Zwei afghanische Mädchen in einer Nebenstrasse bei einem Schulhaus. Zwei Tage zuvor explodierte hier eine Bombe, an der Wand links sind noch Spuren zu sehen. Alle Aufnahmen in diesem Beitrag entstanden in Kabul.

Ein Jahr unter den Taliban

Als sie Kabul einnahmen, gaben sich die Taliban versöhnlich: Niemand habe Vergeltung zu befürchten, Mädchen dürften in die Schule, Frauen arbeiten. Heute sieht die Realität in Afghanistan ganz anders aus.

Von Emran Feroz (Text) und Kaveh Rostamkhani (Bilder), 21.06.2022

Vorgelesen von Patrick Venetz
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Farooq Wardak ist in den letzten Jahren sichtlich gealtert. Seine Haare sind grau geworden, und er hat Gewicht verloren. Doch Afghanistans einstiger Bildungs­minister wirkte glücklich, als er kürzlich am Kabuler Flughafen landete und von Vertretern des Taliban-Emirates empfangen wurde.

Der 63-jährige Wardak ist nicht der erste Offizielle der im letzten Sommer gestürzten Regierung, der in seine Heimat zurück­gekehrt ist – aber der bis dato höchste. Das macht die Rückkehr Wardaks zu einem kleinen Scoop für das neue Regime, der entsprechend zelebriert und propagiert wird. Ihre Message: «Seht her! Die von uns ausgerufene Amnestie ist keine Lüge.» Nach der Einnahme von Kabul im August 2021 hatten die Taliban verkündet, alle Mitglieder der gestürzten Regierung und des zugehörigen Sicherheits­apparats könnten an ihren Arbeits­platz zurückkehren.

Wardak, der hauptsächlich in der Amtszeit von Ex-Präsident Hamid Karzai tätig war, gehörte zu den korruptesten Politikern Afghanistans. Sein Ministerium war unter anderem für sogenannte Geister­schulen verantwortlich, durch die regelmässig ausländische Gelder in Millionen­höhe akquiriert wurden – leer stehende oder ausschliesslich auf dem Papier existierende Gebäude, die als Schule geführt wurden. Sie sind ein Grund dafür, warum bis heute in vielen Landes­teilen Bildungs­einrichtungen fehlen und Männer wie Wardak während Karzais Amtszeit steinreich wurden.

Wie die meisten anderen Mitglieder des afghanischen Kabinetts lebte Wardak früher in Saus und Braus und führte ein Jetset-Leben. Verschiedenen Berichten zufolge soll er mehrere Immobilien im Ausland besitzen. In den Vereinigten Arabischen Emiraten, einem Hort der afghanischen Korruption, besassen Wardak und seine Ehefrau mindestens zwei Luxus­immobilien. Kurz nach Wardaks Rückkehr nach Kabul machten dann auch alte Interviews die Runde, in denen der Ex-Minister unter anderem die Existenz der Taliban leugnete oder die Korruption der alten Regierung relativierte.

Während die Taliban sich mit Männern wie Wardak schmücken und ihm praktisch alles verzeihen, fehlt anderswo von Sanftheit jede Spur. Zwar sagte Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid im vergangenen Sommer, niemand habe Vergeltung zu befürchten. Doch in der Realität sieht der Alltag düster aus.

Bereits im November veröffentlichte die US-amerikanische Menschenrechts­organisation Human Rights Watch einen Bericht, demzufolge seit der Macht­übernahme der Taliban mehr als hundert ehemalige Sicherheits­kräfte getötet wurden oder verschwunden sind. In einigen Fällen hätten lokale Taliban-Kommandeure Listen mit Personen zusammen­gestellt, die aufgegriffen oder getötet werden sollten.

