Noten: Ungenügend
Noten sind ungerecht, erzeugen Druck und Frust und sagen wenig aus. Trotzdem halten Schweizer Schulen daran fest, der Kanton Zürich hat die Notengebung jüngst gar gesetzlich verankert. Warum eigentlich?
Ein Gastbeitrag von Philippe Wampfler, 11.07.2022
Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Der Autor dieses Beitrags würde Noten gerne komplett abschaffen. So schnell wie möglich. An allen Schulen.
Noten belasten Lehrpersonen; sie entziehen Lernenden die Motivation für ganzheitliches, kreatives und nachhaltiges Lernen; sie wirken mathematisch genau, sind aber höchst unpräzise und entstehen oft zufällig. Noten verlangen nach Prüfungen, Prüfungen nach Aufgaben, die sich leicht korrigieren lassen, Aufgaben nach schematischem Unterricht.
Kurz: Unterricht, in dem Noten vergeben werden müssen, ist selten guter Unterricht.
Und das sind nur die konzeptuellen Probleme von Noten. Ihre Funktion ist noch problematischer. Sie besteht darin, ein ungerechtes Bildungssystem und eine ungerechte Gesellschaft zu stabilisieren, weil sie den Eindruck erzeugen, einige Menschen hätten gute Bildung und gute Berufe verdient und andere nicht. Weil sie gute oder halt schlechte Noten hatten.
Philippe Wampfler unterrichtet Deutsch an der Kantonsschule Enge in Zürich. Er ist Dozent für Deutschdidaktik an der Uni Zürich und hat 2021 zusammen mit Björn Nölte das Buch «Eine Schule ohne Noten. Neue Wege zum Umgang mit Lernen und Leistung» publiziert.
All diese Argumente überzeugen viele Menschen, die sich sachlich damit auseinandersetzen. Dennoch ist die Abschaffung von Noten eine Utopie. Bei Weiterbildungen an Schweizer Schulen finden Verantwortliche es zwar reizvoll, über Unterricht ohne Noten nachzudenken – aber wünschen sich dann doch pragmatische Hinweise, wie die Prüfungskultur etwas verbessert werden könnte, ohne auf Noten zu verzichten. Das sei nämlich aktuell nicht möglich.
Warum eigentlich nicht?
Schweizer Schulen sind ein träges System, das sich an gesellschaftlichen Erwartungen orientiert. Eine zentrale Erwartung: Eltern sollen mit Zahlen darüber informiert werden, wie gut es für ein Kind in der Schule läuft. Sind die Zahlen gut, sind die Eltern zufrieden.
Das hat insbesondere damit zu tun, dass schwierige Übertritte mit Noten begründet werden: Wer ins Gymnasium darf und wer in die Sek C muss, lässt sich mit Prüfungen und Noten leicht bestimmen. So abgestützte Entscheidungen sind zwar effizient, verstärken aber alle Ungerechtigkeiten, die ohnehin in Noten stecken – sie benachteiligen Kinder mit Prüfungsangst, mit bestimmten Namen oder schlicht solche, denen niemand bei der Prüfungsvorbereitung helfen kann.
Viele Lehrpersonen spüren diese Ungerechtigkeiten. Deshalb hat sich allmählich ein «Ungrading» entwickelt, also eine Ablösung von Noten. Bildungspolitisch ist dieser Prozess aber höchst umstritten: Anfang Juli hat der Zürcher Kantonsrat beschlossen, Noten gesetzlich so zu verankern, dass Lehrpersonen kaum noch Spielraum haben.
Warum verlangt die Politik von Schulen, weiterhin Noten zu geben, obwohl sie aus wissenschaftlicher Sicht fragwürdig sind?
Das kann sozialpsychologisch erklärt werden: Wer eine Schule besucht hat und benotet wurde; wer Kinder hat, die benotet werden; oder wer selber andere benotet, redet sich ein, dass Noten eine Bedeutung haben, dass sie Vergleiche und Messungen von Leistungen ermöglichen. Es fällt Menschen schwer, nicht an Noten zu glauben, weil sonst der mit ihnen verbundene Aufwand und Frust sinnlos wären.
Gleichzeitig schaffen Noten stabile Machtverhältnisse: Sie erlauben Lehrpersonen, Druck auf Lernende auszuüben – geben Lernenden aber auch verbindliche Spielregeln an die Hand, auf die sie sich berufen können.
