«Das beweist, dass wir keine Windfahnen sind»

Folgt das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) stur einer neoliberalen Agenda? Wieso vollzieht es die Sanktionen gegen Russland nur zaghaft? Und reagierte es sowohl in der Pandemie wie auch in der Europa­frage so zögerlich? Staats­sekretärin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch nimmt Stellung zur Kritik.

Von Dennis Bühler und Priscilla Imboden, 05.07.2022

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Synthetische Stimme
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Seit 2011 ist sie Direktorin des Staatssekretariats für Wirtschaft, Ende Juli übergibt sie das Amt: Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch. Joan Minder/13Photo

Frau Ineichen-Fleisch, Sie haben neulich gesagt, in den letzten elf Jahren als Seco-Direktorin sei es eine Ihrer Haupt­aufgaben gewesen, Regulierungen zu verhindern. Sind Sie gegen jegliche staatliche Eingriffe in die Wirtschaft?
Nein, aber ich bin gegen schädliche Eingriffe in die Wirtschaft. Nicht jede Regulierung, die vorgeschlagen wird, ist schlecht. Aber viele Vorschläge sind zu belastend für die Wirtschaft, ergeben keinen Sinn – oder ihr Kosten-Nutzen-Verhältnis stimmt nicht.

Ihr ehemaliger Vorgesetzter, Bundesrat Johann Schneider-Ammann, soll einmal gesagt haben, er habe 90 Prozent seiner Zeit dafür aufgewendet, Unsinn abzuwehren, den seine Regierungs­kollegen vorgeschlagen hätten. Trifft das auch auf Sie zu?
So hoch ist die Quote bei mir nicht.

Zur Person

Die Juristin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch ist seit 2011 sowohl Direktorin des Staats­sekretariats für Wirtschaft (Seco) als auch der Direktion für Aussen­wirtschaft. Zuvor war sie Botschafterin und Delegierte des Bundesrats für Handels­verträge und Chef­unterhändlerin der Schweiz bei der Welthandels­organisation WTO. Sie tritt per Ende Juli als Staats­sekretärin zurück.

Linke Kritiker werfen dem Seco vor, es folge stur einer neoliberalen Agenda.
Diesen Vorwurf höre ich regelmässig. Er beweist, dass wir keine Wind­fahnen sind, sondern geradlinig unseren Über­zeugungen folgen. Das macht mich stolz.

Sie waren Staats­sekretärin unter den Bundesräten Schneider-Ammann und Guy Parmelin: Wer folgte dabei wem?
Unabhängig davon, ob sie der CVP, der FDP oder der SVP angehören: Ich denke nicht, dass eine Behörde wie das Seco ihren Departements­chefs eine Linie aufzwingen kann. Dennoch sind uns die Bundesräte in den meisten Fällen gefolgt, weil wir unsere bevorzugten Optionen stets gut begründeten.

Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine stand das Seco in den letzten vier Monaten stark in der Kritik. Bei der ersten Bundesrats­sitzung nach dem Angriff Russlands konnte die Regierung keine Sanktions­beschlüsse fassen, weil vom Seco keine Anträge vorlagen. Hat Ihr Staats­sekretariat versagt?
Die EU präsentierte ihr erstes, einschneidendes Sanktions­paket am Freitagabend, dem 25. Februar. Erst dann wurde wirklich klar, welche Massnahmen Brüssel ergreift. Vorher wussten wir das nicht.

Sie hätten das doch antizipieren können.
Die EU lässt sich bei Sanktions­massnahmen grundsätzlich nicht in die Karten blicken. Auch bei den weiteren gegen Russland beschlossenen Sanktionen wurden wir als Drittland nicht vorab informiert. Sobald an jenem Freitag­abend Ende Februar klar war, in welche Richtung es geht, arbeiteten wir das ganze Wochen­ende durch, damit sich der Bundesrat am Montag den EU-Sanktionen anschliessen konnte. Das war Licht­geschwindigkeit.

Hat das Seco seither genug getan, um die Russland-Sanktionen umzusetzen?
Davon bin ich überzeugt. Allerdings sind beim Blockieren und Melden von Vermögen in erster Linie die Banken gefordert.

Stehlen Sie sich damit nicht aus der Verantwortung?
Nein, denn wir sind ja nicht untätig: Wir prüfen derzeit in einigen Fällen die Einleitung eines Verwaltungs­strafverfahrens. Aber wir können nicht von uns aus ohne Anhalts­punkte nach sanktionierten Besitz­tümern suchen. Für fishing expeditions gibt es keine gesetzliche Grundlage.