Gemäss einer Recherche der «New York Times» wurden in den ersten sechs Monaten der Taliban-Herrschaft rund 500 ehemalige Regierungs­angestellte und Ex-Soldaten verschleppt oder getötet. Auch Videoclips, die in den letzten Monaten auf Social Media geteilt wurden und oftmals nicht verifiziert werden konnten, zeigten, wie Mitglieder der zerfallenen Armee gefoltert oder getötet wurden. «Es gibt keine Amnestie. Die Taten der Taliban sprechen für sich», sagte etwa der irische Afghanistan-Kenner Michael Semple. Während­dessen sprachen die Taliban angesichts der Vorwürfe von «abtrünnigen Elementen» und «persönlichen Feindschaften». Todes­listen und eine systematische Verfolgung von Ex-Soldaten gäbe es nicht.

Die Kriegs­front läuft quer durch Familien

Ein Mann, der selbst zu den Gejagten gehört, ist der 25-jährige Samim, der eigentlich anders heisst. Der ehemalige Soldat ist gezwungen, sich zu verstecken. Zurzeit befindet er sich im Haus seines Bruders in der nördlichen Provinz Baglan. «Ich verlasse das Haus selten und wenn, dann nicht allein», sagte Samim bei einem Besuch der Republik im März.

Einst führte Samim ein ganzes Bataillon im Kampf gegen die Taliban. Heute verbringt er viel Zeit mit Haus- und Garten­arbeit. Doch sein Kampf gegen die Extremisten, die heute seine Heimat regieren, verfolgt ihn weiterhin. Während der Amtszeit von Ex-Präsident Karzai absolvierte Samim die Militär­akademie in Kabul und schloss sich den Streit­kräften an, die von den USA und anderen Nato-Staaten bewaffnet und ausgebildet wurden. Er arbeitete sich hoch und landete schliesslich bei den Spezial­kommandos, Elite­einheiten, die das machten, was man als «Drecks­arbeit» bezeichnen könnte.

Samim und seine Kameraden wurden meist in Regionen geschickt, die bereits von den Taliban erobert worden waren oder kurz vor dem Fall standen. Sie agierten dort als Himmelfahrts­kommando.

Die meisten seiner Weggefährten sind heute tot. «Wir gingen unserer Pflicht nach und nahmen den Tod in Kauf, doch man hat uns einfach fallen gelassen», sagt Samim. Es fällt schwer, sich den jugendlich wirkenden Mann mit seiner sanften Art und weichen Stimme im Schützen­graben vorzustellen.

In den letzten Jahren fanden Zehntausende junge Männer wie er den Tod. Man kann davon ausgehen, dass deutlich mehr afghanische Sicherheits­kräfte starben als Zivilistinnen. Doch die Opfer wurden selten gezählt oder in irgendeiner Art und Weise dokumentiert oder gewürdigt. Umso tragischer ist es, dass Soldaten wie Samim oftmals gegen ihre eigenen Bekannten, Nachbarn oder sogar Verwandten kämpfen mussten.

«Die Taliban sind unsere fehlgeleiteten Brüder», sagte Ex-Präsident Hamid Karzai 2015 während eines berühmten Interviews mit dem afghanischen Privatsender Tolo. Wie in ganz Afghanistan gibt es auch in der Provinz Baglan, wo Samim heute lebt, Geschichten von Brüdern, die sich bekämpften. Während einer sich den Taliban anschloss, ging der andere zur Armee.

Auch Samims jüngerer Bruder zog vor rund drei Jahren aus und schloss sich Taliban-Kämpfern in der Region an. Erst nach mehreren Monaten und zahlreichen Überredungs­versuchen seiner Geschwister kehrte er nach Hause zurück. Dass dies auch anders hätte enden können, zeigt sich auf den Fried­höfen von Baglan. Hier hängt an manchen Gräbern sowohl die Flagge der afghanischen Republik als auch jene des Taliban-Emirates. Meist sind dort die gefallenen Söhne derselben Familie begraben.

