Showdown

Erleben wir die letzten Monate der Demokratie in Amerika? Oder die letzten von Donald Trump in Freiheit? Oder gleichzeitig beides?

Von Constantin Seibt, 04.07.2022

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
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Jon Burgerman

John Adams, der spätere zweite Präsident der USA, brachte den Grund­gedanken der amerikanischen Verfassung 1780 auf die berühmte Formel: «A government of laws and not of men».

Dass die Gesetze, nicht die Köpfe entscheiden, war damals ein radikal neues Konzept. Und ein erfolgreiches. Die amerikanische Verfassung, geschrieben 1787 und zwei Jahre später umgesetzt, ist die älteste der Welt, die im Kern unverändert in Kraft ist.

Bis heute steckt ein Stück Papier im Herzen der Vereinigten Staaten. In anderen Ländern schwören Staats­diener auf Gott, auf Vater- oder Mutter­land, auf Präsident oder Königin. In den USA leistet man seinen Eid auf die Verfassung.

Ihr wichtigstes Ziel war die Frei­heit von Tyrannei – die Macht des Einzelnen zu brechen, aber auch der Mehr­heit. Ihre Verfasser waren fast alle Puritaner, die wegen religiöser Verfolgung aus Europa geflohen waren. Als Angehörige einer Minder­heit trauten sie den Buch­staben mehr als den Menschen.

Bis heute regelt das Recht fast alles: Die USA ist das Land von absurden Schadenersatz­summen, ellenlangen Formularen, einem byzantinischen Gerichts­wesen und einem Obersten Gerichts­hof, der in politischen Fragen fast allmächtig ist. Kein Wunder, haben die Vereinigten Staaten die mit Abstand höchste Anwalts­dichte der Welt.

Fast 250 Jahre hielt das System.

Bis sich zeigte, dass die beste Strategie einer zum Staats­streich entschlossenen Minder­heit darin besteht, dieses Rechts­system zu kapern. Um damit zu verwirklichen, was die Gründer­väter verhindern wollten: die Tyrannei einer einzigen Partei, eines einzigen Mannes.

Der Ausschuss

Vielleicht eine der letzten Hoffnungen ist der Untersuchungs­ausschuss zum 6. Januar 2021. Obwohl eigentlich niemand viel von ihm erwartet hatte.

Das, weil die Fakten bekannt waren: Präsident Trump hatte ohne jeden Beweis behauptet, seine Wieder­wahl nur wegen Betrugs verloren zu haben. Schliesslich stürmte am 6. Januar – dem Tag der zeremoniellen Stimmen­zählung im Kongress – ein Mob das Kapitol. Fünf Leute starben.

Am Morgen darauf schien Trump erledigt. Dutzende Partei­funktionäre und Mitarbeiter brachen mit ihm. Die letzten Getreuen rieten ihm, die Nieder­lage einzu­gestehen, um sein Bild in der Geschichte nicht völlig zu ruinieren.

Trump tat es nicht. Und bewies Instinkt. Heute glauben 70 Prozent der Republikaner, dass die Wahl gestohlen wurde. Fast alle abtrünnigen Partei­funktionäre kamen auf den Knien zurück. Die wenigen anderen wurden zu Verräterinnen erklärt.

Schon im Jahr darauf wurden die verhafteten Teilnehmer des 6. Januar von Medien und Beobachtern am rechten Rand wie Steve Bannon zu «Patrioten» und «politischen Gefangenen». Die republikanische Partei­leitung entschied sich, jede weitere Unter­suchung zu boykottieren.

Nur zwei abtrünnige Republikaner sitzen im Untersuchungs­ausschuss, geschnitten von ihren Kolleginnen: Liz Cheney und Adam Kinzinger.

Das erwies sich als Fehler. Denn so konnte der Ausschuss ungestört arbeiten. Er befragte über 1000 Zeuginnen, heuerte TV-Profis an und lieferte etwas Unerwartetes: keine ausufernden Erklärungen und Debatten. Sondern fünf­mal je zwei Stunden blendendes Gerichts­fernsehen.

Ein Genie­streich des Ausschusses war zunächst einmal, dass er das Big Picture lieferte. Hundert­tausende Artikel, Tweets und TV-Beiträge hatten in den Tagen vor und nach dem 6. Januar die USA geflutet – über Trumps Sieges­erklärung noch in der Wahl­nacht, seine fast täglich wechselnden Betrugs­theorien, seine über 60 verlorenen Prozesse, seine Rede vor der Erstürmung des Kapitols.

Der Aus­schuss lieferte das ganze Bild: Dass Prozesse, Polemiken, Druck­versuche und der Sturm aufs Kapitol nicht die spontanen Aktionen von Dumm­köpfen waren, sondern ein Teil eines mehr­dimensionalen, breit angelegten, ausgeklügelten Plans. Der darin bestand, die Lücken im amerikanischen Wahl­system für einen Staats­streich zu nutzen.

Die wichtigste Strategie dabei war: Chaos verbreiten. Um dadurch die offizielle Zählung der Stimmen im Kongress zu verschieben. Und die Neuzählung der Stimmen an die umstrittenen Bundesstaaten selbst zu übertragen: an die republikanisch dominierten Parlamente. Zwecks «Prüfung». Und Änderung.

Plus womöglich mit dem Argument «Ruhe statt Chaos» an den Obersten Gerichtshof zu gelangen. Da könnte man bereits auf die Unter­stützung von zwei der neun Richter zählen, so Trumps Stratege, der Rechts­professor John Eastman.

