Hey Dude
Beim «Moon and Stars»-Festival auf der Piazza Grande geben dieses Jahr samt und sonders Männer den Ton an. Und auch andere Open Airs tun sich schwer damit, Musikerinnen eine Bühne zu bieten.
Von Sharon Funke, 20.06.2022
Es geht wieder los.
Ferien. Einige fahren ins Ausland. Verwandtschaft besuchen, Freunde wiedersehen oder einfach einen günstigen Cocktail irgendwo am Mittelmeer schlürfen.
Für andere liegt das Abenteuer näher an der Haustür, es ist aber genauso aufregend. Camping, Drogen (Finger weg!), Rock ’n’ Roll: Nach zwei Sommern kultureller Wüste sind die Festivals zurück!
Wir verstehen die Aufregung. Zweieinhalb Jahre sind eine lange Zeit. Einige bekamen Nachwuchs, andere wurden befördert. Und manche haben anscheinend vergessen, dass es Frauen gibt, die Musik machen. Zum Beispiel die Organisatorinnen des Festivals «Moon and Stars» in Locarno:
1/5 Neue Weltmeister in der Freekshow Diskriminierung: #moonandstars @migros bringen 2022 ein 100% Männer Lineup.
Facts:
1.Ja, es gibt Künstlerinnen, die kommerziell erfolgreich sind, siehe Welt @glastonbury @gurtenfestival @Spotify #charts @coachella @MontreuxJazz pbs.twimg.com/media/FUKoaGCWAAIWY3T.jpg
Im Juli 2022 werden also nur Männer auf der Piazza Grande spielen. (Okay, wahrscheinlich dürfen ein paar Frauen als Background-Chörli mitsingen.) Warum sollte man auch eine Sängerin engagieren, wenn man James Blunt haben kann?
Neu ist die Diskussion um die Unterrepräsentation von Frauen an grossen Festivals nicht, aber sie gewinnt wieder an Auftrieb. Schon letztes Jahr machte zum Beispiel Judith Holofernes darauf aufmerksam, dass sie und ihre Band Wir sind Helden bei «Rock am Ring» 2005 als einzige Gruppe mit weiblicher Beteiligung nur deshalb unter die Headliner gerutscht waren, weil Limp Bizkit abgesagt hatte.
Das ist 17 Jahre her, doch geändert hat sich seither wenig.
Blicken wir genauer hin: Wir schauten uns die Line-ups der grossen Schweizer Festivals in den vergangenen 10 Jahren an. Welche Rolle spielen Frauen im Festivalsommer 2022? Dafür haben wir uns – neben dem «Moon and Stars» – vier weitere Festivals in unterschiedlichen Ecken der Schweiz angeschaut: das Open Air Gampel, das Open Air St. Gallen, das Gurtenfestival sowie das Open Air Frauenfeld.
Die Line-ups haben wir den jeweiligen Festival-Websites, also genauer gesagt den Festivalplakaten, entnommen. Auf den Plakaten ist jeweils eine gewisse Gewichtung der Bands und Interpretinnen zu erkennen: «Headliner», also Künstler, die im Hauptabendprogramm auftreten, werden grafisch grösser dargestellt. Da diese Zahl pro Festival und Jahr variiert, haben wir zwecks besserer Vergleichbarkeit jeweils die ersten 20 Bands und Interpreten (entsprechend der Gewichtung auf den Plakaten) für die Berechnung des Frauenanteils verwendet. Einzige Ausnahme: Das «Moon and Stars»-Festival hatte in den meisten Jahren insgesamt weniger als 20 Hauptacts (Bands und Künstlerinnen), deshalb haben wir bei diesem Festival das gesamte Line-up betrachtet. Bei der Zählung spielt die Anzahl Bandmitglieder keine Rolle, sondern lediglich, ob die Band ausschliesslich aus Frauen, Männern oder beiden Geschlechtern besteht – oder Mitglieder hat, die sich keinem binären Geschlecht zuordnen. Solokünstler haben wir ebenfalls mit ihrem jeweiligen Geschlecht gezählt, unabhängig davon, wie sich deren Liveband jeweils zusammensetzt.