Noten weisen Menschen einen Wert zu, der stark mit gesellschaftlichen Vorstellungen von Meritokratie verbunden ist. Sie suggerieren, Bildung müsse verdient werden und sei ein legitimer Grund, weshalb einige von uns ein gutes und andere ein schlechtes Leben führen.
Trotz der tiefen gesellschaftlichen und politischen Verankerungen gibt es aktuell eine intensive und kritische Auseinandersetzung mit schulischer Beurteilung. Je nach Schulstufe sind damit unterschiedliche Spannungen verbunden.
Die Individualisierung der Schule
Die Schülerinnen und Schüler der Primar- und Sekundarstufe werden regelmässig beurteilt. Berücksichtigt werden insbesondere die Leistung, die Lernentwicklung und das Verhalten. Die Beurteilung der Leistung im Semesterzeugnis erfolgt durch Notengebung.
Diese Vorgabe hat der Zürcher Kantonsrat Anfang Juli im Volksschulgesetz verankert. Wie kommt er dazu?
Offenbar ist Beurteilung und Notengebung nicht mehr selbstverständlich, sondern muss vorgeschrieben werden. Dafür gibt es einen oberflächlichen und einen tiefergreifenden Grund.
Ständig sichtbar ist der Frust, der durch Noten erzeugt wird: Bei Lehrpersonen, deren Anstrengungen von Eltern und Lernenden oft nur durch die Perspektive dieser Zahlen gesehen werden – und bei Schülerinnen, deren Lernbemühungen auf eine Note reduziert werden, die im Vergleich mit anderen oft nicht zufriedenstellend ist.
Ungrading, die Abkehr von Noten, verspricht, diesen emotionalen Ballast zu entfernen. Dahinter steckt eine fundamentale Einsicht, die die Schulen in der Schweiz in den letzten zwanzig Jahren massiv verändert hat: Individualisierung. Alle Lernenden in einer Klasse arbeiten unterschiedlich. Die Logik der Prüfung lässt sich damit jedoch nicht in Einklang bringen: einem Vergleich von Schülern in Bezug auf dieselben Aufgaben.
Weshalb sollte aber eine Schülerin, die das Mathebuch schon durchgearbeitet hat, dieselben Aufgaben lösen wie ein Schüler, der noch Lücken aus dem letzten Semester aufarbeitet? Weshalb sollte ein Schüler, der zu Hause Französisch spricht, dieselben Vokabeln hinschreiben müssen wie eine Schülerin, der eine Legasthenie das Lernen von Fremdwörtern erschwert? Die Vergleichsfunktion von Noten erschwert Individualisierung, weil Kinder nicht vergleichbar lernen. Die Kompetenzorientierung hat dem Fördern von Lernenden den Vorrang vor Beurteilung eingeräumt.
Wissenschaftlich ist das einleuchtend: Seit den 1960er-Jahren, als Noten erstmals systematisch untersucht worden sind, ist klar, dass sie nicht so funktionieren, wie sie funktionieren sollten.
Moderne Noten leiten sich aus der Testtheorie ab. Sie hilft, stabile Persönlichkeitsmerkmale von Menschen zu messen. Funktioniert ein Test wie der Intelligenztest tatsächlich, dann sollte das Ergebnis objektiv sein, sich auf tatsächliche Intelligenz beziehen – und bei wiederholter Messung dieselben Werte ausgeben.
Noten erfüllen keines dieser Merkmale: Sie sind nicht objektiv, messen nichts Spezifisches (oder überhaupt nichts) und verändern sich massiv, wenn Kinder die Lehrperson oder die Schule wechseln.
Das hat einen einfachen Grund: Lernen oder Kompetenzaufbau sind keine stabilen Persönlichkeitsmerkmale, sondern komplexe dynamische Prozesse, die sich nicht numerisch erfassen lassen.
Das Ungrading der Primarschule – und wo es endet
Nach der Debatte im Zürcher Kantonsrat wurde dem Gesetzesentwurf ein Satz hinzugefügt, der notenfreien Unterricht in der ersten Klasse erlaubt. Diese Kurskorrektur zeigt einen Minimalkonsens: Das Lernen von jungen Kindern sollte auch in der Schule notenfrei vonstattengehen.
Unter Lehrpersonen weitet sich dieser Konsens aus: Die positiven Erfahrungen mit notenfreiem Lernen führen besonders in der Primarschule zu einer Reihe von Initiativen und Versuchen, möglichst umfassend auf Noten zu verzichten. Diese Vorstösse schliessen dabei an Erfahrungen rund um die Individualisierung von Unterricht an und dienen meist dazu, passgenaue, motivierende Lernumgebungen für alle Schülerinnen und Schüler zu ermöglichen. Noten belasten diesen Prozess, weil sie Defizite betonen.