Es war eine abenteuerliche Strategie: Aber eine, an der Hunderte von Profis mitarbeiteten: Gras­wurzel-Organisatoren, lokale republikanische Partei­chefs, alternative Wahl­männer und republikanische Abgeordnete im Kongress, wie etwa der Senator Ted Cruz, der die Wahlstimmen selbst nach dem Sturm auf das Kapitol für ungültig erklären lassen wollte.

Nicht zuletzt stützte sich Trump auf eine Armee von Juristinnen. Die lassen sich grob in drei unter­einander verfeindete Lager sortieren: Das «Team Normal» bestehend aus Profis im Weissen Haus; das «Team Crazy» mit Professor John Eastman und Trumps persönlichem Anwalt Rudy Giuliani; das «Team Kraken» mit der Anwältin Sidney Powell und Trumps ehemaligem Sicherheits­berater Michael Flynn. «Team Kraken» schlug Trump vor, das Militär­recht auszurufen und die Wahl unter bewaffneter Aufsicht zu wieder­holen.

Zwei Sachen waren überraschend:

Erstens – und das hätte ihm niemand zugetraut: Der Umsturz­versuch war wahrscheinlich die komplexeste Aktion, die Trump in seiner Regierungs­zeit zustande brachte. Auch persönlich war es seine härteste Arbeit. Und wie man fürchten muss: sein historisches Vermächtnis.

Zweitens scheiterte dieser Plan weit knapper, als man damals vermutet hatte.

Unter Eid

Dass der Putsch nicht klappte, lag an einer Hand­voll Republikaner. Die sich weigerten, trotz Drohungen des Präsidenten die Wahl für ungültig zu erklären.

Es war der zweite Genie­streich des Komitees: Fast ohne Ausnahme waren die Zeugen enge Mitarbeiter des Präsidenten oder lebens­lange, ultra­konservative Republikanerinnen.

Keiner hatte damals die Öffentlich­keit gewarnt. Doch nun, unter Eid, sprachen sie völlig anders als je zuvor: klar, knapp, ohne Schwurbel. So beschrieb Trumps ehemaliger Justiz­minister William Barr Trumps Lawine an Betrugs­vorwürfen trocken als «Bullshit» und den Präsidenten als «abgekoppelt von der Realität».

Trumps Wahlkampf­manager Bill Stepien und Jason Miller sagten, dass sie Trump davor gewarnt hätten, den Sieg schon am Wahl­abend zu verkünden. Aber Trump habe statt­dessen auf den «offensichtlich angetrunkenen» Rudy Giuliani gehört.

Dazu veröffentlichte das Komitee die Recherche, dass Trump mit seiner Klage über Wahl­betrug ein glänzendes Geschäft gemacht hatte: Sein «Fonds für Wahlgerechtigkeit» nahm 250 Millionen Dollar ein – existierte aber nie. Das Geld verschwand in diversen Pro-Trump-Kassen.

Ausserdem veröffentlichte das Komitee Material, das zeigte, wie der republikanische Abgeordnete Barry Loudermilk am 5. Januar späteren Protest­teilnehmern eine mehr­stündige Tour durch das Kapitol durchgeführt hatte – mit dem Schwer­punkt Treppen­häuser, Flucht­tunnels und Sicherheits­posten.

Und das war nur die zweite Komitee­sitzung.

An der dritten wurde verhandelt, wie Trump zumindest in Kauf nahm, seinen Vize­präsidenten Mike Pence umbringen zu lassen. Nachdem der Mob das Kapitol gestürmt hatte, forderten die Leute im Weissen Haus den Präsidenten auf, seine Anhänger zu beruhigen. Trump tweetete stattdessen: «Mike Pence hatte leider nicht den Mut, zu tun, was er hätte tun sollen, und unsere Verfassung zu schützen.»

Worauf die Menge rief: «Hängt Mike Pence! Hängt Mike Pence!»

Was Trump laut Komitee wie folgt kommentierte: «Vielleicht haben unsere Anhänger die richtige Idee.» Und: «Mike Pence hat es verdient.»

Als der Vize­präsident evakuiert wurde, verpasste ihn der Mob um wenige Meter.

Pences Vergehen war, dass Trumps Anwälte (genauer: sein «Team Crazy») der Meinung waren, dass der Vize­präsident als zeremonieller Stimmen­zähler das Recht habe, die Ergebnisse einzelner Staaten nicht zu zählen. Während Pences Anwälte bestritten, dass es die Ansicht der Verfassung sei, einem einzigen Politiker die Wahl­entscheidung zu überlassen.

Schon in den Tagen vor dem 6. Januar sprach Donald Trump, so sein ehemaliger Anwalt Michael Cohen, wie ein Mafiaboss. Wenn Mike Pence nicht das Richtige tun würde, «ist er nicht mehr mein Freund».

Diese Sprache wurde durchaus verstanden. Pences Bürochef Marc Short warnte am Vortag des 6. Januar den Geheim­dienst, Mike Pences Leben könnte bedroht sein – durch den Präsidenten. Was auch so war.

Das war die dritte Sitzung.

In der vierten Sitzung erzählten die stock­konservativen Republikaner Rusty Bowers aus Arizona und Brad Raffensperger aus Georgia, wie sie von Trump über Wochen unter Druck gesetzt worden waren, das Resultat zu kippen. Zu Raffensperger, er war Innen­minister im Swing-State, sagte Trump am Telefon: «Finden Sie einfach 11’780 Stimmen.»

Beide lehnten ab, indem sie sich auf die Verfassung beriefen. Bowers sagte: «Sie wollen, dass ich gegen meinen Eid handle. Aber ich breche meinen Eid nicht.» Und Raffensperger: «Die Zahlen sind die Zahlen.»