«Ich wünschte, ich hätte diesen Tag nicht erlebt»

Samim hat die Taliban bis zum Fall der afghanischen Republik bekämpft. In der Provinz Balkh, wo unter anderem auch die deutsche Bundeswehr stationiert war, leistete er gemeinsam mit einem Freund und Kameraden erbitterten Widerstand. Mit dem letzten schweren Gerät, das ihnen zur Verfügung stand, töteten sie hochrangige Taliban-Kommandanten, nachdem diese sie zur Aufgabe hatten zwingen wollen.

Erst danach erfuhren sie, dass es bereits zu spät war und ihr Widerstand zwecklos. Ashraf Ghani, der letzte Präsident des Landes, hatte mitsamt seinem korrupten Zirkel bereits das Land verlassen. Es war der 15. August 2021, und der Abzug der Nato-Truppen war noch nicht einmal abgeschlossen. «Das war für uns ein schwarzer Tag. Ich wünschte, ich hätte ihn nicht erlebt», sagt Samim. Alles, wofür er gekämpft habe, sei an diesem Tag unter­gegangen.

Dass das korrupte Klientel­regime in Kabul fiel, bevor der letzte US-Soldat das Land verlassen hatte, machte dessen Schwäche deutlich. Zum Vergleich: Die afghanisch-kommunistische Diktatur in Kabul konnte sich nach dem Ende der zehnjährigen sowjetischen Besatzung weitere drei Jahre halten und fiel erst 1992, als die Mujahedin-Rebellen Kabul eroberten.

Ex-Soldat Samim macht für den Fall der Republik nicht in erster Linie jene Taliban verantwortlich, die er jahrelang bekämpft hat und die ihn nun jagen, sondern seine einstige Regierung. Diese sei derart korrupt gewesen, dass sie das Land verkauft habe. Was Samim und viele andere Afghanen damit meinen, ist in der Regel eine Mischung aus Fakten, Mutmassungen und Verschwörungs­theorien. So ist etwa die Annahme verbreitet, dass die Ghani-Regierung hinter den Kulissen mit den Taliban zusammen­gearbeitet und diesen praktisch kampflos das Feld überlassen habe.

Aufgrund des zunehmenden Ethno­nationalismus in manchen politischen Lagern wird in diesem Kontext auch von einem «paschtunischen Plot» gesprochen. Demnach hätte sich der Ex-Präsident, ein Paschtune, mit den mehrheitlich paschtunischen Taliban verschworen, um nicht­paschtunische Akteure im Land zu schwächen und die Macht weiterhin in paschtunischen Händen zu zentralisieren.

Tatsächlich sprechen die meisten Fakten bis zum heutigen Tag eher gegen einen solchen Mega­komplott. Vielmehr führte eine Reihe von Umständen, die seit Jahren bekannt waren, zum Fall der afghanischen Republik. Die Korruption innerhalb des Militär­apparats war allgegen­wärtig und beeinflusste den Alltag von Soldaten in vielerlei Hinsicht. So wanderten etwa die Gehälter von sogenannten Geister­soldaten – sprich Soldaten, die nur auf dem Papier existierten – in die Taschen korrupter Offizieller, während die echte Armee in einen desolaten Zustand geriet und Fuss­soldaten oft das Nötigste fehlte, von der Munition bis hin zur Nahrung.

Die Menschen vor dem Zaun waren zu spät, um sich für die kostenlose Vergabe von Lebensmitteln anzustellen.

Politisch trug einiges dazu bei, dass die Taliban zurück­kehrten und Präsident Ghani flüchtete. Dazu gehörten vor allem die sogenannten Friedens­gespräche zwischen der Trump-Administration und den Taliban unter Ausschluss der Kabuler Regierung und anderer inner­afghanischer politischer Akteure. Der 2020 im Golfemirat Katar unterzeichnete Abzugsdeal war nicht nur reines Appeasement den Taliban gegenüber, sondern führte auch zu einer überschätzten Selbst­wahrnehmung der Extremisten, während die Moral der Gegen­seite erheblich geschwächt wurde.

