Der Mechaniker
Die Kunst des US-Amerikaners Jordan Wolfson provoziert. Seine verstörenden Virtual-Reality-Installationen, Videos und Bildcollagen lösen regelmässig Kontroversen aus. Derzeit ist sein Werk in Bregenz zu sehen.
Von Max Glauner, 20.07.2022
Grosse Kunst, so der Starkünstler Bruce Nauman in einem Interview mit «Art in America» 1988, müsse die Betrachterin, den Betrachter ins Mark treffen. Nicht durch den Kopf, sondern durch den Bauch, wörtlich: «Like getting hit in the face with a baseball bat. Or better, like getting hit in the back of the neck. You never see it coming; it just knocks you down.» (Als ob du mit einem Baseballschläger eine ins Gesicht kriegst. Oder besser, einen Schlag von hinten ins Genick. Du siehst es nicht. Es haut dich einfach um.)
Interessanterweise ist die gewalttätige Rezeptionsfantasie bei Bruce Nauman an der Jazzmusik festgemacht, am Spiel John Coltranes und seines blinden Pianisten Lennie Tristano, das einen umhaut. In der bildenden Kunst, die den Betrachter direkter abholt, jedoch nicht unmittelbar körperlich, bleibt der Genickschlag dagegen ein schwieriges Unterfangen.
Inzwischen sind zwar die Künstlerinnen und Künstler Legion, die mit Trommelwirbel und Wow-Effekt auf die Bühne treten, denn dies generiert Aufmerksamkeit, Publikum – und Kasse.
Die Scheidewand ist allerdings dünn zwischen Jahrmarkt und redlichem Bemühen, zwischen blossem Aufmerksamkeitsgeheische und künstlerischem Anliegen, zwischen brutaler Provokation und durchschaubarer Strategie.
Als grosser Meister vom Fach der Kunst als Genickschlag hat sich der 1980 in New York geborene Jordan Wolfson in den letzten Jahren profiliert. Der Hype um sein verstörendes Werk ist beträchtlich.
Aber geht es um Kunst – oder doch mehr um Kasse?
Wolfson eröffnete am vergangenen Freitag eine umfangreiche Einzelausstellung im Bregenzer Kunsthaus. Um es vorwegzunehmen: Er gehört zu den klugen, ironisch-gewitzten Künstlern, die Schock und Distanz, verführerische Nähe und Abstand verantwortlich und gekonnt einzusetzen wissen. Die Begegnung mit seinen Arbeiten ist heftig, brutal und verstörend. Aber sie lohnt sich.
Jordan Wolfson im Kunsthaus Bregenz. Bis 9. Oktober 2022. Weitere Informationen finden Sie hier.
Ein paar Tage vor der Ausstellungseröffnung sitzen wir uns im Café des Kunsthauses Bregenz (KUB) gegenüber: kurze dunkle Haare, weisses T-Shirt, Jeans. Wir bestellen Apfelschorle und Brezel mit Senf. Wolfson wirkt abgeklärt und cool, aber Kalkül und Coolness sind nicht seine Sache. Eher schon, den Verrenkungen und Verschränkungen der eigenen Existenz auf die Spur zu kommen. Als säkularer Jude in New York aufgewachsen, sagt Wolfson, habe er es oft mit Ausgrenzung und Ablehnung zu tun gehabt. «Not easy.»
Beginnen wir mit der Bühne für Wolfsons Auftritt, dem KUB. Schon 25 Jahre steht das Gebäude des Architekten Peter Zumthor am Bodensee – minimalistisch frech, ein Fingerzeig über unsere einfallslose Gegenwart hinaus. Für Künstlerinnen ist diese Bühne eine Herausforderung, denn das KUB-Programm sieht vor, dass sie solistisch vier Geschosse, vier stützenlose Säle von gesamthaft fast 2000 Quadratmetern füllen müssen.
Wolfson gelingt das problemlos.
Die Ausstellung beginnt ohne Paukenschlag im Erdgeschoss. Das Zentrum des Raumes bleibt bei Wolfson frei. Nur das rote Fratzengesicht des «House with Face», 2017, die Display-artige Collage «Untitled», 2017, neben drei unauffälligeren Arbeiten (wir kommen darauf zurück) sorgen an den Wänden des hohen Saals für visuelle Attraktion.
Von dort geht es in die Blackbox des mit einem weissen Teppich ausgelegten ersten Stocks. Hier präsentiert Wolfson die monumentale Videoarbeit «Raspberry Poser», 2012.
Danach geht es in den zweiten Stock, den eine Wand mit rotierenden Holografien dominiert, «Artists Friends Racists», 2020, an den Wänden von grossformatigen Collagen umgeben. Dieser Bilderchor orchestriert das Präludium zur finalen Show im dritten Stock, die uns hinreisst oder abstösst: der lebensechte Go-go-Girl-Roboter «Female Figure», 2014, der Wolfson berühmt gemacht hat.