Eine Dekade voller unterschiedlicher Frauenanteile
Beginnen wir im westlichen Zipfel der Schweiz und damit beim Open Air Gampel. Auf einem Feld unweit der Rhone, umrahmt von den Walliser Bergen, findet es jeweils im August statt. Als einziges Festival in unserer Auswahl wurde es mit entsprechenden Auflagen und vor allem einer deutlichen Beschränkung der Besucherinnen auch im Jahr 2021 durchgeführt. Vor Ausbruch der Pandemie erreichte das Open Air Gampel Besucherzahlen von mehr als 110’000.
Die Frauenbilanz des Open Airs Gampel der letzten 11 Jahre: Wenn überhaupt, schaffte es höchstens ein weiblicher Act unter die obersten 20. Einzige Ausnahme: 2021 waren mit Steff la Cheffe und Joya Marleen zwei Musikerinnen vertreten. Deutet sich hier bereits eine Trendwende an?
Darauf kommen wir zurück, wenn wir uns die Programmgestaltung im aktuellen Jahr ansehen.
Gemischte Bands wurden hingegen eher engagiert. In 3 Jahren machte ihr Anteil ein Viertel der Top-20-Interpretinnen aus, sonst lag er darunter. 2014 hätte es das Open Air Gampel sogar beinahe geschafft, nur Männer für die «ersten 20», also die tragenden Bands, auszuwählen.
Ziehen wir weiter Richtung Norden, zum Gurtenfestival. Seit 1990 rocken die Berner Jahr für Jahr auf ihrem Hausberg. Mit knapp 80’000 Zuschauerinnen ist das Festival zwar weniger gross als das Open Air Gampel. Beim Frauenanteil sieht das Gurten-Programm der letzten 10 Jahre jedoch um einiges besser aus.
2013 und 2018 schafften es jeweils vier Musikerinnen unter die Top 20 auf den Festivalplakaten – unter anderem Mø, Zaz und Emeli Sandé. Auch der Anteil gemischter Bands unter den obersten 20 Acts ist öfter vergleichsweise hoch. Allerdings schwanken die Anteile stark: von gerade mal einer gemischten Band im Jahr 2014 bis hin zu 45 Prozent der Bands und Musikerinnen, bei denen mindestens eine Frau auf der Bühne stand in den Jahren 2015 und 2013.
Unsere dritte Festivalstation liegt im Osten. Widmen wir uns einem der ältesten und beliebtesten Festivals der Schweiz: dem Open Air St. Gallen, auch bekannt unter dem verlockenden Namen Schlammgallen. Das Festival ist regelmässig bereits früh im Jahr ausverkauft, 110’000 Besucher finden Platz.
Eher mittelmässig ist dagegen der Frauenanteil unter den 20 Bands und Interpretinnen, die zuoberst auf den Werbeplakaten auftauchen: Zwischen 2010 und 2014 war jeweils ein weiblicher Act vertreten, 2013 mit Sophie Hunger, Haim und Icona Pop sogar drei. Zwischen 2016 und 2018 schafften es zwei Musikerinnen auf die vordersten Plätze in den Line-ups.
2019 kam der weibliche Anteil allerdings ausschliesslich durch gemischte Bands zustande. Das Gesamtbild ist damit zwar besser als beim Open Air Gampel, aber schlechter als beim Gurtenfestival. Am Schlamm wird es kaum liegen. Woran dann?
Christof Huber, der Programmchef des Open Airs, sieht ein Problem darin, dass es nach wie vor weniger Acts mit weiblicher Beteiligung – gerade im Rockbereich – gebe. Die Diversität der Gesellschaft und des Publikums auch auf den Bühnen abzubilden, sei den Festivalmachern ein grosses Anliegen. Die Genderbalance habe dabei einen besonders hohen Stellenwert, da am Open Air St. Gallen das weibliche Publikum leicht in der Überzahl sei. Noch scheinen sich die Bemühungen der Festivalveranstalter nicht massgeblich in den Zahlen niederzuschlagen.