Das wurde vor allem auf dem Schlachtfeld bemerkbar. «Kurz nach dem Deal wurden 5000 inhaftierte Taliban-Mitglieder aus den Gefängnissen entlassen», sagt Ex-Soldat Samim dazu. «Natürlich war das ein herber Schlag für uns, vor allem auch, weil viele dieser Männer direkt auf das Schlacht­feld zurück­kehrten und uns bekämpften.»

Uniform verbrannt, Dokumente vergraben

Dass sein Kampf nun endgültig vorbei ist, bezweifelt Samim. Die letzten Monate hätten verdeutlicht, dass die Amnestie­versprechen der Taliban eine Lüge seien. Soldaten wie ihm verzeihe man weiterhin nicht, sagt er: «Ja, ich habe viele von ihnen getötet. Doch die Taliban haben auch viele meiner Kameraden ermordet. Es war Krieg, und wir folgten unseren Befehlen.»

Klar ist, dass Samim sich nicht für immer verstecken kann. Im Haus seines Bruders, der zu allen Seiten stets gute Kontakte pflegte, ist er zwar vorerst sicher. Eine langfristige Lösung sei dies allerdings nicht, sagt Samim. Seit ihrer Macht­übernahme sind die Taliban landesweit in zahlreiche Häuser eingedrungen, um versteckte Waffen und Männer wie ihn zu finden. Seine Uniform hat Samim längst verbrannt. Dokumente, die seine frühere Arbeit belegen, hat er vergraben. «Falls die Taliban so weiter­machen, muss ich wohl wieder kämpfen», sagt er.

Obwohl die Taliban mittlerweile den grössten Teil des Landes kontrollieren, gibt es weiterhin Widerstand. Auch hierfür ist Baglan exemplarisch. Während in manchen Regionen, in denen früher gekämpft wurde, eine neue, eigenartige Ruhe herrscht, ist anderswo der Konflikt neu aufgeflammt. In den Distrikten Andarab und Khost wa Fereng etwa haben sich Anti-Taliban-Milizen gebildet, die der Nationalen Widerstands­front angehören. Sie bestehen hauptsächlich aus Über­bleibseln des zerfallenen Militärs und verschiedener Warlord-Strukturen, die zuvor dominierten.

Auch einige von Samims Kameraden haben sich den Milizen angeschlossen. «Wir haben nur den Kampf gelernt. Auch wir können uns in den Bergen verschanzen und den Taliban Probleme machen», sagt er.

In den letzten zwanzig Jahren waren es vor allem die Taliban, die sich dem Guerilla­krieg verschrieben hatten. Doch mittlerweile hat sich die Konstellation verändert. Während die einstigen Guerilleros versuchen zu regieren, greifen die gestürzten Militärs aus dem Hinterhalt an. Wie effektiv der Widerstand ist, lässt sich allerdings schwer sagen. Seine offiziellen Sprecher, die allesamt im Ausland sitzen, fielen in den letzten Monaten vor allem durch Falsch­informationen und Gerüchte auf, während die meisten Nachrichten, die aus betroffenen Regionen dringen, von den Taliban zensiert und unterdrückt werden.

Selbst in Baglan wissen viele Menschen nicht, wem sie glauben sollen. In Bezug auf Andarab sagten im März mehrere Einwohnerinnen gegenüber der Republik: «Das sind doch alles Facebook-News. Dort herrscht gar kein Krieg.» Gleichzeitig berichteten andere von Taliban-Massakern und verliessen sich dabei in erster Linie aufs Hören­sagen.

Afghanistans Geschichte hat immer wieder gezeigt, dass kein erfolgreicher Guerilla­kampf im Land möglich ist ohne ausländische Unter­stützung. Die afghanischen Mujahedin-Gruppen der 1980er-Jahre erhielten ihre Stinger-Raketen für den Kampf gegen sowjetische Militär­hubschrauber von den USA. Die Taliban konnten sich in den letzten Jahren unter anderem dank pakistanischer Hilfe reorganisieren und dabei auch auf die Hilfe anderer regionaler Akteure setzen.