Wie stark man sich in der Schweiz von Noten lösen kann, zeigt eine Handreichung des Amts für Volksschule des Kantons St. Gallen von 2020. Darin steht, eine Zeugnisnote müsse «als Gesamtbeurteilung» gesetzt werden, für die sich die Lehrperson auf «vielfältige Leistungsnachweise» stützt.
Das bedeutet konkret: Zeugnisnoten werden im Kanton St. Gallen nicht aus Prüfungsnoten errechnet.
Schulen haben deshalb begonnen, sich bei Rückmeldungen darauf zu stützen, ob die Lernenden ihre Lernziele erreicht haben. In der Handreichung steht dazu:
Nach der Leistungsüberprüfung werden die Schülerinnen und Schüler über den Grad der Lernzielerreichung informiert, die Form bestimmt dabei die Lehrperson. Je nach Art der Bilanzierung eignen sich dabei unterschiedliche Arten von Rückmeldungen, sei dies z. B. in Form von Prädikaten, Symbolen, Noten, einem Bericht oder einer mündlichen Rückmeldung.
Schulen sollen eine kohärente Beurteilungskultur entwickeln, die deutlich von der Vorstellung abweicht, dass Lernende Prüfungen schreiben und Lehrende diese bewerten. Solche Beurteilungskulturen gibt es mittlerweile in vielen Primarschulen in der ganzen Schweiz.
Eine Schulleiterin aus dem Kanton St. Gallen berichtet, der Umgang damit fiele nicht allen Lehrpersonen leicht. Besonders im Zyklus II, also im 3. bis zum 6. Schuljahr der Primarschule, würden einige Lehrkräfte Noten im System ablegen, obwohl die schulische Beurteilungskultur das nicht vorsehe.
Der Grund ist naheliegend: Wenn es um den Übertritt in die Oberstufe geht, können Noten als Begründung herangezogen werden und die vom Kanton vorgegebene «Gesamteinschätzung» ersetzen.
Das fortschreitende Ungrading der Primarschulen endet also meist dort, wo Laufbahnentscheidungen anstehen. Diese können über Noten scheinbar besser begründet und Eltern verkauft werden. Wer über die schulische und berufliche Zukunft von Kindern entscheiden muss, fühlt sich sicherer, wenn Zahlen Lernleistungen dokumentieren – egal wie willkürlich sie zustande kommen.
Berufswahl an der Sekundarschule: Worauf Lehrbetriebe achten
«Für die Noten interessieren sich die Betriebe bei der Lehrstellenvergabe weniger, die schauen stärker auf die Rückseite», sagte die Sekundarlehrerin Dunia Sommer an einem Elternabend in der Stadt Zürich. Mit der Rückseite meint sie eine Beurteilung des Arbeits- und Sozialverhaltens der Schülerinnen. Viele Sekundarschulen erfassen Verspätungen, Störungen und Bereitschaft zur Mitarbeit in digitalen Systemen, um gegenüber Eltern und Lehrbetrieben Auskunft geben zu können.
Prüfungsergebnisse haben an Sekundarschulen an Bedeutung verloren. Dafür gibt es zwei Gründe:
Erstens werden fachliche Kompetenzen mit Tests gemessen. Bekannt sind vor allem der Stellwerk-Test und der Multicheck/Basiccheck. Diese Tests sind standardisiert, also unabhängig von Lehrpersonen und Schulhauskulturen. Ihre Ergebnisse wirken deshalb aussagekräftiger als Noten.
Zweitens gehen viele Lehrbetriebe davon aus, dass die relevanten Kompetenzen im Betrieb gelernt werden können, wenn Lernende die nötige Arbeitshaltung mitbringen. Ob eine angehende Schreinerin bei Französischtests gut abschneidet, ist weniger wichtig als ihre Bereitschaft, zuzuhören und fleissig zu sein. Das Erfassen von Tugenden ist eine Alternative zu Noten, die letztlich ähnlich funktioniert.