Kommen wir zum Open Air Frauenfeld. In den letzten Jahren stets ausverkauft, ist es mit 185’000 Besucherinnen nicht nur das grösste Festival der Deutschschweiz, sondern auch das grösste Hip-Hop-Festival Europas.
Bezüglich Frauenanteil gilt der Hip-Hop-Bereich als noch kniffliger als das Rockgenre, auf dem die anderen Festivals ihren Fokus haben.
Der Anteil von All-female-Acts beim Open Air Frauenfeld kam in den letzten 10 Jahren nie über 10 Prozent. Das heisst: Es gab nie mehr als zwei Künstlerinnen unter den 20 ersten Bands. Auch gemischte Acts konnten diesen Anteil nicht erhöhen. In den Jahren 2016 und 2017 findet sich unter den obersten 20 Interpreten im Line-up keine einzige Frau.
Das Open Air Frauenfeld ist sich des Problems durchaus bewusst. Seit Jahren versuche man, so erfahren wir auf Nachfrage, den Frauenanteil zu erhöhen. Das Festival sieht das Problem bereits bei der Auswahl an buchbaren Acts, die die international tätigen Künstleragenturen anbieten. Eine durch den Festivalveranstalter vorgegebene Frauenquote ändere genau aus diesem Grund am Resultat nichts.
Das Open Air Frauenfeld sieht seine Aufgabe vor allem darin, Female Acts vorzuziehen und für Frauen eine passende Umgebung zu schaffen. Ein Schelm, wer nun denkt, dass es vielleicht deshalb wenig bis keine Frauen gibt, weil schlicht die Umgebung nicht «passt».
Aus der Reihe fällt bei diesem Vergleich schliesslich das von Sophie Hunger kritisierte «Moon and Stars»-Festival. Es gehört nicht zu den «klassischen» Festivals, die an einem verlängerten Wochenende stattfinden und sich eher an jüngere Menschen richten. Das Programm findet während zweier Juliwochen in Locarno statt. Einen Festival-Zeltplatz und Schlamm gibt es nicht. Da das «Moon and Stars» aber wegen seiner Männershow für Gesprächsstoff sorgte, sehen wir uns das Programm der letzten Jahre genauer an. Und auch wegen James Blunt, der in diesem Jahr bereits zum insgesamt fünften Mal auf der Piazza Grande stehen wird.
Tatsächlich ist die diesjährige Programmgestaltung umso überraschender, wenn man sie mit dem Frauenanteil in den vergangenen 10 Jahren vergleicht. In der bislang letzten Ausgabe des Festivals 2019 betrug der Anteil rein weiblicher Acts 26 Prozent. Rechnet man die gemischten Bands dazu, kommt man auf einen Anteil von etwa einem Drittel am gesamten Line-up. Das ist zwar noch weit weg von einer gleichberechtigten Programmgestaltung, aber mit Blick auf die anderen vier Festivals ziemlich ausgewogen.
Mit Ausnahme der Jahre 2012 und 2013 standen beim «Moon and Stars»-Festival jedes Jahr mindestens zwei Frauen auf der Bühne – oft mehr. Der Anteil von Künstlerinnen und gemischten Bands schwankte, wieder 2012 und 2013 ausgenommen, zwischen knapp 17 und 33 Prozent.
Bei keinem der fünf Festivals konnten wir im vergangenen Jahrzehnt eine Trendwende ausmachen. An den Zahlen lässt sich keine Tendenz erkennen, die darauf hindeuten würde, dass die Programmgestalterinnen eine konsequente Strategie für eine ausgeglichene Geschlechterrepräsentanz umsetzen. In den allermeisten Fällen übersteigt der Anteil von Bands mit mindestens einer Frau unter den Top 20 des jeweiligen Line-ups nicht die Ein-Drittel-Marke. Oft schwankt der Frauenanteil zwischen den Jahren.
Wird diesen Sommer vielleicht alles besser? Gibt es sichtbare Bestrebungen, Festival-Line-ups diverser zu gestalten?