Sind die Sanktionen sinnvoll?
Wir beteiligen uns an den Sanktionen, um Solidarität mit der Ukraine sowie den westlichen Ländern und der EU zu signalisieren. Die Wirksamkeit von Sanktionen ist – wenn überhaupt – nur sehr schwierig abschätzbar. Oft sind sie aber die einzige Option.

Solidarität mit der EU? Die Beziehung zwischen Bern und Brüssel ist zerrüttet, seit der Bundesrat die Verhandlungen für ein institutionelles Rahmen­abkommen abgebrochen hat.
Wir befinden uns tatsächlich hier in einer schwierigen Lage: Die Europa­politik ist eines der wichtigsten Themen für die Schweiz. Wir können noch so viele Freihandels­abkommen mit asiatischen und südamerikanischen Staaten abschliessen, die Beziehungen zur EU bleiben essenziell.

In der Europapolitik sind das Aussen- und das Justiz­departement feder­führend. Warum hat das Seco dieses wichtige Dossier aus der Hand gegeben?
Von 1961 bis 2012 behandelte das sogenannte Integrations­büro, das sowohl beim EDA (Departement für auswärtige Angelegenheiten; Anm. der Red.) als auch bei uns im Wirtschafts­departement angesiedelt war, die politischen und wirtschaftlichen Aspekte der europäischen Integration. Dass der Bundesrat das Integrations­büro dann exklusiv dem EDA zugeteilt hat, finde ich bis heute jammer­schade. Das hat die Europa­politik geschwächt. Ein Vorschlag hat in der Landes­regierung viel mehr Gewicht, wenn er von zwei Bundes­räten eingebracht wird – erst recht, wenn sie zwei verschiedenen Parteien angehören, wie das derzeit mit Ignazio Cassis und Guy Parmelin der Fall wäre.

Dennoch hätte das Seco die Möglichkeit, gemeinsam mit den Sozial­partnern nach Lösungen zu suchen und so einen grossen Stolper­stein auf dem Weg zu einem Abkommen aus dem Weg zu räumen.
Selbstverständlich haben wir das versucht. Die Position der Gewerk­schaften und des Gewerbe­verbands aber ist unbeweglich: Sie wollen die flankierenden Massnahmen komplett von der dynamischen Weiter­entwicklung mit dem EU-Recht ausklammern.

Zur Recherche: Die lahmste Behörde der Schweiz

Das Staatssekretariat für Wirtschaft könnte die wichtigste und einfluss­reichste Bundes­behörde sein. Doch es macht in allen grossen Krisen der Gegenwart eine schlechte Falle – in der Pandemie, der Europa­politik und bei Russlands Krieg in der Ukraine. Warum? Hier gehts zum Beitrag.

Sie kommen aus der Handels­diplomatie und sind stark auf den Freihandel und die Welthandels­organisation WTO fokussiert. Kritikerinnen monieren, Sie hätten andere Bereiche wie etwa die Sozial­partnerschaft vernachlässigt.
Als ich die flankierenden Massnahmen in den Verhandlungen gegenüber der EU vertrat, hatte ich mit den Sozial­partnern Kontakt. Gerne hätte ich mich noch mehr mit ihnen ausgetauscht. Da ich nebst dem Amt auch die Direktion für Aussen­wirtschaft leite, habe ich dort mehr Aufgaben übernommen als in der Arbeitsmarkt­politik. Dort habe ich jedoch mit Boris Zürcher für eine sehr gute Leitung gesorgt.

2018 hat der Bundesrat Alt-Staats­sekretär Mario Gattiker vom Justiz­departement damit beauftragt, mit den Sozial­partnern einen Kompromiss zu suchen. Ein Misstrauens­votum gegenüber dem Seco?
Mario Gattiker wurde als unabhängiger Vermittler eingesetzt, weil er bereits zur Lösung der Umsetzung der Massen­einwanderungs­initiative – dem Inländervorrang – beigetragen hatte. Aber: Auch er hat es nicht geschafft, bei den flankierenden Massnahmen mit den Sozial­partnern einen Kompromiss auszuhandeln.