Grosse Ausbildungsbetriebe wie Libs oder die Swisscom haben ihre Auswahlprozesse professionalisiert und können aufgrund eigener Kriterien entscheiden, wer sich für eine Lehrstelle eignet und wer weniger. Sie stützen sich kaum noch auf Tests oder Noten. Im Gegensatz dazu gibt es weiterhin viele kleinere Lehrbetriebe, die wenig Ressourcen für Personalentscheidungen haben und sich deshalb tendenziell stärker auf Noten abstützen.
Wie das Ungrading auf der Primarschulstufe ist der Bedeutungsverlust von Noten für die Berufswahl aktuell eine starke Tendenz, aber kein absoluter Zustand.
Die Selektion gymnasialer Prüfungskulturen
In Deutschland sozialisierte Menschen haben oft Mühe, die Eigenheiten des Schweizer Gymnasiums zu verstehen. Das ist nicht erstaunlich, denn das System ist kompliziert: Einige Deutschschweizer Kantone begrenzen die Gymnasialquote auf rund 20 Prozent. In ländlichen Regionen führt das nicht zu einer Selektion: Weil Kantonsschulen häufig entfernt und Berufslehren traditionell verankert sind, würden ohnehin nicht mehr Jugendliche diesen Weg einschlagen.
In den Agglomerationen führt die Beschränkung aber zu massiven Ausschlüssen, die besonders Kinder von nicht-akademisch gebildeten Eltern betrifft, wie die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm betont. Über selektive Gymnasien kann eine Bildungselite ihre Privilegien an ihre Kinder vererben. Das ist deshalb möglich, weil Kantone mit strengen Quoten nicht bereit sind, die nötigen Mittel aufzubringen, um mehr Jugendlichen Zugang zu gymnasialer Bildung zu verschaffen.
Legitimiert wird dieses ökonomische Kalkül mit dem «Niveau»: Die ETH-Professorin Elsbeth Stern behauptet etwa, nur 20 Prozent der intelligentesten Jugendlichen seien für gymnasiale Bildung qualifiziert. Viele Lehrpersonen akzeptieren diese Überlegung, weil sie gern mit Jugendlichen arbeiten, die schnell und leicht lernen – gerade weil die Selektion sich nicht primär auf Intelligenz, sondern auf schulische Leistungsbereitschaft bezieht. In den Kantonen mit tiefen Quoten studieren und arbeiten dann aber selbstverständlich Fachkräfte aus anderen Kantonen (oder gar aus Deutschland). Tiefe Gymnasialquoten sind so letztlich eine Diskriminierung der eigenen Bevölkerung.
Das schweizerische Quotensystem erfordert einerseits beim Eintritt Selektion, andererseits ermöglicht es einen universellen Zugang zum Studium: Wer eine Schweizer Matur hat, kann sich (mit Ausnahme von Medizin) an jeder Schweizer Hochschule für jeden Studiengang einschreiben. Das erzeugt eine Spannung: Gymnasien müssen prüfen, um herauszufinden, wer geeignet ist für eine gymnasiale Ausbildung, dann aber die Lernenden primär befähigen, studieren zu können. Entsprechend ist die Matur keine selektive Prüfung.
Die Spannung zwischen Selektion und Befähigung schlägt sich in unterschiedlichen Beurteilungskulturen nieder: Während bei der Bewertung der Maturitätsarbeit oder im Bildnerischen Gestalten typischerweise Noten gesetzt werden, die eine Anerkennung des Arbeitsprozesses und des Engagements ausdrücken, leiten Fächer wie Mathematik oder Physik ihre Noten primär aus dem Lösen von Aufgaben ab.
Letztere Noten sind oft tiefer, Lehrpersonen sehen sie als Beitrag zum Selektionsauftrag der Gymnasien. Zwischen diesen beiden Extremen bei der Benotung entsteht an Mittelschulen ein ganzes Ökosystem an Bewertungskulturen, was auch mit der enormen Lehrfreiheit zusammenhängt: Viele Lehrpersonen gestalten Prüfungen bis zur Matura autonom. Bis auf die Lehrpläne gibt es keine zentralen und standardisierten Vorgaben.
An Gymnasien haben Noten eine hohe Bedeutung: Sie entscheiden, wer bleiben darf oder repetieren beziehungsweise austreten muss. Sie entstehen aber auf unterschiedlichste Weise.
Bei der Verrechnung passiert dann etwas pädagogisch Seltsames: Die ungenügenden Noten zählen doppelt. Das wird zwar durch die Sprachregelung von Saldopunkten etwas kaschiert: Man sagt, ungenügende Noten müssten «doppelt kompensiert» werden. Letztlich werden aber so nicht etwa wichtige Fächer stärker gewertet oder solche, in denen Schüler Stärken haben – sondern diejenigen, die jemandem nicht liegen.