Der Festivalsommer 2022 lässt hoffen
Die deprimierende Gewissheit vom ausschliesslich männlichen Line-up des «Moon and Stars»-Festival haben wir bereits. Die Reaktion der Veranstalter auf Instagram fiel, gelinde gesagt, ernüchternd aus: «Die gesamte Event- und Musikbranche wurde aufgrund von Corona mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert, welche sich auch auf unser diesjähriges Programm ausgewirkt haben.»
Tatsächlich ist aber nicht alles düster. Das Gurtenfestival listet unter den Top-20-Acts in diesem Jahr erfreulicherweise zur Hälfte Acts, die Frauen in ihren Reihen haben (und sogar 40 Prozent ausschliesslich weibliche Bands und Solokünstlerinnen). Das ist sicherlich auch das Resultat eines bewussten Umgangs mit dem Thema Geschlechtergerechtigkeit. Lena Fischer, Mediensprecherin und Bookerin für die Waldbühne des Gurtenfestivals, schreibt, dass den Macherinnen ein sorgfältig kuratiertes, abwechslungsreiches und gendergerechtes Programm wichtig sei. Eine fixe Quote gäbe es nicht, man halte sich an einen Richtwert, der laufend im Prozess der Kuratierung überprüft würde.
Auch das Open Air St. Gallen und das Open Air Frauenfeld haben in diesem Jahr ihren bisher höchsten Anteil an ausschliesslich weiblichen Bands und Interpretinnen im Line-up. Beim Open Air Gampel ist die Verteilung von Frauen und Männern gleich wie im letzten Jahr, immerhin.
Die betrachteten Daten sind selbstverständlich nur Auszüge und auf ein paar der grössten Festivals in der Schweiz beschränkt. Sehr viel umfassendere Untersuchungen betreibt zum Beispiel das feministische Netzwerk «female:pressure». Es sammelt seit 2012 jährlich Daten zur Geschlechterverteilung von Festival-Line-ups in insgesamt 48 Ländern. Die Resultate wurden letztmals im Frühling im sogenannten «Facts Survey» veröffentlicht. Darin kommt das Netzwerk zum Schluss, dass der Frauenanteil (sowie der Anteil non-binärer Personen) bei Künstlerinnen auf Festivals über die letzte Dekade zwar langsam, aber stetig gewachsen ist.
Auch andere Initiativen versuchen, die Geschlechterrepräsentanz immer wieder in den Fokus zu rücken. Veranstaltungen, an denen ausschliesslich weibliche Musikerinnen und Bands mit Frontfrauen spielen, wie das seit 2010 in Brig stattfindende Frauenstimmen-Festival oder das DCKS-Festival, das von der Comedian Carolin Kebekus organisiert wird.
Die Bewegung Keychange setzt sich zudem für eine gendergerechte Musikindustrie ein – unter anderem mit dem Ziel, bei Festival-Line-ups zukünftig eine 50:50-Geschlechterverteilung zu erreichen. Festivals, die sich der Initiative anschliessen, verpflichten sich zu dieser Zielsetzung. In der Schweiz beteiligen sich daran zum Beispiel das «Fête de la Musique Lausanne» und das Lauter-Festival in Zürich.
Das Open Air St. Gallen setzt laut Programmchef Christof Huber auch ein besonderes Augenmerk auf die Nachwuchsförderung, um die Situation in Zukunft auch auf den grossen Bühnen zu verbessern. Auf den Nebenbühnen betrage der Anteil weiblicher Acts mindestens 50 Prozent.
Es besteht also Hoffnung. Dachten wir.
Bis zu dem Moment, als wir die Antwort des Open Airs Gampel auf unsere Fragen erhalten:
In den letzten Tagen haben wir den Medien zahlreiche Fragen zu dem Thema beantwortet und wollen damit abschliessen. Wir sind zudem der Meinung, dass das Thema überbewertet wird.
Wir sehen das anders, und vielleicht können Sie den Festivalmachern ja helfen: Sagen Sie uns gerne im Dialog, welche Frauen Sie unbedingt live hören möchten.