Oberste Gerichtshof die «Independent State Legislature Theory» komplett ablehnt. Und das schlimmst­mögliche Ergebnis für die amerikanische Demokratie? «Ein Urteil, das die ‹Independent State Legislature Theory› akzeptiert und die Grundlage für immer aggressivere Versionen davon legt», so Shaw.

Wie wahr­scheinlich ist dieses Doomsday-Szenario? Rechte Richter haben schon vor Jahren ihre Sympathien für diese radikale Lesart der Verfassung gezeigt. So zum Beispiel, als das oberste Gericht im Jahr 2000 im Fall «Bush v. Gore» über den Ausgang der Präsidentschafts­wahl entscheiden musste, und dies im Sinne von George W. Bush tat. Drei erzkonservative Richter äusserten im Rahmen dieses Urteils ihre Unterstützung für diese «Theorie».

Wer darf sich ums höchste Amt bewerben? Vorwahl zur Präsidentschafts­wahl 2020, Charlotte, North Carolina.

Seitdem hat der Oberste Gerichtshof diese Lesart zwei weitere Male abgelehnt – 2015 und zuletzt 2020, als Donald Trump und seine Verbündeten versuchten, das Ergebnis der Präsidentschafts­wahl anzufechten. Eine zentrale Rolle spielte dabei Trumps Anwalt John Eastman, Fellow des rechten Thinktanks The Claremont Institute, dessen Mitarbeiter in den letzten Jahren offen Autoritarismus und Faschismus beworben haben. Er war dafür verantwortlich, eine Art «‹Independent State Legislature Theory› auf Steroiden» dafür anzuwenden, wie es der Jurist Vikram Amar formuliert.

Trump und seine Mitstreiterinnen hatten vor dem Obersten Gerichtshof noch keinen Erfolg. Doch vier der sechs aktuellen rechts­konservativen Richter haben in der Vergangenheit bereits ihre Unter­stützung für die «Theorie» signalisiert: Samuel Alito, Brett Kavanaugh, Neil Gorsuch und Clarence Thomas. Da der ebenfalls konservative John Roberts weniger offen radikal agiert, auch wenn er ähnliche politische Ziele verfolgt, liegt das Fortbestehen der amerikanischen Demokratie also in den Händen von Amy Coney Barrett – berufen von Trump auf Empfehlung der reaktionären Federalist Society.

Die mündliche Verhandlung des Falls «Moore v. Harper» vor dem Supreme Court wird im Oktober stattfinden, bevor die Urteils­verkündung vermutlich Anfang 2023 folgt. Dann werden wir erfahren, ob der Oberste Gerichtshof bereit ist, der bereits gefährdeten amerikanischen Demokratie den Todes­stoss zu versetzen.