«jetzt erst kann ich darüber sprechen»
Marianna Kijanowskas Gedichtband zum Massaker von Babyn Jar 1941 gehört zu den zentralen Werken der ukrainischen Gegenwartsliteratur. Wir veröffentlichen erstmals Auszüge in deutscher Übersetzung.
Von Marianna Kijanowska (Originalgedichte und Rezitation), Claudia Dathe (Übersetzung und Textauswahl) und Maria Skliarova (Illustration), 05.07.2022
jetzt erst kann ich darüber sprechen
ich habe nie gedacht dass krematorium licht heisst
jetzt wo es eine ewigkeit und noch ein bisschen länger her ist
in der grossen und der kleinen schaufel
bin ich in die kindheit eingegangen und habe noch einmal die katze gestreichelt
die mein vater von den nachbarn geholt hatte
grossmutter nechama sagte: lass sie
lass sie ruhig zusammen gross werden
jetzt habe ich zum ersten mal verstanden und erfahren
dass krematorium licht heisst
das mich dreiundvierzig genötigt hat
verzehrend und grausam
und jetzt erst kann ich darüber sprechen
oder jetzt endlich kann ich darüber sprechen
dass ich als sie zweiundvierzig mit dem maschinengewehr auf uns gefeuert haben
immerhin bis eintausendeinhundertachtundzwanzig gekommen bin
eintausendeinhundertachtundzwanzig sind mit mir gegangen
eintausendeinhundertachtundzwanzig sind mit mir gefallen
ich bin dynamit geworden und explodiert
ich habe erde über alle geworfen und bin ausgebrochen
bald in der mitte der schlucht wo das wasser den krater ausgespült hatte
eintausendeinhundertneunundzwanzig ist eine einfache zahl
ich bin einfach
für bald neunzehn minuten zu einer zahl geworden
eintausendeinhundertachtundzwanzig sekunden weiss ich nicht ob ich lebe
weiss ich nicht ob ich atme in den himmel in die kindheit eingehe
jetzt erst kann ich darüber sprechen
mein bruder levi hat geschrien die kirschen, schau mal was für kirschen
er hat mich mit kernen beschossen und ich ihn
jetzt noch brennt es in der brust ich raschle und rausche verwurzelt
jetzt erst kann ich darüber sprechen
oder anders und jetzt endlich kann ich darüber sprechen
erst sind wir ziemlich lange gelaufen und dann stehengeblieben
eine ewigkeit und noch ein bisschen länger hat das gedauert
dann haben sie uns gesagt dass manche wie durch ein wunder entkommen sind
auch ich bin entkommen habe überlebt
und jetzt sage ich ihnen ein jude
hat «Holocaust» nach dem Holocaust geschrieben ich kann
jetzt erst darüber sprechen
jetzt erst kann ich darüber sprechen
jetzt erst kann ich darüber sprechen
jetzt erst kann ich darüber sprechen
jetzt erst kann ich darüber sprechen denn
jetzt erst kann ich darüber sprechen
ich bezeuge
Rezitation von Autorin Marianna Kijanowska im ukrainischen Original
Zum Essay: Stimmen gegen das Schweigen
Warum Marianna Kijanowskas Gedichtband über Babyn Jar zu den wichtigsten Werken der ukrainischen Gegenwartsliteratur gehört. Eine literaturhistorische Einordnung. Hier geht es zum Beitrag.
unter meiner zunge liegt eine kugel genauer eine hülse geschmack von metall
sie gibt das gefühl von verwandlung der himmel kommt mir entgegen
wie eine ader unter der haut schlägt das herz so schlägt das herz vor sich hin
hab keine bange wein bloss nicht sage ich zu ihm du musst atmen reden
sie schreien schnella, schnella dabei fällt das laufen so schwer besonders
das laufen wenn du weisst das war’s und der geruch des todes frisst sich in die krusten
auf dem körper die wunden sie heilen nicht und es ist ein wunder
dass ich überhaupt das bein heben schritte machen kann überall leichen
von allerlei menschen barfuss fast alle sie streifen den getöteten die schuhe ab
ich kenne es schaue nicht mehr weg und manchmal möchte ich sogar wissen
warum sie zum beispiel eine frau hinterrücks erschossen haben die lieben wollte
weil eine frau lieben will vor allem wenn sie gern singt
dieser rauch da vorn röchelndes feuer da liegt noch ein körper ein kind
da muss ich doch wegsehen ein ganz kleines kind ohne mutter
vielleicht hätte ich es hochgenommen und jetzt ist mir jede minute
wie eine kugel unter der zunge genauer wie ein nagel im herz ich gehe auf den spuren von
hesekiel aron ora adam micha jehuda sara
direkt vor mir treten sie in den himmel hinter die wolken da
Rezitation von Autorin Marianna Kijanowska im ukrainischen Original
ich wäre auf dieser strasse gestorben oder auf der ums eck
aber im konvoi geht das nicht du brauchst nicht zu bitten
im koffer sind keine normalen sachen ich habe genommen
was man eben so braucht auf dem gang in den letzten tagen