Im Fall der Nationalen Widerstands­front ist dies zurzeit aber kaum der Fall. Obwohl die internationale Staaten­gemeinschaft wenig bis gar nicht mit dem Taliban-Emirat zusammen­arbeiten will, scheint sie sich mit dem aktuellen Status quo am Hindukusch abgefunden zu haben.

Krieg gegen die afghanischen Frauen

Einen beträchtlichen Teil der heutigen Realität in Afghanistan bildet ein weiterer Krieg, den die Taliban seit ihrer Macht­übernahme erklärt haben: der Krieg gegen die afghanische Frau. Er wird an verschiedenen Fronten deutlich. Obwohl die Taliban im letzten Sommer noch verkündet haben, Frauen sollen arbeiten, sie seien Teil der Gesellschaft, werden sie nun zunehmend aus der Öffentlichkeit verdrängt.

Seit die Extremisten wieder in Kabul regieren, ist es Mädchen in nahezu allen Provinzen des Landes verboten, die Oberstufen­schule zu besuchen. Ihr Versprechen, alle Schulen zum Frühlings­beginn zu öffnen, brachen die Taliban im März. Während ein Taliban-Sprecher Ausreden vorschob und von «fehlenden Schul­uniformen» sprach, wurde klar: Die Hardliner der 1990er-Jahre haben abermals das Sagen, während die moderat und pragmatisch wirkenden Taliban, die in den Medien auftreten, in den Hinter­grund gedrängt wurden.

Klare Kleidungs­vorgaben gibt es mittlerweile für alle Geschlechter. Frauen wird eine Gesichts­verschleierung empfohlen. Nachrichten­sprecherinnen müssen ihr Gesicht verdecken. Während man die Direktive auf den Strassen afghanischer Grossstädte schwer kontrollieren kann, sind vor allem Medien einem enormen Druck ausgesetzt. Dort verschwinden Frauen entweder ganz – oder sie verdecken ihre Gesichter mit Corona-Masken.

Vor einer Bäckerei wird Brot verteilt. Es wird nicht für alle reichen.

«Ich befinde mich in einem Zustand permanenter Wut», sagt die 74-jährige Frauen­rechtlerin Mahbouba Seraj. Sie gehört zu den wenigen prominenten Aktivistinnen, die weiterhin im Land leben und den neuen Macht­habern die Stirn bieten. «Ich verstehe nicht, was diese Männer wollen. Sollen wir uns etwa einfach in Luft auflösen?», fragt sie.

In den letzten Monaten wurde unter anderem verkündet, dass afghanische Frauen ohne männliche Begleitung nicht mehr reisen dürfen. Öffentliche Parks dürfen nur noch geschlechter­getrennt besucht werden. Drei Tage stehen Frauen zu, vier – zu denen auch das Wochenende gehört – Männern.

Eine zunehmende Geschlechter­apartheid ist auch an den Schulen zu beobachten, die weiterhin geöffnet sind. «Die Sitten­wächter der Taliban machen uns den Alltag schwer und denken, wir seien vor August 2021 gar keine Muslime gewesen», berichtet eine Lehrerin aus Mazar-i Sharif, die anonym bleiben will. Ihr sei es mittlerweile nicht mehr gestattet, Knaben zu unterrichten. Personal­mangel oder organisatorische Probleme seien den Taliban egal. Hauptsache, sie setzten ihre Ideologie und ihr Weltbild durch.