In der fünften Sitzung berichtete die ehemalige Spitze des Justiz­ministeriums, wie Trump kurz nach Weihnachten zu seinem kurzzeitigen Justizminister Jeffrey Rosen sagte: «Erklären Sie die Wahl für korrupt – und überlassen Sie mir den Rest.»

Rosen weigerte sich. Worauf ein Unter­gebener, ein Anwalt für Umwelt­fragen, sich ins Weisse Haus schlich und Trump den Vorschlag machte, die Wahl offiziell für korrupt zu erklären, wenn man ihn zum Justiz­minister mache.

Das überzeugte Trump. Am Nach­mittag des 3. Januar wurde der Umwelt­anwalt bereits als Justiz­minister im Telefon­logbuch des Weissen Hauses geführt. Doch kippte Trump seine Ent­scheidung nach einer mehrstündigen Sitzung erneut, weil ihm sämtliche Spitzen des Justiz­ministeriums mit sofortigem Rück­tritt drohten.

(Der Höhe­punkt des Gesprächs war übrigens der Moment, als der Vize-Justiz­minister dem Anwalt für Umwelt­fragen an den Kopf warf: «Sie sind ein Umwelt­jurist. Gehen Sie zurück in Ihr Büro – und wir rufen Sie, wenn wir irgendwo ein Öl­leck haben.»)

Zum Schluss teilte das Komitee mit, dass sechs in den Plan verwickelte republikanische Abge­ordnete bei Trumps Abschied (vergeblich) eine Begnadigung verlangt hatten. Ebenso wie Trumps Rechts­professor John Eastman, der per Mail schrieb: «Ich habe mich entschieden, auf der Begnadigungs­liste zu stehen, falls diese noch in Arbeit ist.»

Kurz: Das Komitee macht etwas wirklich Gefährliches für Trump – einen Kriminal­prozess.

Es bemühte sich um eine Beweis­kette, um Trump möglichst sämtliche Schlupf­löcher zuzu­nageln. Indem es ihn nicht als Dilettanten, Lügner oder Verrückten, sondern – wie einen Mafia­boss – als strategischen Kopf einer kriminellen Verschwörung porträtierte.

Damit zog es gleich zwei Männer zur Verant­wortung: Donald Trump und Merrick Garland, den amtierenden Justiz­minister.

Denn nur Garland hat die Möglich­keit, den ehemaligen Präsi­denten straf­rechtlich anzuklagen.

Laut Umfragen sind nach den ersten fünf Sitzungen 58 Prozent der Amerikanerinnen dafür, dass Trump der Prozess gemacht wird.

Und da ahnte noch niemand etwas von der sechsten Sitzung.

Metastasen

Die Frage ist, ob es nicht bereits zu spät ist, der Schlange den Kopf abzuschlagen.

Denn Trump hat längst überall Meta­stasen gebildet. Die «grosse Lüge» ist längst keine Ungeheuerlich­keit mehr, sondern Partei­doktrin: Es gibt kaum noch republikanische Politikerinnen, die erklären, Joe Biden sei der legitime Präsident.

Dafür umso mehr solche, die es als ihr wichtigstes politisches Ziel sehen, dass so etwas nie wieder passieren wird: eine gestohlene Wahl, was heisst: ein demokratischer Wahl­sieg.

Mitte Juni zählte die «Washington Post» von 170 Siegern bei republikanischen Primär­wahlen 108 explizite Anhänger der «grossen Lüge» vom Wahldieb­stahl – zusammen mit denen, die das Wählen per Gesetz schwieriger machen wollen, sind es rund 150.

Nicht zuletzt die Innen­minister der Bundes­staaten gelten als Schlüssel­figuren, weil sie die obersten Wahl­überwacher sind. Ein ehemaliger Privat­detektiv aus Alaska und heute QAnon-Anhänger, der unter dem Pseudonym Juan O Savin arbeitet, hat etwa ein schlag­kräftiges Netz republikanischer Kandidatinnen aufgebaut, die in Swing-Staaten dieses Amt übernehmen sollen. Mehrere haben die Unter­stützung von Trump. (Der, laut O Savin, noch immer Ober­kommandierender der amerikanischen Armee ist und versteckte Bot­schaften mittels der Kleider seiner Frau Melania sendet.)

Dazu schreiben fast alle republikanischen Bundes­staaten die Wahl­gesetze um – so wie übrigens auch die von Trump zur Wahl­fälschung gedrängten Bowers und Raffensperger.

Und beide – wie auch der ehemalige Justiz­minister William Barr – gaben an, dass sie 2024 bei einem Duell Trump gegen Biden wieder Donald Trump wählen würden.

Die Prognose drängt sich auf, dass es beim nächsten Coup kaum mehr Probleme mit verfassungs­treuen republikanischen Funktio­nären geben wird – weil die amerikanische Verfassungs­treue puritanisch ist: Sie folgt dem Buch­staben, nicht dem Geist. Und die Gesetze werden Paragraf um Paragraf den Republikanern angepasst.

Kurz: Die «grosse Lüge» ist die wahre Errungen­schaft der Trump-Präsident­schaft: Die Republikanerinnen haben end­gültig nicht mehr die Mehrheit als Ziel, sondern die Macht – also die richtigen Leute an der richtigen Stelle der komplexen Wahl­prozedur.

Die Gründer­väter Amerikas waren nicht paranoid genug. Sie fürchteten den Angriff von einer popu­listischen Mehr­heit – und versuchten, die politische Elite gegen sie abzuschirmen: durch Senat, Electoral College, den Supreme Court. Sie kamen nicht auf die Idee, dass die Elite eines Tages die Mehr­heit unter­drücken würde.