Das erzeugt Druck: In den Wochen vor den Notenabgaben bereiten sich Gymnasiastinnen pausenlos auf Prüfungen vor. Den Unterricht erleben sie zuweilen als Störung dieser Vorbereitung, deshalb schwänzen sie oder arbeiten während Schulstunden an dem, was dringend ist. Nach der Notenabgabe ist die Luft dann raus, Filme und Spiele ersetzen die fachliche Arbeit.
Relevant ist, was zählt – und das sind oft die harten Prüfungen in den Fächern, wo ungenügende Noten drohen. So verarmt die gymnasiale Lernkultur unter dem Druck der Fächer, in denen harte Noten gesetzt werden. Diese harten Noten werden wiederum damit gerechtfertigt, dass im Studium umfangreiche High-Stakes-Prüfungen anstünden. Falsch ist diese Aussage nicht.
Prüfungssessionen im Bachelor-Studium
Betritt man in den Wochen vor oder nach Semesterende eine Bibliothek in der Agglomeration von Zürich, sieht man Studierende vor ihren Tablets oder Laptops. Von der Öffnung bis zur Schliessung dieser Lernräume fassen sie Skripte zusammen, studieren Folien aus Vorlesungen und beschriften Diagramme. Sie sind in einer «Lernphase», betreiben Binge-Learning.
Gemeint ist damit die Vorbereitung auf umfangreiche Prüfungen, die oft darüber entscheiden, ob Module abgeschlossen werden können. Wer ein Bachelor-Studium absolvieren will, muss Prüfungssessionen bestehen können und wochenlang Stoff aufnehmen, um ihn dann bei Prüfungen wiedergeben zu können.
Der chilenische Professor César A. Hidalgo hat kürzlich darauf hingewiesen, dass die Gewöhnung an solche Prüfungen zu einem Problem führt, sobald junge Menschen ins Berufsleben eintreten oder ihr Studium mit einem Master oder einem Doktorat (PhD) weiterführen. Prüfungen suggerierten, die Arbeit sei abgeschlossen und werde dann benotet. Tatsächlich sei die Arbeit aber nie fertig, alles müsse permanent mit anderen Menschen gemeinsam überarbeitet werden.
Die Prüfungskultur im Bachelor-Studium ist realitätsfremd. Sie ergibt sich aber aus einem Aspekt, der in allen Bereichen des Schulsystems relevant ist: Gute Pädagogik ist nur möglich, wenn Lehrende genügend Zeit für Lernende haben. Fehlen die Mittel, fehlt die Zeit.
Prüfungen sind Behelfslösungen, die gut skalieren: Dozierende lassen Hilfskräfte oder Maschinen korrigieren. Alle Lernenden erhalten in Form von Noten eine Rückmeldung für ihre Anstrengungen. Dass diese ihre Entwicklung belastet und sie daran hindert, gesunde Vorstellungen von Arbeit zu entwickeln, ist ein Nebeneffekt der Tatsache, dass die nötigen Mittel für gute Bildungsangebote auch in der Schweiz fehlen.
Betrachtet man diese vier Stationen, so lässt sich zusammenfassend festhalten, dass klassische Prüfungen und Noten ein Widerspruch zu sinnvollen Lern- und Arbeitsprozessen sind.
Anders ist das nur an «Sonderschulen». Dort greift weder die kognitiv-meritokratische noch die numerisch-vergleichende Funktion von Noten. Stattdessen geniessen pädagogische Aspekte Vorrang. Das ist aber eine Ausnahme – an allen anderen Schultypen festigen Abhängigkeiten und Eigenheiten der Schweizer Schulformen das System von Noten: Primarschulen bereiten auf Gymnasien vor, Sekundarschulen auf Berufslehren und Gymnasien, Gymnasien auf ein Bachelor-Studium.
Numerische Bewertungen bleiben so ein effizientes Mittel, um Menschen Bildungsgängen und Berufen zuzuteilen – und um die damit verwobene Ungerechtigkeit zu verstecken.
Zur Debatte: Welchen Sinn haben Schulnoten?
Welche Erfahrungen haben Sie als Schüler mit den Notengebung gemacht? Wie ist es für Sie als Eltern, wenn das Kind mit dem Zeugnis nach Hause kommt? Und wenn da ungenügende Noten drinstehen? Hier gehts zur Debatte.