Die Frauenfeindlichkeit der neuen Macht­haber zeigt sich auf praktisch allen Ebenen. Innerhalb des Taliban-Regimes lässt sich auch keine einzige Frau finden. Das Frauen­ministerium wurde kurz nach der Rückkehr der Taliban abgeschafft und durch das berüchtigte Sitten­ministerium ersetzt. Frauen werden bei Bildung und Arbeit massiv eingeschränkt. Die neue Ordnung der Taliban gefährdet in verschiedener Hinsicht vor allem auch Witwen oder allein­stehende Frauen, die Haupt­ernährerinnen ihrer Familien sind.

Wie man mit solchen Macht­habern umgehen soll, weiss niemand. Schliesslich haben die letzten zwanzig Jahre verdeutlicht, dass man die Taliban mit Krieg und Bomben nicht aus der Welt schaffen kann. Dass heute in Kabul auch prominente Taliban-Köpfe regieren, die in den letzten zwei Jahrzehnten für tot erklärt wurden, ist kein Zufall. Die vermeintlich saubere Kriegs­führung der westlichen Staaten traf meist Zivilisten und hat dazu geführt, dass sich ganze Land­striche den Taliban anschlossen, um Rache auszuüben.

Hinzu kommt, dass sowohl die internationale Staaten­gemeinschaft als auch viele Afghaninnen kriegsmüde sind. Viele Menschen scheinen regelrecht darauf zu hoffen, dass die Taliban irgendwann zur Besinnung kommen. Doch diese Hoffnung dürfte vergeblich sein. Eine Zusammen­arbeit mit den neuen Herrschern in Kabul gestaltet sich von Tag zu Tag schwieriger, da diese keinen Hehl aus ihren diktatorischen Vorstellungen machen. Ihnen ist egal, was ihre eigenen Bürgerinnen oder die internationale Staaten­gemeinschaft über sie denkt.

Selbst die mittlerweile zahlreichen kritischen Meinungen islamischer Geistlicher aus aller Welt, vor allem in Sachen Mädchen­bildung und Frauen­rechte, werden von den Islamisten ignoriert. Dieser Umstand hat bereits zu einem Bruch zwischen den Taliban und anderen islamistischen Akteuren innerhalb und ausserhalb des Landes geführt.

Auch die Tatsache, dass aufgrund der Wirtschafts­sanktionen der USA und anderer Staaten Millionen von Afghanen hungern, stösst bei den Taliban auf Desinteresse – obwohl der Staat, den sie führen, ohne ausländische Gelder nicht überlebens­fähig ist. Kurz nach dem Abzug der US-Truppen fror Washington afghanische Devisen­reserven in der Höhe von 9 Milliarden US-Dollar ein. Die Biden-Administration sorgte Anfang Jahr für viel Aufmerksamkeit und Kritik, als bekannt wurde, dass die Hälfte der Reserven an die Hinter­bliebenen der Opfer der Anschläge des 11. Septembers verteilt werden soll.

Unter den Hungernden auf den Strassen Kabuls befinden sich auch Taliban-Kämpfer. «Warum helft ihr uns nicht?», fragte einer, als er an einem Check­point in Kabul unseren Wagen kontrollierte. Er liess uns gehen, nachdem er sich über fehlende Mahlzeiten beklagt hatte. In all den Monaten habe er keinen Lohn erhalten.

Anderswo gehen die Menschen weniger zimperlich mit solchen Forderungen um. Als Taliban-Kämpfer ein Dorf in Baglan aufsuchten, in dem sie einst unterstützt wurden, und nach Essen fragten, wurden sie von einem alten Mann verjagt. «Wir haben euch zwanzig Jahre lang ernährt», sagte dieser. «Nun seid ihr an der Reihe und müsst uns ernähren!»

Zum Autor

Emran Feroz ist austro-afghanischer Journalist. Er berichtet regelmässig aus und über Afghanistan, meist für deutsch- und englisch­sprachige Medien wie «Foreign Policy», Deutschland­funk Kultur oder die WOZ. 2021 erschien sein Buch über den Afghanistan­krieg, «Der längste Krieg. 20 Jahre War on Terror».