Was vor ein paar Tagen eintraf.

Brutstätten

Am Freitag, dem 24. Juni, kippte die republikanische Mehr­heit im Obersten Gerichtshof das nationale Recht auf Abtreibung und gab es an die einzelnen Bundes­staaten zurück.

Es war das erste Mal in der amerikanischen Geschichte, dass ein tief verankertes, lange sicher geglaubtes Grund­recht gekippt wurde.

Die konservativen Bundes­staaten hatten sich darauf bereits vorbereitet. Ganze 13 davon hatten vorab auto­matische Trigger­gesetze installiert, die es gestatteten, die Abtreibung teilweise schon am Tag nach dem Urteil des Supreme Court zu verbieten. Auch in den anderen republikanisch regierten Staaten ist mit der Abtreibung faktisch Schluss, weil Ärzte und Pharma­firmen die fehlende Rechts­sicherheit fürchten.

Von den 13 Trigger­staaten machen nur fünf eine Ausnahme bei Vergewaltigungen und Inzest.

Die Gouverneurin von South Dakota, Kristi Noem, begründete das wie folgt: «Mein Herz schlägt für jede Frau, die durch so eine Situation muss (…) – aber ich glaube, jedes Leben ist kostbar. (…) Und Wissen­schaft und Technik sind heute so viel weiter als vor 10, 15 Jahren, so dass wir wissen, welche Schmerzen das Baby im Bauch fühlt. (…) Ausserdem werde ich nie akzeptieren, dass eine Tragödie, egal wie schlimm, eine zweite Tragödie nach sich ziehen muss.»

Doch das alles ist nur der Anfang eines juristischen Albtraums.

  • Was ist mit der Pille danach? Missouri will den Handel damit als Drogen­deal definieren; in Louisiana stehen sechs Monate Gefängnis darauf.

  • Wenn eine Frau – zum Beispiel aus Texas – in einem anderen Staat abgetrieben hat und zu Hause eine Nach­behandlung braucht – dann muss sie zwischen Gesund­heit und Freiheit wählen.

  • Weil viele Fehl­geburten von einer Abtreibung ununter­scheidbar sind, werden sie in mehreren Staaten zum Kriminal­fall werden.

  • Bereits heute hat die Polizei in diversen Bundesstaaten wie Texas bei der Ermittlung von Abtreibungen vollen Zugriff auf Such­maschinen-, Reise- und Kredit­daten. Ebenso sind nicht nur Behörden, sondern auch Private berechtigt, Nach­forschungen anzustellen.

  • Noch weiter geht ein Gesetzes­vorschlag in Missouri: Privat­leute sollen berechtigt werden, gegen alle, die in irgend­einer Weise mit einer Abtreibung auch ausserhalb der Staats­grenzen zu tun hatten (egal ob als Arzt, Fahrer, Ratgeberin etc.), private Klage einzureichen. Und im Erfolgs­fall Zehntausend Dollar Kopf­geld zu kassieren. Ein Gesetz, das, wie der «New Yorker» schreibt, am ehesten mit dem Entlaufenen-Sklaven-Gesetz von 1793 zu vergleichen ist.

  • Das christliche Magazin «The Stream» sprach sich gegen übertriebene Grausamkeit aus. «Frauen sollen nicht ins Gefängnis. Aber sie sollen einen kurzen Aufenthalt in der Zwangs­psychiatrie machen. (…) Indem wir Abtreibung wie versuchten Selbst­mord behandeln, würdigen wir das Leben des Kindes.»

Schmutz und Chaos. Klar sind nur drei Dinge:

  1. Es wird mit den Gesetzen kein Ende nehmen: Das nächste Ziel für die Abtreibungs­gegner ist, dem Fötus ab der Zeugung voll­wertigen Rechts­status zu geben – was bei ungenügender Betreuung für die Mutter zu Straf- und Zivil­prozessen führen kann.

  2. Ebenfalls auf der Agenda steht – schon von Mike Pence gefordert – ein nationales Abtreibungs­verbot.

  3. Für viele Frauen wird das alles tödlich enden. Nicht nur bei illegalen Abtreibungen, sondern bei alltäglichen Komplikationen, weil Ärzte und Pharma­firmen die Patientinnen nicht mehr behandeln werden – aus Furcht vor Strafverfolgung.

Grausamkeit

Nach der Geburt ist das Leben der Kinder weniger wert.

Ein Halb­wüchsiger verbarrikadierte sich im Mai in der Primar­schule im texanischen Uvalde in zwei Klassen­zimmern und schoss mit einer Halb­automatik auf die Kinder. Die Einsatz­polizei rückte in voller Montur an. Und wartete über eine Stunde auf die Schlüssel des Haus­meisters.

Während die Polizei draussen wartete, verbluteten Kinder, andere beschmierten sich mit dem Blut der Leichen ihrer Freunde und verhielten sich reglos. Und draussen vor der Schule hielten weitere Polizisten unter­dessen die Eltern in Schach.

Als er ein paar Tage später gefragt wurde, was er den Eltern der erschossenen Kinder mitteilen wolle, sagte Ken Paxton, der General­staatsanwalt von Texas: «Ich bin überzeugt, dass Gott immer einen Plan hat. Und das Leben ist kurz, egal wie es läuft.»

Präsident Biden twitterte: «In den letzten zwei Jahr­zehnten wurden mehr Schul­kinder durch Schuss­waffen getötet als Polizisten und Soldaten im Dienst, zusammen­genommen. (…) Bei Gott, wie lange sollen wir der Schlachterei noch zusehen?»

