Ukrained Kingdom
Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine inszeniert sich der innenpolitisch angeschlagene britische Premierminister Boris Johnson als ihr Beschützer. Doch die Unterstützung Grossbritanniens für die Ukraine reicht sehr viel tiefer und ist unter den politischen Eliten des Landes weitgehend Konsens.
Eine Analyse von Helene von Bismarck, 28.06.2022
1. Die Macht der Bilder im Russland-Ukraine-Krieg
«Überraschung!», twitterte die ukrainische Botschaft in London am 9. April 2022 und teilte ein Foto, dass binnen Sekunden um die Welt ging: Der britische Premierminister Boris Johnson war zu Besuch bei Wolodimir Selenski in der ukrainischen Hauptstadt. Zu einem Zeitpunkt, als eine solche Reise für den deutschen Bundeskanzler oder den französischen Präsidenten noch in weiter Ferne lag, sandten die Bilder von Johnsons Spaziergang mit Selenski durch das kriegsversehrte Kiew eine klare Botschaft. Die Ukraine ist in dieser existenziell bedrohlichen Zeit nicht allein, denn Grossbritannien steht fest an ihrer Seite.
Boris Johnson hatte bislang einen guten Krieg. Der britische Premierminister wird in der Ukraine für seine Unterstützung des von russischen Kriegsverbrechern heimgesuchten Landes gefeiert – während er zu Hause von einem beispiellosen Skandal in den nächsten stolpert, das Parlament belogen und das Vertrauen eines grossen Teils seiner eigenen Partei verloren hat, während Inflation und Lebenshaltungskosten in Grossbritannien in schwindelnde Höhen steigen.
Die ukrainische Kleinstadt Fontanka, nahe Odessa gelegen, hat eine Strasse nach ihm benannt; in einem Kiewer Café trägt neuerdings eine Kuchensorte seinen Namen; die ukrainischen Streitkräfte veröffentlichten im Juni ein Video in den sozialen Netzwerken, in dem sie sich bei Grossbritannien bedanken und versprechen, durch ihren Kampf gegen die «russischen Schurken» James Bond Arbeit abzunehmen.
Für Johnson scheint mit dem Russland-Ukraine-Krieg endlich jener Churchill-Moment gekommen zu sein, von dem er schon vor seiner politischen Karriere, in seinen Zeiten als Journalist, fasziniert war. Ein Moment, wo Gut und Böse in einem grausamen Krieg aufeinandertreffen und es an grossen Persönlichkeiten liegt, die freie Welt zu verteidigen. Johnson hat sogar ein Buch über den «Churchill-Faktor» geschrieben, in dem er fragt, wie man es schaffen kann, so einflussreich und erfolgreich zu werden und so Übermenschliches zu leisten wie sein Vorbild Winston Churchill. Seine Rhetorik zur Ukraine lässt die in Grossbritannien tief sitzende Erinnerung an Churchills «dunkelste Stunde» wieder aufleben, das Jahr 1940.
Johnson begreift die Macht der Bilder und der Schlagzeilen. Ihm liegt, was Olaf Scholz und auch Emmanuel Macron in einer von der Brutalität des russischen Angriffskrieges erschütterten westlichen Welt oft vermissen lassen: die grosse Geste, die flammende Rhetorik, die öffentlich zur Schau getragene, bedingungslose Solidarität.
In Zeiten des Krieges sind das nützliche Fähigkeiten. Die Ukraine überlebt im Moment dank der Hilfe ihrer demokratischen Partner, die wiederum von einer Welle öffentlicher Sympathie und Aufmerksamkeit getragen wird. Zentral ist dabei die Erkenntnis, dass die Ukraine nicht nur um ihr eigenes Überleben kämpft, sondern um das der europäischen Sicherheitsordnung. Nichts spielt Putin in diesem Zermürbungs- und Vernichtungskrieg mehr in die Hände als Kriegsmüdigkeit, Zögerlichkeit, Verdrängung oder sogar Gleichgültigkeit im Westen.
Entscheidend ist aber, dass die britische Regierung Johnsons Worten auch Taten folgen lässt, vor allem durch die stetige Unterstützung der Ukraine mit Waffen, Material und Hilfe bei der Ausbildung ukrainischer Truppen. In einem am 18. Juni in «The Times» veröffentlichten Artikel hob Johnson hervor, welche Rolle der Faktor Zeit in diesem Konflikt spielt.
Die britische Regierung warnte ihre Verbündeten bereits im Winter, mit dem Hinweis auf geheimdienstliche Erkenntnisse, vor einem russischen Überfall auf die Ukraine. Damals erschien ein solcher Plan Putins vielen im Westen als «irrational» und deswegen als unwahrscheinlich.