Warum ist das so schwierig?
Weil sich die Sozialpartner – zumindest bis jetzt – überhaupt nicht kompromiss­bereit gezeigt haben. Die EU war in den Verhandlungen nicht flexibel, wir sind es aber auch nicht. Klar ist: Wir wollen Lohnschutz, da sind wir uns mit den Gewerkschaften und dem Gewerbe­verband einig. Die Frage ist, wie wir ihn am besten gewährleisten können und trotzdem Bereitschaft zu echten Verhandlungen signalisieren.

Flexibilität braucht es – vor allem während globalen Krisen wie der Pandemie – auch von der Bundes­verwaltung. Als sich das Coronavirus im Februar 2020 in der Schweiz ausbreitete, wollte das Seco zunächst finanzielle Unter­stützung im Umfang von bloss 15 Millionen Franken sprechen. Politiker kritisieren, das Seco sei zu Beginn der Pandemie – im Gegensatz zum Finanz­departement – auf der Bremse gestanden.
Das stimmt nicht. Wir haben den kantonalen Arbeits­ämtern bereits Mitte Februar 2020 mitgeteilt, dass die Pandemie ein Grund für Kurzarbeit sein wird. Danach haben wir uns sehr intensiv vorbereitet. So tauschten wir uns etwa schon vor dem Lockdown mit den Vertretern der Tourismus­industrie und der Kultur aus. Wenige Tage nachdem der Bundesrat die Menschen dazu aufrief, zu Hause zu bleiben, trat ich in der «Arena» des Schweizer Fernsehens auf und erklärte, wie die Stützungs­massnahmen funktionieren. Die Covid-Kredite waren dann auch schon fast parat: das grösste Liquiditäts­programm der Schweizer Geschichte, aufgegleist innerhalb von zwei Wochen.

Die Zürcher Regierungs­rätin Carmen Walker Späh hat das Seco in der NZZ jüngst scharf kritisiert. Und auch das Bundes­gericht sagt: Die Einschätzung Ihrer Behörde, dass keine Kurzarbeits­gelder für Ferien ausbezahlt werden dürfen, war falsch.
Wir akzeptieren den Entscheid des Bundes­gerichts. Deshalb haben wir nun ein Tool geschaffen, damit die Anträge der Firmen administrativ unkompliziert abgewickelt werden können. Wir bedauern es hingegen, wenn Differenzen mit einzelnen Kantonen medial ausgetragen und unseres Erachtens teilweise falsch dargelegt werden.

Wegen Ihres Fehlers musste das Parlament mehr als 2 Milliarden Franken nachträglich sprechen.
Diese hohen Kosten sind ein Grund dafür, warum wir der Ansicht waren, dass bei Monats­löhnen für Ferien keine Kurzarbeits­gelder zur Verfügung gestellt werden sollten. Auch während einer Pandemie ist es unsere Aufgabe, zu gewähr­leisten, dass keine Steuer­gelder ungerechtfertigt ausgegeben werden.

Nun droht eine Wirtschafts­krise, weil die Preise steigen und sich das Wachstum abschwächt. Wie bereitet sich das Seco darauf vor?
Wir verfolgen, wie sich die Löhne und die gesamte Wirtschaft entwickeln. Doch es ist Aufgabe der National­bank, die Inflation zu bekämpfen. Klar ist: Mit einer Teuerung von 2,9 Prozent sind wir in der Schweiz im internationalen Vergleich nach wie vor gut unterwegs.

Was heisst das konkret?
Es gibt für uns noch keinen Grund, zu intervenieren. Der Bundesrat hat uns beauftragt, die Energie- und Lebens­mittel­preise zu beobachten und allfällige Massnahmen für den Herbst vorzubereiten. Wenn wir etwas machen, dann zielgerichtet. Nicht mit der Giesskanne.

Sie treten per Ende Juli ab. Welche Heraus­forderungen werden auf Ihre Nachfolgerin zukommen?
Die Schweiz pflegt als Brücken­bauerin nach wie vor gute Beziehungen zu allen Ländern. Die Welt teilt sich aber zunehmend in verschiedene Macht­blöcke auf. Die Frage stellt sich, ob wir uns nicht für einen Block werden entscheiden müssen. Ich kann mir vorstellen, dass in Zukunft etwa sicherheits­relevante Technologie nur noch innerhalb eines Blockes gehandelt wird. Und dann ist klar, wo wir hingehören: zu Europa. Wir haben keine Chance allein gegen die USA und China.