Leben in Trümmern

Arbeit

Lesha und seine Freunde haben in Kiew zu tun: Aus einer Idee wird ein unerwarteter Erfolg. Ausserdem ist da dieses Datum, das ihn sehr beschäftigt.

Von Lesha Berezovskiy (Text und Bilder) und Annette Keller (Übersetzung und Bildredaktion), 27.06.2022

Teilen5 Beiträge5
Synthetische Stimme
0:00 / 5:28
Blick auf Kiew aus dem Studio.
Agata ist zwar weit weg, aber eben doch nicht ganz.

Entschuldigt bitte die Sendepause! In den letzten zwei Wochen war ich sehr umtriebig, aber es geht mir gut. Agata, meine Frau, ist inzwischen in Mailand. Wir hatten Glück und haben trotz der Design­woche eine sehr sympathische Unter­kunft für sie gefunden, die zudem auch günstig ist. Instagram erweist sich als sehr hilfreich in diesen Zeiten. Vorher hat sie eine unbeschwerte Auszeit in Kopenhagen genossen. Es war ihr echt zu gönnen, und auch für mich war es gut zu sehen, wie sie Spass hatte mit ihren Freunden. Ich wäre gerne dabei gewesen … hoffentlich das nächste Mal.

Ich bin immer noch daran, meine Sachen wieder in mein Studio zu schaffen, das hatte ich ja wirklich schon seit einiger Zeit vor. Es ist offenbar ein längerer Prozess, aber etwa die Hälfte des Materials ist nun dort, darunter der Scanner. Wenn ich also Negative bearbeiten will, muss ich hin, und das ist gut so.

Die letzten Wochen war ich aber vor allem mit einem kleinen Projekt beschäftigt. Zusammen mit meinen Freunden Vlad und Tolik bin ich Teil eines Kollektivs: UUA. Das steht für Urban Underground Athletes/Artists. Bevor ich mich dem Kollektiv angeschlossen hatte, stand das A nur für Athletes, und damit war vor allem Radsport gemeint. Als ich 2014 aus Donezk nach Kiew gezogen und zu ihnen gestossen bin, haben wir angefangen, nebst dem Velo­fahren auch viel zu fotografieren. Da fanden wir dann, dass das A eigentlich auch für «Artists» stehen sollte.

Ganz am Anfang hat uns die Zusammen­arbeit mit einem Magazin ein Honorar von 100 Pfund eingetragen. Damit produzierten und verkauften wir zehn T-Shirts. Aus diesen Einkünften wiederum liessen wir 20 T-Shirts herstellen und verkauften auch diese. Und so weiter. Wahrscheinlich hätte das Ganze zu einem richtigen Business werden können, aber ich vermute, wir sind nicht so gute Manager. Trotzdem machen wir seither in unregel­mässigen Abständen kleine Editionen von T-Shirts, Taschen, Velokäppis und solchen Sachen. Das passiert dann meistens recht spontan; wir entwickeln eine Idee, machen uns an die Umsetzung, und zwei Wochen später steht die Kollektion.

Unterwegs mit dem Velo.
Kontakt nach aussen.
Strassen-Impression.
Nes mit einem Schriftzug, der sehr gefragt ist.

So war es auch dieses Mal, wir wollten etwas für die Ukraine tun, es sollte aber auch etwas mit unserem Kollektiv zu tun haben. Und was würde da nicht besser passen als das ikonische Velo namens «Ukraine». Seit 1960 wird es hergestellt, die Produktion ist damals in Charkiw gestartet. Alle Ukrainerinnen kennen es, und ich vermute, es gibt nur wenige Haushalte, in denen kein solches Velo steht. Auch ich habe in Aidar auf einem «Ukraine» fahren gelernt. Das Logo ist für uns alle ein Stück Heimat, und deshalb haben wir damit eine Tasche und ein T-Shirt kreiert und produziert.

Wir arbeiten für unsere Minikollektionen jeweils mit lokalen Unternehmen zusammen, importieren nur die Textilien. Das ist zurzeit leider sehr kompliziert bis unmöglich, aber wir konnten genug Reststoffe dafür auftreiben. Die Hälfte der Einnahmen gehen an die Organisation Livyi Bereh, die mithilft, zerbombte Häuser zu reparieren. Ich werde in einem der nächsten Updates mehr von ihr erzählen.

Ich war zuerst etwas nervös und sehr unsicher, ob unsere Idee ankommt, denn momentan gibt es sehr viele Sachen mit einem «Ukraine»-Schriftzug. Ob die Leute wirklich noch mehr davon wollen? Aber dann ging es sehr schnell, und die T-Shirts und Taschen, die wir produzieren liessen, waren in ein paar Stunden ausverkauft. Wir freuen uns natürlich über den Erfolg und haben mit dem Teil, den wir nicht spenden, auch gleich eine weitere Auflage in Auftrag gegeben.

Für die Promo der T-Shirts habe ich meine Freundin Nes fotografiert. Sie war glücklicher­weise in Georgien, als der Krieg losging, und ist erst vor etwa drei Wochen wieder zurück­gekommen. Wir sind nach dem Shooting ein bisschen in Kiew rumgeschlendert, in einem kleinen Laden hat sie eine lokale Schokolade gekauft. Ich bin zusammen­gezuckt, als mein Blick auf das Produktions­datum fiel: der 24. Februar. Was in den Menschen wohl vorging, die an diesem Tag Schokolade herstellten? Sie hatten bestimmt Angst wie wir und haben doch einfach ihre Arbeit weiter gemacht.

Schokolade, hergestellt am ersten Kriegstag.
Unterwegs mit Freunden.

Dieses Datum ist mir irgendwie stets präsent. Als ich letzten Monat einen Print versenden wollte, habe ich tatsächlich die Liefer­scheine mit dem Datum «24.02.» versehen anstatt mit demjenigen vom 24. Mai. Ich war ziemlich verdutzt, als ich das realisierte, und bekam gleich eine Gänsehaut. «Wow», sagte ich zur Post­angestellten, «ich bin immer noch im Februar.» Sie lächelte und meinte: «Keine Sorge. Ich auch.»

Zum Fotografen

Lesha Berezovskiy arbeitet als freier Fotograf in Kiew. Er ist 1991 im ostukrainischen Bezirk Luhansk geboren. Als dort 2014 der Krieg ausbricht, zieht er in die Hauptstadt, wo er heute mit seiner Frau Agata lebt.