schlüssel und briefe fotos eine brosche und geld
kein richtiges geld bloss ein paar scheine
wir ziehen durch den sommerstaub wie durch asche
umgehen krater körper und spuren von unrat
sie fielen ins haus ein nehmt die wertsachen haben sie befohlen
ich nehme eine warme decke bisschen brot bisschen wasser
der esesmann verzieht das pockengesicht zum ärmlichen zimmer
das plötzlich einsackt für immer wie ich
und jetzt gehe ich für immer verstehe und sehe
uns ganz ausgeliefert im licht der dichten scheide
ich wäre auf dieser strasse gestorben und deswegen weine ich nicht
den koffer stelle ich auf dem pflaster ab ich trage nur meinen namen
ich bin rahel
Rezitation von Autorin Marianna Kijanowska im ukrainischen Original
in die schlucht sagen die mit den waffen zu denen ohne
wir führen euch hin und dann werdet ihr sehen dann
kommt viel interessantes beine im sumpf
zertrümmerte rippen und schulterknochen zerrissene schals
ein platz um die kleider abzulegen die wertsachen
fein säuberlich getrennt die absätze für sich
die jungen dazwischen die hochbetagten
nackte körper schwarze wunden blutige kuppen
ich bin nicht mehr der alte oder bloss ohne glauben
den habe ich schon früher verloren als sie mich retteten
jetzt kann ich mich nur noch meiner haut entledigen
um schmerz aufzusaugen und dreistes leiden
es geht nicht um uns wir leiden heiser und dumpf
jeder für sich und jeder hat für die eigene fäulnis
eine zuflucht und zeit die knapp bemessen ist
sie kennen uns und töten uns ausnahmslos alle
ich habe keine angst vor einer kugel oder etwas anderem
schmerz bin ich mehr als schmerz das herbstliche wetter
hätte ich gott doch lebewohl gesagt
so muss ich glauben ohne rettung
Rezitation von Autorin Marianna Kijanowska im ukrainischen Original
ich sage das noch ich nehme das noch an
gesagt und nicht gesagt als ginge ich ins meer
krieg heisst fremde gefilde und schmerz schreckliches dunkel
und heisst auch verzweiflung und nackten kurzen kummer
ich war gestern am dnipro eigentlich nicht am dnipro
habe einfach aus der ferne auf wasser und wellen geschaut
das rötliche laub der bäume brannte und die alten boote
lagen unter wasser und faulten und die weissen möwen
suchten vergeblich einen zeugen für ihren vogelfremden schrei
beweinten die angler und einfach das verderben der stadt
und ich schluchzte abmenschlich und biss mich auf die zunge
und jetzt sage ich: die anwesenheit ist immer doppelt
durchbohrte kettenglieder sind wir: durchbohrt von der kugel oder
aufgereihtes glied und keiner ist für sich
und die sonne steht so hoch als wäre sie aufgestiegen
um die stadt von oben zu sehen und wie wir darin sterben
und wie wir zum fluss gehen zum schauen
weil wir getötet werden adelka miriam debora
liegen erschossen in der schlucht ich bin so traurig
das herz ist ein stein und die seele ist durchsichtig
und wird dünner und dünner und das heisst tod
und sein wesen ist doppelt denn der tod ist eigentlich zusammen
mit adelka und debora mit miriam solange der himmel steht
und der dnipro und die steilhänge in den erfahrungen jenseits der zeit
Rezitation von Autorin Marianna Kijanowska im ukrainischen Original
Zur Autorin und zur Übersetzerin
Marianna Kijanowska studierte Ukrainistik an der Universität Lwiw (Lemberg) und gehörte in studentischen Jahren der Dichterinnengruppe MMJuNNA an. Marianna Kijanowska ist als Autorin, Übersetzerin und Literaturkritikerin tätig. 2011 rief sie den Literaturpreis «Grosser Igel» ins Leben, der gelungene Kinderbücher prämiert. Sie hat zahlreiche Gedichtbände in ukrainischer Sprache veröffentlicht, neben «Babyn Jar. In Stimmen» (2017) den Band «Briefe aus Lemberg» (2016) zusammen mit Marianna Sawka und «Lebende Verwandlungen» (2020). Sie übersetzt aus dem Englischen, Polnischen und Russischen.
Claudia Dathe studierte Übersetzungswissenschaft (Russisch, Polnisch) und Betriebswirtschaftslehre in Leipzig, Pjatigorsk (Russland) und Krakau. Nach längeren Auslandstätigkeiten in Kasachstan und der Ukraine arbeitet sie seit 2005 als literarische Übersetzerin und Kulturmanagerin. Sie übersetzt Literatur aus dem Russischen und Ukrainischen, unter anderem von Andrej Kurkow, Serhij Zhadan, Ostap Slyvynsky und Yevgenia Belorusets.
Dathe hat für die Republik auch einen Essay zu Marianna Kijanowskas Gedichtband über Babyn Jar geschrieben: Warum er zu den wichtigsten Werken der ukrainischen Gegenwartsliteratur gehört. Eine historische Einordnung. Hier geht es zum Beitrag.