Jetzt, wo der Krieg begonnen hat, hängen die langfristigen Beziehungen zwischen Russland und dem restlichen Europa von den kurzfristigen Entwicklungen auf den ukrainischen Schlachtfeldern ab, ein Zusammenhang, der in Downing Street früher und konsequenter beachtet wurde als im Kanzleramt oder im Élysée-Palast.
2. Boris Johnsons innenpolitisches Kalkül
Tatsache ist aber auch, dass Johnson und seine Unterstützerinnen den Russland-Ukraine-Krieg innenpolitisch maximal ausschlachten. Es ist die Kombination aus Putins Überfall auf die Ukraine und Johnsons eigener Schamlosigkeit, die ihn nach seinen letzten Skandalen überhaupt noch im Amt hält. Hätte Johnson auch nur den geringsten Respekt vor Konventionen oder parlamentarischen Regeln oder auch einfach nur den Stolz irgendeines seiner Vorgänger, wäre er längst zurückgetreten. Stattdessen lenkt er mithilfe medienwirksamer Ankündigungen die Aufmerksamkeit der britischen Öffentlichkeit vor allem dann auf die Ukraine, wenn seine innenpolitischen Fehler und verfassungsrechtlich fragwürdigen Manöver zu Hause gerade mal wieder Schlagzeilen machen.
Als am Abend des 6. Juni bekannt wurde, dass Boris Johnson ein Misstrauensvotum seiner eigenen Partei mit knapper Mehrheit überstanden hatte, verloren seine Unterstützer keine Zeit. «Selenski wird heute Abend vor Freude in die Luft boxen», liess der konservative Abgeordnete und Bildungsminister Nadhim Zahawi vor laufender Kamera verlauten. Es sei Johnsons Führung, so das Argument seiner Freunde, die Grossbritanniens Hilfe für die umkämpfte Ukraine in einem Moment dramatischer Gefahr für den gesamteuropäischen Frieden garantiere.
Dabei war gerade Johnsons persönliche Haltung gegenüber Putins kleptokratischem Russland vor Ausbruch des Krieges nicht gerade frei von Ambivalenz. Als der Sicherheitsausschuss des Unterhauses die Frage nach russischer Einflussnahme auf das Brexit-Referendum 2016 analysiert hatte, zögerte Downing Street die Veröffentlichung dieses offiziellen Berichts monatelang mit fadenscheinigen Begründungen hinaus. 2020 sicherte Johnson gegen massiven Widerstand dem russischstämmigen Oligarchen Jewgeni Lebedew, Sohn eines früheren KGB-Offiziers und Besitzer von zwei britischen Tageszeitungen, auf Lebenszeit einen Platz im Oberhaus des Parlaments, wo er den Titel «Baron Lebedev of Hampton in the London Borough of Richmond upon Thames and of Siberia in the Russian Federation» trägt.
Und auch nach dem Angriff auf die Ukraine ist man in Grossbritannien meilenweit davon entfernt, die Frage aufzuarbeiten, welchen Einfluss russisches Geld in London über Jahre gespielt haben könnte, auch durch umfangreiche Spenden an die konservative Partei.
3. Überparteiliche Solidarität mit der Ukraine
Und trotzdem ist es weder zutreffend noch fair, in der britischen Ukraine-Politik ausschliesslich ein zynisches Ablenkungsmanöver eines angeschlagenen Premierministers zu sehen. Johnsons strengsten Kritikern, sowohl in Grossbritannien als auch in der EU, unterläuft dabei ironischerweise der gleiche analytische Fehler wie seinen treuen Verteidigerinnen, denn sie reduzieren die britische Unterstützung der Ukraine in diesem Krieg auf die Person Boris Johnsons. Man kann einem Populisten wie Johnson gar keinen grösseren Gefallen tun, als ihn mit dem Land, das er regiert, gleichzusetzen.
In Wirklichkeit aber wird die Hilfe für die Ukraine von einem parteiübergreifenden politischen Konsens und weitgehender Zustimmung aus der britischen Bevölkerung getragen.
Man kann davon ausgehen, dass Johnsons Ausscheiden aus dem Amt auf die Ukraine-Politik seines Landes keinen nennenswerten Einfluss haben würde. Die grösste Gefahr geht für den Premierminister momentan nicht von der Opposition, sondern von der weitverbreiteten Unzufriedenheit in seinen eigenen Reihen aus. Dort stört man sich aber nicht an Johnsons Hilfe für die Ukraine. Der Abgeordnete Tobias Ellwood ist einer seiner schärfsten Kritiker innerhalb der konservativen Partei, in Europafragen befürwortet er einen vollkommen anderen Kurs als die Regierung, und er hat sich wiederholt öffentlich für einen Rücktritt Johnsons ausgesprochen. Aber was die Ukraine und Russland angeht, ist selbst Ellwood ein Falke.