Ich will wissen, ob ihn der Erfolg seines Go-go-Automaten nicht zu sehr auf ein Image festgelegt und künstlerisch blockiert hat. Jordan lächelt und erwidert, nein, es sei ein Glück gewesen, denn der Erfolg hätte auch viel ermöglicht. «Ich bin kein puppet master. Die Technik interessiert mich nur, insofern sie meine Idee so gut wie irgend möglich umsetzt. Die Mechanik und die Programmierung muss ich ohnehin anderen überlassen.»
Roh und unvermittelt wie nackte Gewalt
Kehren wir an den Anfang zurück, ins Erdgeschoss. Wir stossen auf das optisch unauffällige Mediendispositiv «Real Violence», 2017, eine Virtual-Reality-Brille und Kopfhörer, die uns auf einem Podest feilgeboten werden. Was wir vorerst nicht ahnen: Bruce Naumans Devise, Kunst müsse wie ein Schlag ins Genick wirken, wird hier wörtlich umgesetzt.
Haben wir uns Brille und Headset aufgesetzt, stehen wir allein auf dem Bürgersteig einer belebten New Yorker Verkehrsstrasse. Vor uns sehen wir den Künstler in Jeans und T-Shirt mit einem Baseballschläger in der Hand. Er posiert hinter einem Mann, der auf dem Bordstein kniet. Der Künstler hebt den Baseballschläger und drischt auf den Knienden ein, zuerst auf den Kopf, dann auf den Rumpf, das wehrlose Opfer fällt nach vorn, bricht zusammen, zuckt, blutet, wird mit Schläger und Füssen weiter traktiert, bis er auf dem Trottoir verreckt.
Viele werden vor dem Ende die VR-Brille und den Kopfhörer, aus dem süssliche Chanukka-Musik fliesst, abgelegt haben. Auch jene, welche die Gewaltszene bis zum Schluss geschaut haben, werden sich fragen, was das zu bedeuten hat. Warum wir uns dem aussetzen und was uns das angeht.
Die Zumutung wird auch dadurch kaum abgeschwächt, dass wir im Opfer irgendwann einen animierten Dummy erkennen. Der Gewaltexzess bleibt ohne Kontext, die Motivation des Täters wie auch seine Beziehung zum Opfer sind unbekannt.
Wenn auch medial vermittelt – allerdings auf einem der direktesten Wege, durch eine Virtual-Reality-Brille –, sind wir Zeuge, Komplizin, Mittäter der krassen Gewaltszene.
Warum haut der Künstler ins Genick seines Publikums, warum geht er an die Schmerzgrenze des Betrachtenden? Challenge, Herausforderung des Avantgardisten, noch eine Grenze zu überschreiten? Oder challenge, Herausforderung der Befindlichkeiten der Rezipientinnen, denen eine Erfahrung vermittelt wird, die sie auf anderem Weg nur schwer hätten machen können?
Wolfson ist so klug, uns die Gewaltszene in der VR-Brillen-Hyperrealität zu vermitteln, in der wir vereinzelt und auf uns zurückgeworfen werden. Fasziniert uns die Gewalt? Identifizieren wir uns mit dem Täter, dem Opfer, mit beiden?
Die Frage nach der Integrität des Künstlers, seiner moralisch-politischen Haltung oder seinen guten Absichten – zum Beispiel im Sinne einer aristotelischen Katharsis oder etwa als Kritik der viralen Präsenz von Gewaltdarstellungen in Social Media – entfernt uns von der unmittelbar körperlichen Erfahrung des Betrachtenden. Aber sie spielt in Wolfsons Setting eine untergeordnete Rolle. Zur Diskussion steht einzig die Arbeit als solche, die sich nicht mit der Absicht des Künstlers legitimiert. Sie ist roh und unvermittelt wie nackte Gewalt. Ein Schlag ins Genick.
Keine moralische Botschaft
Ich frage Wolfson nach seiner Haltung, seiner politischen Einstellung. «Ja, natürlich ist meine Position als Aussenseiter links, kritisch.» Kunst habe für ihn jedoch nichts mit Eindeutigkeit zu tun, mit moralischen Botschaften oder gar Politpropaganda. Er beziehe Stellung, ja, aber im Sinne einer Verschiebung der Bezüge, Kontexte und Bedeutungsebenen. Das geschieht anarchisch. Wolfson beisst in seine Brezel.