Fakten­checker fanden heraus, dass Biden unter­trieben hatte: Es waren rund viermal so viel Kinder wie Soldatinnen und Polizisten.

Dann passierte ein kleines Wunder: Die Demokraten brachten mit ein paar Republikanerinnen, die nicht mehr zur Wieder­wahl stehen, ein paar milde Waffengesetze durch den Kongress.

Nur dass gleichentags – ein Tag vor der Abtreibungs­entscheidung – der oberste Gerichtshof ein seit 111 Jahren bestehendes Waffen­gesetz aus New York aufhob, das für das öffentliche Waffen­tragen Auflagen macht.

Ab sofort kann jeder in den USA öffentlich eine Handfeuer­waffe tragen.

(Die Polizisten von Uvalde müssen übrigens nicht viel befürchten. Weil Polizisten, selbst wenn sie ein Verbrechen begehen, laut oberstem Gerichts­hof nicht zivilrechtlich mit Schaden­ersatz belangt werden können. Man fürchtet, dass dann auf die Gemeinde­kasse zugegriffen würde.)

Sie meinen es ernst

Das Abtreibungs­urteil war ein politisches Signal. Die rechte Minderheit ist stark genug, die Macht zu übernehmen.

Es spielt keine Rolle, dass die breite Mehrheit das Recht auf Abtreibung befürwortet. Und keine Rolle, dass die Republikaner in sieben der letzten acht Präsidentschafts­wahlen nie das Volksmehr erreichten (die Ausnahme war 2004 George W. Bush versus John Kerry).

Eine Rolle spielt nur: die nackte Macht. In der wichtigsten Schalt­zentrale der USA, dem Supreme Court, haben die Republikaner aktuell eine 6:3-Mehrheit. Dank drei Trump-Nominationen bestimmen damit sechs erzkonservative Richterinnen, gewählt auf Lebenszeit.

Ihre Urteilsbegründung war fast beleidigend flach: In der fast 250 Jahre alten Verfassung steht über Abtreibung kein einziges Wort. (Wie auch über Frauen nicht.) Also ist dieses Recht «erfunden» bzw. Sache der Politik. Also der Wähler in den einzelnen Bundesstaaten.

Das Urteil brach mit einer alten Tradition: Mit fast keinem Wort wurde im Abtreibungsurteil auf die Konsequenzen für die amerikanische Bevölkerung eingegangen: Was es für das tägliche Leben von Millionen Familien, für die Rechts­sicherheit, für die Wirtschaft, für den politischen Frieden bedeutet, wenn ein 50 Jahre geltendes Recht per Feder­strich gelöscht wird.

Traditionell betrachtete sich der Obergerichts­hof als Instanz, um die herum die Amerikanerinnen ihr Leben organisieren könnten. Deshalb hielten auch stock­konservative Richter das Recht auf Abtreibung in Kraft – weil die Leute damit planten.

Ausserdem, so argumentierte die unterlegene, dreiköpfige Minderheit, seien die Freiheits­rechte der Verfassung ungenügend: Weil etwa das Recht auf freie Rede noch keine Freiheit bringt ohne das Recht auf ein Privatleben: zu lieben, wen man will, eine Familie zu gründen, mit wem und wie man will, frei vom Staat persönliche Entscheidungen treffen zu können.

Doch diese Zeiten sind vorbei. Die radikale Mehrheit im Obersten Gerichtshof gibt sich nicht einmal mehr Mühe, ihre Begründungen auf Ausgewogenheit zu schminken.

In den nächsten Tagen veränderte das Oberste Gericht weiter die Vereinigten Staaten:

  • Es sprach dem Football­coach einer öffentlichen Schule das Recht zu, mitten auf dem Spielfeld zu beten. (Eine lange undenkbare Aufweichung der Trennung von Kirche und Staat.)

  • Es erlaubte der Republikanischen Partei von Louisiana eine Neueinteilung der Wahl­bezirke, die dafür sorgte, dass die stark gewachsene schwarze Bevölkerung nur in einem einzigen Bezirk eine Mehrheit hatte. (Ein dortiges Gericht hatte das verboten, weil «die Macht der schwarzen Stimmen damit ausgelöscht» würde.)

  • Es gab der Polizei von Oklahoma wieder vollen Zugriff auf die indianischen Stammesgebiete.

  • In einem vielleicht nicht nur die USA, sondern den Planeten verändernden Urteil strich der Gerichtshof dem US-Umwelt­ministerium das Recht, Kohle­kraftwerken ihren CO2-Ausstoss vorzuschreiben. Und beschnitt damit dramatisch die Rechte der Zentral­regierung auf Regulierung jeder Art.

  • Am Ende entschloss der Oberste Gerichtshof, noch diesen Herbst eine Klage zum Wahl­gesetz in North Carolina zu behandeln. Und wird – laut Prognosen – eine radikale neue Lesart der Wahl­gesetze durchsetzen: dass die Verfassungs­väter wollten, dass die Legislative der Bundes­staaten die alleinige, komplette Macht über den Wahlprozess hat. Was heisst: Die staatlichen Parlamente können inskünftig Wahlbezirke verändern, Wahlregeln neu definieren, Stimmen­zähler überwachen – und wenn der Ausgang nicht passt: andere Wahlmänner bestimmen. Und zwar, ohne dass Wahlbehörde oder Gerichte viel zu husten haben. Was heisst: Trumps krimineller Putsch­plan von 2020 kann bereits 2024 Gesetz sein.

Die weitere Agenda beschrieb der ultrarechte schwarze Richter Clarence Thomas in seiner Minderheits­meinung zum Abtreibungsurteil: Damit wäre es nun an der Zeit, auch die Gesetze zur gleich­geschlechtlichen Ehe, zu Verhütungs­mitteln und homo­sexuellen Handlungen zu über­arbeiten.

Tage später sprach sich in Texas Ken Paxton dafür aus, nun dafür zu kämpfen, dass der Oberste Gerichtshof sein Urteil von 2003 aufheben würde – sodass Texas homosexuellen Sex (und den aller LGBTQ-Menschen) wieder als Straftat verfolgen könnte.

Auf der Grundlage eines vom Obersten Gerichtshof kassierten texanischen Gesetzes von 1925.

Damit lag Paxton auf Parteilinie. Diesen Juni verabschiedeten 5000 Delegierte der Republikanischen Partei in Texas ein Programm, in dem Abtreibungs­verbot ohne Ausnahmen, radikal neue Wahl­gesetze, kein Geld mehr für Schulen mit Sexual­aufklärung (ausser zur Keusch­heit), die Schleifung aller Steuern ausser der Konsum­steuer sowie Zugang zu Waffen ohne jede Prüfung zum Ziel erklärt wurden. Nebenbei brand­markten die Delegierten darin Homo­sexualität «als unnatürliche Wahl der Lebens­weise» (die schwulen Republikaner durften diesmal keinen Stand aufstellen) – und Bidens Präsidentschaft erklärten sie für illegitim und bestanden darauf, dass Texas keine Bundes­gesetze aus Washington mehr befolgen wolle.

Kurz, es war ein Programm wie zuletzt im amerikanischen Bürgerkrieg. Nur ohne die explizite Befürwortung der Sklaverei.

Aber dazu fehlt nicht viel.

Die aktuelle republikanische Kandidatin für die Staats­anwaltschaft von Nevada schrieb über ihren demokratischen (schwarzen) Konkurrenten: «Man sollte ihn an einem verdammten Kran aufhängen.»

Demokratie töten

Das Paradoxe ist: Die republikanischen Pläne sind nicht populär. Eine breite Mehrheit der Amerikaner will weder Bürgerkrieg noch religiöse Sitten­gesetze noch eine autoritäre Herrschaft.

Eigentlich sollte republikanische Politik Selbstmord sein: Nur rund 30 Prozent sind von ihrer Machtübernahme begeistert.

Und trotzdem, so der Publizist Umair Haque, hat die amerikanische Demokratie kaum eine Chance gegen den Angriff einer autokratischen Minderheit. Und nicht nur sie.

Deshalb:

  1. Die radikale Rechte ist geeint. Ein sexueller Serienbelästiger wie Trump mit bibel­festen Pastoren, libertäre Staats­feinde mit bewaffneten Faschisten, gestandene Senatoren mit QAnon-Dummköpfen – sie alle arbeiten Hand in Hand wie Zwillings­brüder. Es gibt kein Thema, das ihre Einigkeit ernsthaft stört. (Auch weltweit ist die radikale Rechte ein Teich voller Klone: Der republikanische CPAC-Kongress fand dieses Jahr zum ersten Mal in Ungarn statt: Wo Viktor Orbán seine Rezepte erklärte, wie man ein Land vom Liberalismus kuriert.)

  2. Zwar wird es Streit geben bei der Verteilung der Beute – aber erst dann. Die radikale Rechte weiss, was sie will: Erst die Macht, dann die totale Kontrolle. Und was sie vernichten will: Wahrheit. Vernunft. Wissenschaft. Anstand. Konservative. Gemässigte. Linke. Und sie hat ein klares, politisches Ziel – Schritt für Schritt die liberalen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts auszumerzen: die Rechte für Frauen, Schwule, Schwarze.

  3. Die radikale Rechte ist glänzend organisiert: Jede Fuss­soldatin hat ihren Werkzeug­kasten. Die Rechte ist Profi geworden für Druck­kampagnen auf und neben dem Netz: für Empörungs­wellen, Shit­storms, Drohungen. Und sie hat ein perfekt geschlossenes Medien­system aufgebaut – Dutzende Buch­verlage, Hunderte Online­magazine, Zehntausende Internet­foren, bis hin zum Nachrichten­imperium von Fox News.

  4. Und ihre Partei­gänger sind mit Haut und Haar motiviert. Dazu gehört mehr als nur Begeisterung: Geld. Viel Geld. Sehr viel Geld. Rechtsradikale Milliardäre und Stiftungen sind weit grosszügiger als liberale: Sie haben ein florierendes Parallel­universum von Universitäten, Medien, Verlagen, Thinktanks aus dem Boden gestampft – und das bedeutet: Jobs! Jobs! Jobs! Rechtsradikal zu werden, heisst in den USA heute: eine finanziell vernünftige Lebens­entscheidung getroffen zu haben. Jeder Militante kriegt seine Armee, jeder Trottel kriegt sein Megafon. Buchverträge, TV-Auftritte, politische Kandidaturen, Vortrags­honorare, Spenden – und solang man in Sachen Radikalität laut genug dabei ist, bekommt man die Unterstützung aller anderen Radikalen.

Deshalb ist es auch ein Fehler, nicht zuletzt demokratischer Politikerinnen, anzunehmen, dass es in der aktiven amerikanischen Politik noch Konservative gibt. Es gibt nur noch Rechts­radikale, die sich durch interne Konkurrenz mit jeder weiteren Woche entschlossener in Richtung Faschismus bewegen.

Nicht zuletzt der Zwang zu immer grellerem Stil ist verheerend. Denn in jedem Rechts­staat gibt es etwas, das stärker ist als die härtesten Paragrafen: die Normen. Sie bestimmen das alltägliche Handeln: Stolz funktioniert quasi als Bonus, Scham wie eine soziale Steuer.

Im republikanischen Universum sind die Normen vollkommen eigene: Alles Grobe, Extreme, Verletzende wird zur Auszeichnung; Rücksicht – ganz besonders auf konservative Tradition – ist Verrat.

Und das ganze Paket ist sehr billig zu kopieren: Denn ist man dabei, ist Scham als Steuer gestrichen.

Im Grunde endet damit ein langes Zucht­programm, seit 1994 der Republikaner Newt Gingrich im Repräsentanten­haus die Strategie der totalen Sabotage erfand: Keine Kompromisse mit den Demokraten, auch keine vorteilhaften. Die Strategie benötigte einen Politiker­typ, dessen Job darin besteht, ihn nicht zu machen.

Die Republikanische Partei wurde so zu einem Biotop von Profi-Antipolitikern. Also seltsamen Misch­wesen: Aussenseiter-Opportunistinnen, Routine-Radikale, Fanatiker-Funktionäre.

Kein Wunder, konnten sie selbst einem unorganisierten Scharlatan wie Trump nichts mehr entgegensetzen.

Und kein Wunder, lockte der mit Geld­strömen kultivierte radikale Sumpf Scharlatane an. Wenig lässt sich leichter fälschen als Radikalität. Trump kandidierte 2016 zunächst ohne ernsthafte Absicht auf die Präsident­schaft: Sein Ziel war die Erweiterung seiner Einnahme­quellen.

Zu seiner Verblüffung entdeckte Trump, dass betrügerische Politik gegenüber betrügerischem Business den Vorteil hat, nicht zur Verantwortung gezogen zu werden: «Ich könnte mitten auf der Fifth Avenue stehen und jemanden erschiessen, und ich würde keine Wähler verlieren.»

Denn wird ein politischer Scharlatan erwischt, droht im republikanischen Universum meist nichts: Milliardäre wie Wählerinnen scheissen auf Korrektheit, solang die Radikalität stimmt.

Seit letzten Dienstag läuft das grösstmögliche Experiment dazu.

Der grösste Kriminalfall der USA

Das sechste Hearing des Ausschusses zum 6. Januar schlug alles. Nicht nur die anderen fünf Hearings. Sondern jeden anderen Gerichtsfall in den USA. Jeden. Anderen. Gerichtsfall.

Cassidy Hutchinson, die Zeugin, erst 25, war zuvor nur Insidern bekannt. Doch denen aus täglichem Kontakt. Sie war die rechte Hand der rechten Hand des Präsidenten Trump: die Bürochefin von Trumps Stabschef Mark Meadows.

Zuvor vermutete man, dass Trumps erstaunliche Immunität gegen eigene Skandale mit seiner erstaunlichen Offenheit zusammenhing. Trotz exakt 30’573 Lügen im Amt kündigte er fast alle Schurken­stücke offen an.

Sodass er den Radar von Presse und Publikum austrickste – man war zu sehr daran gewöhnt, dass politische Skandale im Geheimen stattfinden. Trumps beste Verteidigung für jeden Tabu­bruch war, dass einem alle sagten: Krass, aber nichts Neues.

Auch seinen Staats­streich kündigte er Monate im Voraus an: Falls er nicht gewinne, werde er nie das Resultat akzeptieren.

Auch das, was Hutchinson sagte, war im Weissen Haus kein Staats­geheimnis. Nur, dass es bis jetzt noch kein Mitarbeiter erzählt hatte:

  • Trumps Anwalt Rudy Giuliani wie Trumps Stabschef Mark Meadows wussten schon Tage im Voraus, dass der 6. Januar einen Sturm aufs Kapitol bringen würde. Giuliani kündigte an, dass Trump an der Spitze marschieren würde. Und Meadows sagte, der Tag werde «sehr, sehr hässlich».

  • Bereits Tage vor der Erstürmung wurde im Weissen Haus von den «Oath Keepers» und den «Proud Boys» gesprochen. Also den beiden rechts­radikalen Gruppen, die später die Speer­spitze beim Kampf gegen die Kapitol-Polizei waren.

  • Am Vorabend des Aufstands telefonierten Mark Meadows, Giuliani und General Michael Flynn: Weisses Haus, «Team Crazy» und «Team Kraken».

  • Am Morgen des 6. Januar teilte der Geheim­dienst Trump mit, dass eine Menge Demonstranten mit Waffen ausgerüstet waren: Messer, Sprays, halb­automatische Gewehre. Doch der Präsident hatte andere Sorgen: Die Menge auf dem Platz war zu löchrig, weil Tausende nicht durch den Metall­detektor gehen wollten. Trump verlangte, dass die «verdammten Detektoren» abgebaut würden: «Lasst meine Leute zu mir kommen!» Auf die Risiken angesprochen, sagte er: «Wen kümmert es, ob sie Waffen haben, sie sind nicht hier, um mich zu verletzen.»

  • Im Vorfeld hatte der Rechtsberater des Weissen Hauses, Pat Cipollone, vor dem Plan gewarnt, dass Trump persönlich zum Kapitol marschieren würde: «Wir können sonst für jedes nur denkbare Verbrechen angeklagt werden.» Trotzdem hielten Trump und Meadows am Plan fest.

  • Schliesslich entschied der Geheim­dienst, dass der Marsch zum Kapitol zu gefährlich sei. Trump erfuhr das erst in der Limousine, als diese zurück zum Weissen Haus fuhr. Er befahl, zum Kapitol zu fahren: «Ich bin der verdammte Präsident!» Als das nicht passierte, griff Trump, wie die Geheimdienst­offiziere Hutchinson später erzählten, von hinten ins Steuer und würgte den Fahrer.

  • Im Weissen Haus warf er aus Wut den Teller mit dem Mittag­essen an die Wand. (Hutchinson half, den Ketchup zu entfernen.) Als erste Sprech­chöre «Hängt Mike Pence!» riefen, twitterte er: «Mike Pence hatte nicht den Mut, das zu tun, was hätte getan werden müssen.»

  • Der Weisse-Haus-Anwalt Cipollone verlangte darauf vom Stabschef Mark Meadows, dass Trump dringend die Leute beruhigen müsse. Meadows antwortete, dass Trump die Idee, Mike Pence hängen zu lassen, nicht falsch fände.

  • Über Stunden bestürmten Abgeordnete, Fox-News-Moderatoren, Anwältinnen und sogar Trumps Kinder den Präsidenten, die Masse im Kapitol zur Ordnung zu rufen. Trump tat es erst nach drei Stunden. Und brachte kein böses Wort der Verurteilung über die Lippen: «Ich verstehe eure Wut. Wir lieben euch!»

  • Erst tief in der Nacht rang sich Trump zu einer Verurteilung durch. Dies hauptsächlich aus Furcht, dass sein Kabinett ihn per Artikel 25 absetzen würde: der gesetzlichen Notbremse für amtsunfähige, mitunter auch geisteskranke Präsidenten.

Nichts in der amerikanischen Geschichte ist auch nur ansatzweise vergleichbar mit Hutchinsons eineinhalb Stunden Zeuginnen­aussage: Ein Präsident, der nach seiner Wahl­niederlage Bewaffnete zwecks Staats­streich auf das Parlament hetzt und vorhat, dabei persönlich an der Spitze zu stehen.

Mehr geht nicht. Nicht mehr Verbrechen. Nicht mehr Faschismus. Nicht mehr Beweise.

Hutchinsons Aussage war kein rauchender Colt. Sondern ein rauchender Granatwerfer.

Merrick?

Doch wie gesagt: Über eine Anklage Trumps entscheidet nur ein einziger Mann: der Justiz­minister Merrick Garland.

Doch klar ist auch: Es bleibt ihm zunehmend wenig anderes übrig. Wenn Trump damit durchkommt, ist nichts an der amerikanischen Demokratie mehr unantastbar. Und der nächste Putsch wird unvermeidlich.

Die grosse Frage ist, ob er sich noch verhindern lässt. Die republikanische Presse versteifte sich auf die Debatte, ob Trump in der gepanzerten Limousine überhaupt die Möglichkeit gehabt habe, ins Steuer zu greifen. Und kolportierte aus Geheimdienst­kreisen das Gerücht, dass die fraglichen Agenten Hutchinson widersprächen.

Zwar sprachen bis jetzt alle, die Trump für schuldig erklären, unter Eid. Und alle, die ihn für nicht schuldig erklären, nicht unter Eid. Doch die republikanische Strategie ist klar: Sie sprechen statt vom «grössten Skandal des Jahr­hunderts» von der «grössten Lüge des Jahrhunderts».

Im Übrigen gibt es, wenn man republikanische Politiker fragt, wichtigere Themen: Inflation und Benzinpreis.

Und die Republikaner haben erschreckend intakte Chancen, dass ihre Strategie einer Herrschaft der Minderheit bereits bei der nächsten Wahl aufgeht. Jüngst etwa kam die Nachricht, dass vor den Zwischen­wahlen eine Million registrierte Wählerinnen das Lager gewechselt haben: von Demokraten zu Republikanern.

Zwar stimmt, dass das klassische Reservoir der Republikaner schrumpft: der Anteil weisser Wählerinnen in den USA. Wie auch der Anteil von evangelikalen Christen an der Bevölkerung. Zum ersten Mal bezeichnet sich die Mehrheit der Amerikanerinnen als «nicht religiös».

Nur bedeutet das nicht, dass man von einer zukünftigen republikanischen Regierung so die geringste Rücksicht erwarten kann. Wenig mehr macht eine Herrschafts­kaste gefährlicher als schrumpfende Macht: Hexen­verbrennungen fanden nicht im Mittel­alter statt, sondern als die Neu­zeit anbrach.

Noch ist nichts gegessen. Es ist unklar, ob die Demokraten nun endlich, endlich kämpfen. Ob Trump je ins Gefängnis kommt. Ob das millionen­fache «Fuck you, Supreme Court!» der amerikanischen Frauen nach dem Abtreibungs­urteil verpufft oder zu einer Massen­bewegung führt.

Doch die Falle der Republikanerinnen ist erschreckend solid konstruiert. Man muss sich darauf vorbereiten, dass es in Amerika finster wird. Und dass die drei mächtigsten Staaten der Welt – Russland, China und die USA – zu Diktaturen mit Überwachungs­technologie werden.

Nicht, dass das niemand erwartet hätte. 1787 fragte eine Passantin Benjamin Franklin, einen der Gründer­väter der USA, was die amerikanische Verfassung denn so bringe. Franklin antworte: «Eine Republik, so ihr sie behalten könnt!»

Gut möglich, dass es nicht nur in den USA sehr bald nicht nur auf Merrick Garland ankommen wird. Sondern auf jede verdammte Einzelne von uns.