Johnsons potenzielle Erben unter den Tories haben alle gemeinsam, dass sie mindestens so sehr hinter der Ukraine in ihrem Kampf gegen Russland stehen wie er. Da wären vor allem die Aussenministerin Liz Truss, die Staatsministerin für Handelsfragen Penny Mordaunt oder auch Verteidigungsminister Ben Wallace zu nennen, wobei Letzterem eher Aussenseiterchancen eingeräumt werden. Im Blick behalten sollte man auch Jeremy Hunt, der 2019 im letzten Wettbewerb um die Parteiführung auf dem zweiten Platz hinter Johnson landete.
Sollte der Premierminister zurücktreten, ist zu erwarten, dass sich die Bewerberinnen um das Spitzenamt gegenseitig mit ihren Vorschlägen für eine scharfe Linie gegenüber Russland überbieten würden.
Bemüht sich Johnson bei jeder Gelegenheit darum, mehr oder weniger subtil an das Erbe Churchills zu erinnern, orientiert sich seine grösste Konkurrentin, Liz Truss, schon seit Monaten in der Art, wie sie sich kleidet, wie sie spricht, aber vor allem, wie sie sich zum Russland-Ukraine-Krieg äussert, an einem anderen Vorbild aus der Geschichte der konservativen Partei – der gerade in Osteuropa bis heute sehr verehrten Margaret Thatcher. Diese war bekannt als «eiserne Lady», die sich von der Macht der Sowjetunion nicht beeindrucken liess und sich sehr für die Freiheit und die Zukunft der mittel- und osteuropäischen Länder einsetzte.
In einer Rede im Londoner Mansion House Ende April beschrieb Truss den Krieg in der Ukraine als Teil eines globalen Konflikts zwischen freien Demokratien und aggressiven Autokratien wie Russland und China. Sie warb für eine weltweite Rolle der Nato, sicherte der Ukraine sehr weitreichende militärische Unterstützung zu und plädierte dafür, dass der Westen seine Waffenproduktion dringend ankurbeln müsse. Auch betonte Truss die Notwendigkeit, geopolitisch zu denken, und watschte ganz nebenbei die deutsche Russlandpolitik der letzten dreissig Jahre mit einem Seitenhieb auf das gescheiterte Prinzip vom «Wandel durch Handel» ab.
In der Selbstdarstellung zurückhaltender als die Aussenministerin, aber der Ukraine mindestens so verbunden ist der britische Verteidigungsminister Ben Wallace. Im Januar 2022 veröffentlichte er auf der Website der britischen Regierung eine ausführliche Replik auf den geschichtsrevisionistischen Essay, den Wladimir Putin im Sommer 2021 unter dem Titel «Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer» verfasst hatte. Schon Wochen vor dem russischen Überfall, als Putin an der ukrainischen Grenze seine Truppen zusammenzog, erläuterte Wallace überzeugend und öffentlich, was in vielen Teilen Europas noch Monate nach Kriegsausbruch in so mancher Talkshow bestritten wird: Die russische Aggression gegen die Ukraine ist nicht auf Angst vor einem Angriff durch die Nato zurückzuführen, sondern auf den imperialistischen und ethnonationalistischen Anspruch Putins, frühere Teile des russischen Zarenreichs miteinander vereinigen zu wollen.
Jenseits der konservativen Partei steht aber auch die Opposition hinter der Ukraine und teilt das in Grossbritannien seit Kriegsbeginn wiedererwachte Interesse an der Rolle der Nato in Europa. Im März machte der Vorsitzende der Labour-Partei, Keir Starmer, Schlagzeilen, als er elf seiner eigenen Abgeordneten drohte, sie aus der Fraktion zu werfen, sollten sie ihre Unterschrift unter einem Brief nicht zurückziehen, in dem die Nato-Osterweiterung und das «Säbelrasseln» der britischen Regierung kritisiert wurden.
Nur zwei Jahre nachdem Starmer den weit links stehenden Nato-Skeptiker Jeremy Corbyn an der Parteispitze abgelöst hat, ist diese offene und bislang erfolgreiche Konfrontation mit dem linken Flügel bemerkenswert. Zehn der elf Abgeordneten folgten der Anweisung des Parteivorsitzenden.
Starmer reiste ausserdem nach Estland, um dort stationierte Nato-Truppen zu besuchen. Dort sicherte er der Ukraine, wie auch Grossbritanniens osteuropäischen Nato-Partnern, die volle Solidarität seiner Partei zu. Im April brachte der Labour-Abgeordnete Ben Bradshaw in einer Debatte im Unterhaus sogar die Möglichkeit einer Entsendung britischer Truppen in den von den Russen unbesetzten Westen und Norden der Ukraine ins Spiel.
Der Verteidigungsminister bezeichnete diesen Vorschlag grundsätzlich als «stichhaltig», sollte es zu einem eingefrorenen Konflikt kommen. Schliesslich sei es das Recht der Ukraine, auf ihr Territorium einzuladen, wen sie wolle. In dem ansonsten politisch vollkommen polarisierten Grossbritannien ziehen Regierung und Opposition also, was den Krieg angeht, weitgehend am selben Strang.
4. Die Rolle der aussen- und sicherheitspolitischen Elite
Die entschlossene britische Reaktion auf Putins Überfall auf die Ukraine erklärt sich auch dadurch, dass es in Grossbritannien eine strategisch versierte aussen- und sicherheitspolitische Elite gibt, die gewohnt ist, in geopolitischen Kategorien zu denken, und hohe Ansprüche an die Rolle ihres Landes in der Welt hat.
Wer sich mit Beamten aus den Aussen- und Verteidigungsministerien und den Angehörigen einschlägiger Thinktanks unterhält, merkt schnell, dass internationale Zusammenhänge und Fragen von Krieg und Frieden in London sehr viel selbstverständlicher und breiter diskutiert werden als zum Beispiel in Berlin.
Die sicherheitspolitischen Verbindungen zwischen Grossbritannien und der Ukraine reichen weit zurück und bieten Anknüpfungspunkte für die jetzige Zusammenarbeit. Schon vor zwanzig Jahren hatte die britische Regierung einen Berater in das ukrainische Verteidigungsministerium entsandt. Auf Putins völkerrechtswidrige Besetzung der Krim im Jahre 2014 reagierte Grossbritannien mit einem militärischen Hilfsprogramm für die Ukraine, der «Operation Orbital». Unter Leitung des britischen Verteidigungsministeriums wurden die ukrainischen Streitkräfte mit nicht letaler Ausrüstung und Gerät versorgt. Insgesamt 22’000 ukrainische Soldaten wurden in regelmässigen kurzen Trainingseinheiten von den Briten ausgebildet.
Zwischen 2015 und 2021 wurde «Orbital» mehrfach verlängert und ausgeweitet, bis sich stets 100 Angehörige der britischen Streitkräfte gleichzeitig in der Ukraine aufhielten, die erst im Februar 2022, eine Woche vor Kriegsausbruch, abgezogen wurden. Schon seit 2020 hatten sich Stimmen im britischen Verteidigungsministerium gemehrt, die darauf drängten, die bestehenden Beschränkungen auf Waffenlieferungen aufzuheben.
Im März 2021 veröffentlichte die britische Regierung den «Integrated Review», ein Grundsatzpapier zur Aussen- und Sicherheitspolitik, das Putins Russland als die grösste Gefahr für den europäischen Frieden einstufte. Diese Warnung wurde in Westeuropa noch vielerorts als übertrieben eingestuft, in Osteuropa und im Baltikum aber durchaus geteilt. Eine wichtige Rolle bei der Ausarbeitung dieses Papiers hatte neben den Mitarbeitern der verschiedenen einschlägigen Ministerien der Historiker John Bew gespielt, der am King’s College das «Centre for Grand Strategy» leitet.
Die Weltsicht von Grossbritanniens aussen- und sicherheitspolitischen Eliten hat eine dezidiert normative Komponente. Der «Integrated Review» beschrieb Grossbritannien als «force for good», als «Kraft für das Gute» in der Welt, die sich global für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte einsetzen müsse. Dieser Ansatz mag für nicht britische Ohren ambitioniert oder sogar selbstgerecht klingen, da er auf einem selektiven Bild der eigenen Geschichte und oft auch auf einem Desinteresse an der innenpolitischen Situation in Grossbritannien beruht. Er ist aber trotzdem ernst gemeint und, gerade in Bezug auf die Ukraine, auch ernst zu nehmen.
Wer die innerbritische Diskussion über die Ukraine verfolgt, wird mit einer Kombination aus nüchterner Analyse geopolitischer Zusammenhänge und starken Emotionen konfrontiert. In London schliessen sich eine Abwägung der langfristigen Konsequenzen eines russischen Sieges für die gesamteuropäische Sicherheitsordnung und ein Gefühl der Verpflichtung zur Solidarität angesichts des Menschheitsverbrechens, das seit Februar 2022 in der Ukraine verübt wird, nicht aus.
Deswegen wird Grossbritannien die Ukraine weiterhin unterstützen, unabhängig davon, wie es mit Boris Johnsons Karriere weitergeht. Für die Ukraine ist das eine gute Nachricht. Für Europa auch.
Helene von Bismarck arbeitet als Historikerin und Autorin zu Grossbritanniens Rolle in der Welt. Sie ist ein Visiting Research Fellow am Centre for British Politics and Government am King’s College London und ein Fellow der Royal Historical Society.