Seine Arbeiten machen sichtbar, ohne Antworten zu geben. Sie sind unbequem, da sie Tiefenschichten unseres Lebens triggern, die verdrängt, verleugnet in uns schlummern. Der Mythos kindlichen Glücks gehört ebenso dazu wie die Abgründe bürgerlicher Geschlechterbeziehungen oder die falschen Versprechungen der Konsumgesellschaft.
Nach seinem Selbstverständnis als Künstler befragt, charakterisiert sich Wolfson als «Mechaniker, der eine Maschine repariert, die es so noch nicht gegeben hat». Er sieht sich nicht als Bildhauer, Maler, Zeichner. Sein Medium, der Ausdruck in Videos, Collagen, Rauminszenierungen mit automatisierten Puppen, die Formsprache aus Comics, im Internet gefundenen Bildern und gefilmten Szenen, in denen er häufig selbst auftritt oder den Figuren seine Stimme leiht, ergeben sich aus dem oft langwierigen Arbeitsprozess und variieren stark.
Auch wenn seine Handschrift zumeist erkennbar bleibt.
Das überzeugt bei Wolfson, da er zwar neueste Technik und Software nutzt, diese formal jedoch nie in den Vordergrund spielt und zur eigentlichen Sache macht – auch wenn wir zuerst einmal darüber staunen können.
Das stellt sich auch bei «Artists Friends Racists», 2020, ein. Eine Wand, an der in zwei Reihen übereinander 20 rotierende Hologramm-Displays befestigt sind, deren leises Surren den Saal im zweiten Stock erfüllt. Der Künstler nutzt den neusten Schrei bildgebender Verfahren, der bereits auf der «Unlimited» der Art Basel Mitte Juni für offene Münder sorgte. Jedes Display bewegt ein Kreuz aus vier gut 20 Zentimeter langen Achsen, bestückt mit winzigen LED-Lämpchen, die mit einer aberwitzig schnellen Rotation gestochen scharfe Bilder produzieren.
Damit setzt uns der Künstler in ein atemberaubendes Bildgewitter, das unsere Auffassungsgabe schlichtweg überfordert. In rascher Folge ploppen fröhlich-blaue Emojis neben frechen Comic-Hasen auf, Gesichter, Fotos von Polizeiautos, Kunststücke von Robotern, Feuerwehrmänner – und immer wieder regnen die Worte Artists, Friends, Racists herunter und zerbersten wie Glas.
Eine Kritik an eindeutigen Zuschreibungen? Die ganze Arbeit eine Allegorie auf die bildversessene Social-Media-Gegenwart? Möglich. Aber die Standardfrage, was der Künstler uns damit sagen will, taugt bei Wolfson nur dann, wenn wir die Antwort in uns selbst suchen.
Distanz und Schrecken
Das gilt auch für seine Installation «Female Figure», 2014. Auch acht Jahre nach ihrer ersten Präsentation, unter anderem auf der Sonderausstellung «14 Rooms» während der Art Basel, hat sie nichts von ihrer Faszination verloren. Damals war sie der Geheimtipp der Messe, der Zugang streng limitiert. Das Publikum wurde nur in Gruppen bis zu vier Personen in einen engen, weissen Raum gelassen, an dessen Stirnseite eine leicht bekleidete, grossbusige, blonde Tänzerin in hohen weissen Lackstiefeln vor einem Spiegel zu Discomusik tanzte.
Tatsächlich konnte man kurz denken, einer realen Tänzerin zu begegnen, die einen über den Spiegel fixierte. Unheimlich, denn über Bewegungsmelder und eine Gesichtserkennungssoftware verfolgte sie ihre Betrachter auf Schritt und Tritt. Unheimlich auch: Die Frau trug eine dunkelgrüne Maske mit langer hexenartiger Hakennase. Und ihre lebensechten Bewegungen wurden über eine Chromstange ermöglicht, die durch den Spiegel in ihren Bauch drang.
Bregenz zeigt «Female Figure» zum ersten Mal in einem weiten Saal, nicht im Kabuff, das die Figur aufdringlich, ja bedrohlich werden liess. Den grossen Auftritt in Bregenz hat sie sich allerdings verdient. Wir können sie hier – ihren Blicken und der klaustrophoben Intimität entzogen – aus sicherer Distanz würdigen. Auch von dort hakt sie sich vampirisch in unser Gedächtnis ein. Denn auch laszive Schönheit braucht Anmut oder eben Schrecken, um wirkliche Bindungskräfte herzustellen.
Und auch Schrecken schafft und benötigt ein kritisches Mass an Distanz.
Es ist heiss in Bregenz. Wolfson mag nicht mehr über Kunst reden. Er geht erst mal baden.
Max Glauner arbeitet als freier Kulturjournalist für den «Freitag», den «Tagesspiegel», die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung», «Frieze», «Artforum» und «Kunstforum International». Er lebt in Berlin und Zürich und ist Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste.